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Mangelhaft und fahrlässig: FAZ und ARTE über Pflegeheim-Politik

Foto: H.S.

25.01.2021 - von Hanne Schweitzer, T.P.

Einen "Abgrund der Pandemie" nennt Jasper von Altenbockum in der Printausgabe der FAZ die "gesellschaftliche Krise" der Corona-Pandemie durch welche die große
"Entfremdung der Generationen" sichtbar geworden sei. Die Pandemie habe das "Leben komplett neu vermessen", "zu Lasten derer, die das Ende vor Augen haben." Zu denen gehört Altenbockum noch nicht. Er gilt als sogenannter `Junger Alter`: 1962 geboren und berufstätig als Ressortleiter Innenpolitik bei der FAZ.

Was veranlasst Altenbockum in der FAZ zu schreiben: "Es ist sehr einsam um sie (die Alten) geworden – nicht nur wegen Berührungsängsten und Kontaktverboten, sondern weil sie in der Corona-Politik auf eine Weise vernachlässigt wurden, die gruseln lässt"?

Denkt er an seine Eltern oder die seiner Frau wenn er schreibt: "Selbst ein Jahr nach Beginn der Notfallpolitik" (!) "gibt es noch immer keine flächendeckende Absicherung der Alten- und Pflegeheime, von den Möglichkeiten der zu Hause gepflegten Alten ganz abgesehen."

Damit suggeriert er, die Lebensbedingungen von Menschen in den Pflegeheimen und der Häuslichen Pflege hätten VOR Beginn der "Notfallpolitik" im Mittelpunkt des Interesses der Politik gestanden, und lediglich "im ersten Schreck der Pandemie", also eigentlich verzeihbar, wären "viele Pflegeheime isoliert" worden."

Weiß Altenbockum nicht, dass "die Transformation der Wohnformen im Alter als Normalisierung der Form des sozialen Daseins mit den Dimensionen von Selbstbestimmung, Selbständigkeit und Teilhabe nicht gelungen ist“, wie es - sehr zurückhaltend - Professor Schulz-Nieswandt in seinem KDA-Beitrag über die "Gefahren und Abwege der Sozialpolitik im Zeichen von Corona" im Mai 2020 formuliert hat? Link

Warum behauptet Altenbockum, es wäre "schnell klar gewesen", dass "eine menschliche Bekämpfung der Seuche nicht so aussehen" könne, wie sie durchgeführt wurde? Das war weder "schnell klar", noch ist die Corona-Politik seitdem "der Linie" gefolgt, dass "eine Isolation vulnerabler Gruppen inhuman sei."

Warum schreibt er, dass nicht viel Phantasie dazu gehöre, "sich auszumalen, dass die Überlebenden längst geimpft" sein könnten, bis der `besondere Schutz` für die Heime steht"? Altenbockum weiß es besser. Würde er sonst seine Leser davon in Kenntnis setzen, dass "der politische Aufwand, der betrieben wurde, um Heime und Haushalte zu unterstützen, mangelhaft bis fahrlässig geblieben" sei, dass die alten Menschen in den Pflegeheimen gestorben seien "in einem Maße, das diese Politik wie eine Ausflucht wirken lässt"?

So, als ob Altenpolitik hierzulande nicht immer Ausfluchtpolitik gewesen ist, klagt er krokodiltränenreich: "Was auf der Hand lag, wurde nicht getan. Wonach gerufen wurde, blieb aus. Was eilte, wurde vertrödelt. Man fragt sich immer wieder: Wie war, wie ist das nur möglich?"

Tja, wie war das nur möglich Herr Altenbockum?

Die steigende Zahl pflegebedürftiger Menschen hätte schon vor Jahrzehnten mehr Pflegekräfte erforderlich gemacht. Im Sommer 2020 hat die WHO den Anstieg von Gewalt gegen ältere Menschen angeprangert. Link Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte äußerte sich schon im Mai 2020 entsetzt über die erschreckende Vernachlässigung der älteren Mitbürger in den Heimen . Weiß er nicht, dass die miserablen, oft Menschenrechte verletzenden Zustände in den exorbitant teuren bundesdeutschen Pflegeheimen schon im vergangenen Jahrhundert allgemein bekannt und Gegenstand der Berichterstattung waren?

„Das Altenheim wird zum Sterbehaus!“ („Frankfurter Rundschau“, 9. Oktober 1991),
„Magensonde statt liebevolle Fürsorge“ („Münchner Merkur“, 9. Dezember 1995). „Allein in der Todesstunde“ („Erlanger Nachrichten“, 10. April 1989).

NICHT die Corona-Politik hat, wie Altenbockum behauptet, "ein Verhältnis von Alt und Jung" offenbart, das zur Tragödie geführt hat". Es ist und war auch nicht
"der Rest der Gesellschaft", dieser "junge Teil, der teilweise noch immer nicht einsieht, warum er auf eine Party und auf Halligalli verzichten soll", die verantwortlich sind für Besuchsverbote in den Heimen, für fehlende Masken und Schutzkleidung, Ausgansperren, Einschränkungen der Grundrechte, oder das Wegsperren alter, an Demenz erkrankter Menschen, die u.U. in max. 12 qm großen Zimmern 14 Tage und Nächte lang in Quarantäne verbringen müssen und nicht mal zum Essen raus dürfen.

Die miserable Situation der pflegebedürftigen Menschen ist schon vor Jahrzehnten durch Entscheidungen der Politik herbeigeführt worden. Mit der Einführung der „Gesetzlichen Pflegeversicherung“ in den 90iger Jahren wurde die Durchkapitalisierung der Gesundheitsversorgung durchgesetzt. Die Kosten der Pflege wurden aus der Vollkosten-Krankenversicherung in die Teilkosten-Pflegeversicherung und Eigenpflege der Angehörigen verlagert. Nur noch fünf Prozent der Pflegeheime waren 2017 im Besitz von kommunalen Trägern. Der Anteil der privaten, profitorientierten Träger von Pflegeheimen lag bei 43 Prozent und immerhin 13 Prozent wurden von Aktiengesellschaften betrieben. Eine würdevolle Pflege ist mit dem Primat der Gewinnmaximierung unvereinbar.

Doch das Pflegesystem soll noch mehr Profit abwerfen. Im November 2019 forderte Annegret Kramp-Karrenbauer die Überprüfung des deutschen Sozialsystems als „großen Punkt auf der Reformagenda“ ihrer Partei. Neben der Rentenversicherung nannte sie ausdrücklich auch die Pflegeversicherung. (Link. "
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In der ARTE-Dokumentation Link die Lebenswirklichkeit von Bewohner/innen eines französischen Altenheimes im März 2020 offen und schonungslos ehrlich dargestellt. Die Folgen der Besuchs- und Ausgangssperren, die Überlastung des Pflegepersonals und die Folgen des eklatanten Personalmangels für die Bewohner/innen auch in „ Normalzeiten“.
Jetzt während des aktuellen Lockdowns wiederholt sich die Lebenswirklichkeit. Der Film ist teilweise schwer zu ertragen, aber es ist wichtig, dass die Bevölkerung erkennt, welche Konsequenzen die Maßnahmen der Bundes- und Landesregierungen für Altenheimbewohnern/ innen haben.

Quelle: FAZ, 23.1.2021