18.06.2009 - von Schweitzer
Im Rahmen der Reform des Arzneimittelgesetzes hat die große Koalition im Gesundheitsausschuss beschlossen: Um Kranken- oder AltenflegerIn zu werden, braucht ist künftig keine Mittlere Reife mehr nötig, der Hauptschulabschluss reicht. Diese Entscheidung ist nicht nur erstaunlich, wenn man an das lateinische Vokabular denkt, dass gepaukt werden muß, sondern auch, weil in anderen Staaten dafür längst ein Hochschulstudium erforderlich ist!
Im Mai 09 äußerte sich Gesundheitsministerin Schmidt in einem Tagesspiegel-Interview zur anstehenden Beschlussfassung. Tagesspiegel Mitarbeiter Rainer Woratschka sagte zu Schmidt: "Brauchen dtsche. Kliniken und Patienten weniger qualifizierte Pflegekräfte als andere EU-Länder? D. hat schon jetzt im Vergleich die niedrigsten Zugangsvoraussetzungen und auch die Pflegeausbildung erfolgt in vielen anderen Ländern bereits an Hochschulen."
Die Bundesgesundheitsministerin antwortete: "Ich bitte doch herzlich darum, hier keinen Dünkel zu pflegen. Dtsche. Pflegekräfte haben keine Schwierigkeiten in anderen Ländern eine Arbeit zu finden. Die Ausbildung in D. kann also nicht schlecht sein. Unsere Ausbildung ist ein Qualitätsmerkmal. Sie hat ein hohes Niveau."
Schmidt spricht von Niveau und von "Dünkel". Das Wort Dünkel benennt `eine übertriebene Selbsteinschätzung aufgrund einer vermeintlichen Überlegenheit´. Doch wer hat sich dünkelhaft verhalten? wen meint Schmidt? Meint Schmidt, dass die Staaten an einer übertriebenen Selbsteinschätzung litten, in denen der Hochschulbesuch vorausgesetzt wird, um einen pflegenden Beruf auszuüben zu können? Verdächtigt Schmidt die hochschulgebildete PflegerInnen der "vermeintlichen Überlegenheit?" Rügt sie den Journalisten, ist er es, den sie einer übertriebenen Selbsteinschätzung beschuldigt? Das macht wenig Sinn. Nur dieses: Ulla Schmidt meint sich selbst. Sie spricht über IHRE übertriebene Selbsteinschätzung, und sie spricht über die vermeintliche Überlegenheit der DEUTSCHEN Pflegeausbildung.
Eigentlich will sie aber sagen: Wer die Senkung von Ausbildungsstandards kritisiert, hält sich für etwas Besseres.
"Ich bitte doch herzlich darum, hier keinen Dünkel zu pflegen," sagte Schmidt. Jesses, auch noch den Dünkel pflegen! Das hat sie bestimmt von Guttenberg.
Hier nun einige Anmerkungen zum Beschluß der CDU/SPD Koalitionsregierung von der Bundesgrünen Sprecherin für Pflegepolitik, Elisabeth Scharfenberg vom 22.6.09.
Rote Laterne für deutsche Pflege
Große Koalition erweist der Pflegeausbildung einen Bärendienst
Am 18. Juni hat die große Koalition die Arzneimittelgesetz-Novelle verabschiedet. Darin hat sie auch die Zugangsvoraussetzungen zur Kranken- + Altenpflegeausbildung abgesenkt.Ein Hauptschulabschluss reicht künftig aus, um eine Pflegeausbildung zu absolvieren. War dies zunächst "nur" für die Krankenpflegeausbildung geplant, hat die Koalition in letzter Sekunde auch das Altenpflegegesetz in gleicher Weise geändert.
Die Änderung ist zunächst bis Ende 2017 befristet. 2015 soll dann ein Erfahrungsberichts vorliegen, auf dessen Grundlage entschieden wird, ob die Regelung dauerhaft gilt. Eine wissenschaftliche Begleitung der neuen Regelung hat die Bundesregierung nicht vorgesehen. Eine fundierte Bewertung kann mithin nicht vorgenommen werden. Fraglich erscheint auch, wie diese neue Regelung mit einer ohnehin ab 2011 geplanten, grundlegenden Reform der Pflegeberufe zusammenpasst.
Unergründlich bleibt, warum CDU/CSU und SPD trotz der massiven Kritik aus der Pflegefachwelt, von Ausbildungsstätten und der Praxis an ihrem Vorhaben festgehalten haben. Im Gesetz begründen sie die Änderung mit den zu erwartenden Folgen der demografischen Entwicklung und dem Personalmangel im Pflegesektor. Zweifellos ist das ein Problem, dem wir uns stellen müssen. Was aber sozial klingt, ist mehr ein Zeichen für blinden Aktionismus als das Ergebnis sachlicher Überlegungen. Man stelle sich so eine Vorgehensweise einmal als Maßnahme gegen den Ärzte- oder Lehrermangel vor.
