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26.10.2020 - von Hanne Schweitzer
Manche Bücher vergisst man nicht. Irgendwann will man sie wieder zur Hand nehmen, weil man sich erinnert, an eine Beschreibung oder eine Gedankenfolge, die man gekennzeichnet hat während des Lesens, deutlich markiert mit einem doppelt gefalteten Eselsohr. Aber im Regal findet sich nichts. Verliehen und nicht zurückbekommen. Umso größer die Freude: „Der Verleger“ von Nanni Balestrini ist im narkotisierenden Covid19-Herbst 2020 im Verlag „Assoziation A“ wieder neu erschienen. Sorgfältig gestaltet von Andreas Homann und sogar mit einem roten Bändchen versehen. Wie eine Frischzellenkur für das Gedächtnis funktioniert das souveräne Vorwort von Theo Bruns.
Sofort auf`s Sofa. Eintauchen in die Zeit der Irrungen und Wirrungen, als Auseinandersetzungen über Ismen und Anti-Ismen, über Herrschaft und Widerstand wichtiger waren, als individuelle Befindlichkeiten: Die 70iger Jahre.
Hauptperson von Balestrinis 1989 in Italien erschienenen Romans „L’editore“, ist ein namenloser Verleger, der leicht als das bekannteste Enfant terrible Mailands zu erkennen ist: Giangiacomo Feltrinelli. Das Leben des einzigen Sohns einer der reichsten italienischen Familien entspricht so gar nicht den Erwartungshaltungen der Bourgeoisie. Er schließt sich der US-Armee an, um gegen Mussolini und die deutsche Besatzung zu kämpfen, er wird Mitglied der kommunistischen Partei Italiens (PCI). Mit 29 gründet er den Verlag Feltrinelli und ist mit den Werken von Guiseppe di Lampedusas „Der Leopard“ und Boris Pasternaks „Doktor Schiwago“ sofort erfolgreich. Er kauft die Weltrechte an Fidel Castros Büchern und übersetzt das „Bolivianische Tagebuch“ von Che Guevara höchstpersönlich ins Italienische. Seit 1956 ist er kein Mitglied mehr der PCI. Den einen gilt er fortan als Trotzkist, den anderen als Anarchist, militanter Linker, Staatsfeind. Am 14. März 1972 wird Giangiacomo Feltrinelli tot vor einem Hochspannungsmast gefunden.
„ein fünfundvierzig Jahre alter Mann ist tot zerrissen von einer Sprengladung die er in der Hand hielt während er versuchte einen großen Gittermast der zentralen Hochspannungsleitung von Mailand zu sprengen es ist davon auszugehen dass der Bombenleger von einer subversiven Organisation gedungen wurde nach Meinung der Ermittlungsbehörden ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen dass dieser Anschlag der erste einer langen Kette sein sollte einer neuen Welle von Gewalt und Terror über den Toten ist noch nichts bekannt“
Der Autor, Nanni Balestrini, montiert Presseberichte, Polizeimeldungen, Statements von Politikern, den Obduktionsbericht und Nachrichten aus aller Welt, die zwischen dem Auffinden des toten Verlegers und seiner Beerdigung erschienen sind. Diese Kollage aus veröffentlichter Meinung und offizieller Lesart des tragischen Geschehens kontrastiert er kongenial mit den Treffen „eine(r) kleine(n) widersprüchlichen Gesellschaft“, die sich 17 Jahre nach dem Tod des Verlegers trifft, um einen Film über ihn, den sie persönlich kannten, zu konzipieren.
„sie könnten ein Intellektuellenpärchen sein mitten aus der Bewegung und den politischen Geschichten jener Jahre sie könnten beispielsweise an der Universität arbeiten sie sind in den Dreißigern und sie leben in einer Zweierbeziehung in der es vielleicht schon Probleme wegen des Feminismus gibt der damals entstand.“ Ein Journalist oder Anwalt „zwischen dreißig und vierzig“ soll auch im Film vorkommen, „wegen des Problems der Presse“. Und um die These zu vertreten, "dass der Verleger ermordet worden ist dann haben wir den Kommunisten den Partisan er steht für die verratene Resistenza und ist einiges älter (…) dann gibt es noch den einen Jugendlichen Idealbild eines Schülers des Verlegers achtzehn bis zwanzig Jahre alt stark schön blond der mit allen streitet und der sich dann in den siebziger Jahren dem bewaffneten Kampf anschließen wird.“ Das Konzept und die Rollen der Darsteller, bzw. das, was sie transportieren sollen, ändern sich bei jedem Treffen der Gruppe.
Balestrini wusste, worüber er schrieb. 1979 ist er auf Skiern über die Alpen nach Frankreich geflohen, um seiner drohenden Verhaftung zu entgehen. Er gehörte zu den führenden linksradikalen italienischen Intellektuellen der Nachkriegszeit und arbeitete von 1961 bis 1972 neben seiner künstlerischen und politischen Arbeit auch für den Feltrinelli Verlag. 1961 publizierte er das computergenerierte Gedicht „Tape Mark I“. Mit seinem 10 Jahre später erschienenen Roman „Vogliamo tutto“ (dtsch. Wir wollen alles)“, hat er den 1969 bei Fiat in Turin rebellierenden Arbeitern ein literarisches Denkmal gesetzt.
Nanni Balestrini: Der Verleger
Aus dem Italienischen von Christel Fröhlich und Andreas Löhrer
ISBN 978-3-86241-480-2
Neuausgabe 09/2020
152 Seiten | Hardcover | lieferbar | 18,00 €
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Balestrini im ZKM: Link
Balestrini im Madre Napoli: Link
Nachruf auf Nanni Balestrini bei Assoziation A: Link
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