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Streiktage: Zwei Millionen im Jahr 2015

Meiningen, 2015 Foto: H.S.

03.03.2016 - von Rainer Jung

2015 war ein ungewöhnlich intensives Streikjahr. Das Arbeitskampfvolumen ist auf rund zwei Millionen Streiktage angestiegen. Die erhebliche Steigerung gegenüber 2014 (392.000 Tage) beruht im Wesentlichen auf zwei großen Auseinandersetzungen. Allein 1,5 der zwei Millionen Streiktage entfielen auf den Arbeitskampf im Sozial- und Erziehungsdienst sowie den Streik bei der Post. Dies zeigt die Jahresbilanz zur Arbeitskampfentwicklung, die das Wirtschafts- und Sozialwissenschaftliche Institut (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung heute vorlegt. Hinzu kam zu Beginn des letzten Jahres eine breite Warnstreikwelle in der Metall- und Elektroindustrie. Im internationalen Vergleich wird in Deutschland gleichwohl weiterhin relativ wenig gestreikt.

Die Zahl der Beschäftigten, die sich an Streiks beteiligten, lag 2015 ebenfalls deutlich höher als im Jahr zuvor: 1,1 Millionen Streikende 2015 gegenüber 345.000 in 2014. Hierfür waren die Warnstreiks in der Metall- und Elektroindustrie ausschlaggebend, bei denen nach Angaben der IG Metall rund 885.000 Beschäftigte die Arbeit niederlegten. „Während bei den Streiktagen das Jahr 2015 aus den genannten Gründen tatsächlich außergewöhnlich war, sind eine Million und mehr Streikbeteiligte keine Seltenheit“, erklärt WSI-Experte Dr. Heiner Dribbusch (siehe Grafik 1 in der pdf-Version: Link unten).

Die öffentliche Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf die vier Konflikte bei Deutscher Bahn, der Post, im Sozial- und Erziehungsdienst sowie die Streiks bei der Lufthansa. „Dies überrascht nicht, berührten doch alle diese Arbeitskämpfe unmittelbar die Öffentlichkeit“ so Dribbusch. „Damit enden allerdings auch schon ihre Gemeinsamkeiten. Dass diese Konflikte im Jahr 2015 zusammen trafen, war weitgehend zufällig, ihre Ursachen und Ziele sehr unterschiedlich.“

Im Bahn-Konflikt war es nach Analyse des Forschers ein Grundsatzstreit zwischen Management und Lokführer-Gewerkschaft um die Tarifzuständigkeit, der Dauer und Eskalation des Konflikts bestimmte. Das mit Hilfe einer Schlichtung erzielte Ergebnis schließe für die nächsten Jahre eine Neuauflage dieses Konfliktes im Konzern aus, so Dribbusch. Bei der Lufthansa dagegen wehrten sich Vereinigung Cockpit und Flugbegleiter-Gewerkschaft UFO gegen ein Sparprogramm der Firmenleitung und insbesondere Einschnitte bei der tariflichen Altersregelung. Eine Gesamtlösung stehe hier noch aus.

Den Konflikt mit der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di bei der Deutschen Post habe der Vorstand durch die Ausgliederung des Paketdienstes provoziert, die darauf zielte, Zustellerinnen und Zusteller zukünftig schlechter bezahlen zu können. „Das Vorgehen des Postkonzerns ist ein Beispiel dafür, wie Unternehmen einheitliche Tarifstrukturen aufbrechen und Tarifeinheit zerstören“, sagt Dribbusch.

Anders habe es sich in der Auseinandersetzung im Sozial- und Erziehungsdienst verhalten, wo die Gewerkschaftsseite einen Streik zur finanziellen Aufwertung der Tätigkeiten führte. Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di und die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) stützten sich nach Dribbuschs Analyse auf eine breite Zustimmung zu den Streikzielen und nicht zuletzt auf ein außergewöhnliches, sich im Streikverlauf steigerndes Engagement der Beschäftigten. Die spektakuläre Ablehnung der Schlichtungsempfehlung durch die Streikenden erzwang Nachverhandlungen, die schließlich ein Ergebnis brachten.