In Sonntagsreden fordern Union wie SPD bessere Arbeits- und Ausbildungsbedingungen für Pflegekräfte. Sie wollen das Berufsbild attraktiver machen, wollen mehr Handlungs- und Entscheidungskompetenzen für Pflegekräfte, um die Qualität der pflegerischen Versorgung zu sichern. Dieser Ansatz ist richtig, belegen doch heute schon internationale Studien den engen Zusammenhang zwischen hoher Qualifikation der Pflegekräfte und hoher pflegerischer Versorgungsqualität. Aber nun sendet die Koalition die Botschaft, der Pflegeberuf bedürfe keiner höheren Qualifikation, sondern einer geringeren.
Wie bitte passt das zusammen? Liegt nicht der Verdacht nahe, dass die Koalition die Pflegekräfte einerseits zum "billigen Jakob" degradieren will und andererseits mit der Pflege versucht arbeitsmarktpolitische Probleme zu lösen? Seit Jahren werden zahlreiche Modellprojekte im Bereich der Pflegeausbildung erprobt. Man fragt sich, wozu das Ganze veranstaltet wird, wenn die Koalition an den Ergebnissen solcher Projekte ohnehin nicht interessiert ist.
Union und SPD halten nun den Kritikern – also auch uns Grünen – vor, wir würden auf Personen mit Hauptschulabschluss herabblicken und ihnen nichts zutrauen. Dieser Vorwurf ist populistisch und falsch. Wer grüne Bildungspolitik kennt, weiß, dass wir für ein Bildungssystem streiten, das allen Menschen Chancen gibt. Natürlich wollen wir, dass auch Hauptschülerinnen und -schüler den Pflegeberuf erlernen können. Denn wir brauchen motivierte Menschen, die diese verantwortungsvolle Tätigkeit ausüben wollen.
Das jedoch funktioniert nur, wenn man diesen Personen echte (!) Chancen der beruflichen Entwicklung bietet. Schon heute scheitern viele BewerberInnen an den hohen (und steigenden) Anforderungen der Ausbildung. Dies zeigt die große Zahl von "Abbrechern". Die neue Zugangregelung erhöht die Gefahr, dass diese Abbrecherquote wächst. Dann dürften die neuen Zugangsregeln für Hauptschüler zum Bumerang werden. Eine gescheiterte Ausbildung kann die Motivation und das Selbstbewusstsein von SchülerInnen - auch langfristig - erheblich beschädigen. Will man das vermeiden und geht den Weg der Koalition, dann muss man die Ausbildungsanforderungen in den Pflegeberufen grundsätzlich senken. Das kann nicht ernsthaft gewollt sein, scheint aber der Absicht der Koalition zu entsprechen. Damit dürfte die Attraktivität des Berufes schwinden und es noch schwerer werden neue Auszubildende zu gewinnen. Die Begründung der Koalition dürfte damit ad absurdum geführt werden: Das ist keine Antwort auf die demografische Entwicklung.
Wir Grüne wollen hin zu einem durchlässigen und abgestuften Ausbildungssystem, wie es Pflegeberufsverbände und Fachleute schon lange fordern. Darin soll jedeR die Chance bekommen, ihre/seine Qualifikation schrittweise zu erweitern – eben auch Hauptschülerinnen und –schüler! In vielen Bundesländern können sie schon heute eine ein- oder zweijährige PflegehelferInnen- bzw. PflegeassistentInnen-Ausbildung absolvieren. Darüber hinaus werden derzeit neue Modellprojekte (Robert-Bosch-Krankenhauses, Stuttgart) ausgewertet, die ebenfalls zweijährig sind und ebenfalls auf die Zielgruppe von HautschülerInnen ausgerichtet sind. Hätten wir hierzulande eine durchlässige Pflegeausbildung könnte diese Art der Qualifikation ein guter Einstieg sein. Folgen müssten ihr unbürokratische Weiterbildungsmöglichkeiten mit ansprechenden Aufstiegschancen. Doch für diese grundlegende, längst überfällige Reform fehlt der großen Koalition der Mut! Oder der Wille?
Nicht zuletzt verschlechtert Schwarz-Rot die Wettbewerbschancen deutscher Pflegekräfte in Europa. In den meisten Mitgliedsstaaten ist die Pflegeausbildung an Hochschulen angesiedelt. Mit der Absenkung der Zugangsvoraussetzungen hat sich Deutschland nun seine Position als EU-Schlusslicht gesichert. Ein fragwürdiger Ruhm, der im Widerspruch zur Bologna-Deklaration steht, die eine Angleichung der Bildungsabschlüsse innerhalb der EU vorsieht.
All dies weiß die große Koalition nur zu gut. Trotzdem hat sie ihren Beschluss gegen die Stimmen der Opposition durchgesetzt. Man muss künftig also eine gesunde Skepsis walten lassen, wenn CDU/CSU und SPD wieder einmal ihren Einsatz und Kampf für die Pflege bekunden.
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