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Corona-Urteil des Verfassungsgerichts: Tiefpunkt der Rechtsfindung/Empörung

Foto: H.S.

06.12.2021 - von Michael Maier + Herbert Prantl

Der Jurist Heribert Prantl kritisiert das Karlsruher Urteil zu Corona in einem Gespräch mit der Berliner Zeitung. In der Politik wurde der Beschluss begrüßt, weil er Regierungen im Pandemie-Fall freie Hand lässt. Verfassungsjuristen sehen dagegen Probleme.

Herr Prantl, wie bewerten Sie die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichts zur Bundesnotbremse?

Sie sind dürftig in ihrer Begründung. Sie sind oberflächlich in der juristischen Argumentation. Sie sind gefährlich in der Reduzierung des Rechtsschutzes. Und sie sind feige in ihrer Grundhaltung.


Viele Juristen waren sehr erstaunt über das Urteil. Wie war Ihre Reaktion?

Erst war ich nur enttäuscht über das Ergebnis. Dann habe ich gelesen und noch mal gelesen. Und ich war, in dieser Reihenfolge: ungläubig, empört und zornig. Es ist ein peinliches Urteil. Wenn man das Bundesverfassungsgericht so schätzt, wie ich es tue, weil es sich große und größte Verdienste erworben hat – dann hat man ein Fremdscham-Gefühl. Ich habe mich gefragt, wo die intellektuelle Kraft dieses Gerichts geblieben ist. Vom Geist der großen Richter in der Geschichte des Verfassungsgerichts – Helmut Simon, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Dieter Grimm, Winfried Hassemer – ist nichts zu spüren: keine Checks, keine Balances. ...

Die Karlsruher Beschlüsse geben der Politik fast alle Freiheiten bei der Corona-Bekämpfung. Gewiss: Das Grundrecht auf Leben und Gesundheit ist ein großes, wichtiges, wertvolles Grundrecht. Aber es müssen nicht automatisch alle anderen Grundrechte beiseitespringen, wenn der Staat auch nur behauptet, dass die Maßnahmen, die er verordnet, dem Lebensschutz dienen. Das muss geprüft werden.
..."

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"Tiefpunkt der Rechtsfindung
Mit dem Beschluss zur „Bundesnotbremse“ haben die Richter der Politik freie Hand gelassen und ihre Kontrollfunktion verfehlt ...
Die „Bundesnotbremse“ zum Schutz der Bevölkerung bei einer„epidemischen Lage von nationaler Tragweite“ („Bundesnotbremse“) mit ihren Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen sowie Schulschließungen ist verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das haben die Erfinder dieses Instruments mit Kanzlerin Angela Merkel (CDU) an der Spitze
verständlicherweise begrüßt und sich dankbar gezeigt, aus Karlsruhe Rechtssicherheit und eine Orientierung für den weiteren Umgang mit der Pandemie erhalten zu haben. Doch es mehren sich die kritischen Stimmen. Die Bedenken machen sich zum einen daran fest, wie die Entscheidung zustande gekommen ist. Zum anderen richten sie sich gegen die Grundsätze, mit denen das Gericht die Bundesnotbremse durchgewinkt hat. ..."
Michael Bertrams im Kölner Stadt-Anzeiger am 4./5.12.2021,Printausgabe

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Bundesverfassungsgericht zur Bundesnotbremse - Urteil und Kommentar unter: Link

Quelle: Berliner Zeitung, Printausgabe 6.6.2021