Konfliktfeld Haustarifvertrag
Jenseits der großen Branchentarifrunden registriert das WSI für 2015 zahlreiche Konflikte im Zusammenhang mit Haus- und Firmentarifverträgen. Wie in den Vorjahren entfiel die überwiegende Mehrheit der erfassten Streiks auf solche Auseinandersetzungen. „Der gewerkschaftliche Kampf zur Erhaltung der Tarifbindung ist dabei ein wiederkehrendes Thema“, sagt Dribbusch. Den zweifelhaften Rekord für die längste Auseinandersetzung halte dabei Deutschlands größter Versandhändler Amazon. Seit Frühjahr 2013 zieht sich diese wegen ihrer Signalwirkung bedeutende Auseinandersetzung hin, in der sich der Konzern bisher hartnäckig weigert, überhaupt mit ver.di in Tarifverhandlungen einzutreten.

Als weiteres Beispiel für eine auch öffentlich breit wahrgenommene Auseinandersetzung um einen Haustarif nennt der Forscher die Charité in Berlin. „Mehr von uns ist besser für Alle“ lautete das Motto, mit dem Beschäftigte an Deutschlands größtem Klinikum, begleitet von einer intensiven ffentlichkeitsarbeit, für eine bessere Personalbemessung streikten. Außerhalb des Dienstleistungsbereichs gab es besonders viele, häufig kleinere, Streiks in der von der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (NGG) organisierten Getränke- und Lebensmittelindustrie. Aber auch im Organisationsbereich der IG Metall begleiteten begrenzte Arbeitsniederlegungen eine beachtliche Zahl von Haustarifverhandlungen.

Verteilung auf Industrie und Dienstleistungsbranchen Blickt man auf die letzten zehn Jahren, so zeigt sich, so das WSI, dass in praktisch allen Jahren, in denen mehr als eine Million Streikbeteiligte verzeichnet werden, große Warnstreiks der Metall- und Elektroindustrie den Ausschlag geben. Da Flächenstreiks in der Industrie seit 2003 ausblieben, lässt sich in den vergangenen zehn Jahren der weit überwiegende Teil der Streiktage dem Dienstleistungsbereich zuordnen. Dies zeigte sich auch im letzten Jahr. 2015 entfielen zirka 81 Prozent aller Streikenden auf die Industrie (inklusive Bau). Umgekehrt sah es bei den arbeitskampfbedingten Ausfalltagen aus, konstatiert Dribbusch. 2015 fanden sich 90 Prozent der Streiktage im Dienstleistungsbereich.

Arbeitskampfvolumen im internationalen Vergleich gering Im internationalen Vergleich wird in Deutschland weiterhin relativ wenig gestreikt, zeigt das WSI auf Basis der aktuellsten verfügbaren Daten (siehe Grafik 2 in der pdf-Version). Nach Dribbuschs Schätzung fielen hierzulande zwischen 2005 und 2014 im Jahresdurchschnitt pro 1.000 Beschäftigte rechnerisch 15 Arbeitstage aus. In Frankreich kamen auf 1.000 Beschäftigte hingegen im Jahresmittel 132 Arbeitskampftage, in Dänemark 124, in Finnland 71, in Spanien 63 und in Irland 28. Ein deutlich niedrigeres Streikvolumen findet sich nach wie vor in Österreich, Polen und in der Schweiz. Auf Grund fehlender Daten ist ein internationaler Vergleich unter Einbeziehung des Jahres 2015 noch nicht möglich. Es zeichne sich aber ab, dass Deutschland mit dann durchschnittlich 20 Ausfalltagen im Zehnjahreszeitraum von 2006 bis 2015 keinen großen Sprung in der Tabelle machen wird, erklärt der Wissenschaftler.

Beim internationalen Vergleich ist laut Dribbusch zu beachten, dass die Arbeitskampfstatistiken auf unterschiedlichen Erfassungsmethoden basieren. Die Zahlen für Frankreich beziehen sich allein auf die Privatwirtschaft, in Spanien sind die großen Generalstreiks der vergangenen Jahre nicht enthalten und in den USA werden Streiks beispielsweise erst ab 1.000 Beteiligten einbezogen. In Dänemark und Kanada ist das Arbeitskampfvolumen zudem stark durch Aussperrungen beeinflusst. Große Lücken hat die amtliche Statistik in Deutschland, die von der Bundesagentur für Arbeit erstellt wird. Auf Grund erheblicher Defizite in der Erhebung weist sie von 2005-2014 mit durchschnittlich vier Ausfalltagen lediglich ein Viertel des vom WSI ermittelten Streikvolumens aus. Die Bundesagentur ist sich der Defizite ihrer Statistik bewusst, die im Wesentlichen auf lückenhaften Angaben der Arbeitgeber basieren. Im November 2015 gab die Agentur die Verhängung eines Bußgeldes gegen die Deutsche Post wegen fortgesetzter Verstöße gegen die gesetzliche Meldepflicht bekannt.

Ausblick 2016
Nach Einschätzung des WSI ist es eher unwahrscheinlich, dass sich der Anstieg des Streikvolumens 2016 fortsetzen dürfte. Längere Großkonflikte zeichneten sich zumindest bisher nicht ab. In punkto Streikbeteiligung könne sich allerdings auf Grund des Zusammentreffens der Tarifrunden des öffentlichen Dienstes bei Bund und Gemeinden und der Tarifrunde in der Metall- und Elektroindustrie möglicherweise erneut eine hohe Zahl an Streikenden ergeben. Offen bleibt, ob die Auseinandersetzung bei Amazon 2016 nach mehr als drei Jahren beigelegt werden kann – die Bereitschaft des Konzerns zum Abschluss eines Tarifvertrages mit ver.di wäre dafür allerdings wohl die Grundvoraussetzung, so Dribbusch.

Anmerkung zur Methode
Die Arbeitskampfbilanz des WSI ist eine Schätzung auf Basis von Gewerkschaftsangaben*, Pressemeldungen und eigenen Recherchen. Warnstreiks, insbesondere wenn sie lokal begrenzt sind, werden nicht von allen Gewerkschaften erfasst. Auch Streiks außerhalb des Tarifgeschehens, wie z. B. betriebliche Proteststreiks, werden nur in Ausnahmefällen bekannt. Die Zahl der arbeitskampfbedingten Ausfalltage (bzw. Streiktage) ist ein rechnerischer Wert, in den neben den von Gewerkschaften gemeldeten Personen-Streiktagen (d. h. der Summe der Kalendertage, an denen individuelle Mitglieder Streikgeld empfingen) auch der vom WSI geschätzte Arbeitsausfall bei Warnstreiks ohne Streikgeldzahlung einbezogen wird. Analog zur amtlichen Statistik werden bei der Streikbeteiligung Beschäftigte, die an zeitlich getrennten Streiks oder Warnstreiks teilnehmen, gegebenenfalls mehrfach gezählt. Die Zahl der Streikbeteiligten ist daher oftmals höher als die Anzahl der individuellen Arbeitnehmer, die ein- oder mehrmals gestreikt haben.

* Von den Arbeitgeberverbänden veröffentlicht, soweit bekannt, lediglich Gesamtmetall Angaben zur Teilnahme an Warnstreiks. Die von Gesamtmetall genannten Zahlen(345.000 Warnstreikende in 2015) weichen erheblich von denen der IG Metall ab. Nähere Erläuterungen, wie gezählt wird und welche Warnstreiks berücksichtigt werden, gibt Gesamtmetall nicht. Verwirrend ist, dass Gesamtmetall auch abweichende, angeblich auf Angaben der IG Metall beruhende Zahlen veröffentlicht, die jedoch laut IG Metall gar nicht von ihr stammen.

Die Grafiken (pdf): Link

Mehr Informationen zur Tarifrunde 2015 im Tarifpolitischen Jahresbericht des WSI: Link
Ansprechpartner in der Hans-Böckler-Stiftung

Dr. Heiner Dribbusch
WSI
Tel.: 0211-7778-217

Link: Kassel: Kongress zu Streikrecht + union busting
Quelle: PM Hans Böckler-Stiftung vom 3.3.2016

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