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Eine moralisch entkernte Regierung: Zur Diskussion um die Abschaffung von Pflegegrad 1

Foro: H.S.

04.11.2025 - von Katja Hausner

Guten Tag Herr Merz, Frau Warken und die Damen und Herren der Bundesregierung, ich schreibe Ihnen mit viel Zorn im Herzen und mit Erschöpfung in den Fingern. Zorn, weil Sie das Rückgrat verlieren, wo Rückgrat am nötigsten wäre.
Erschöpfung, weil ich all das schon einmal durchlebt habe. Meine Mutter hatte 13 Jahre Alzheimer. 13 Jahre, in denen Liebe, Verantwortung und Verzweiflung täglich nebeneinander saßen. 13 Jahre, in denen Pflege nicht einfach „Arbeit“ war, sondern Leben.

Natürlich begann alles mit Pflegegrad 1. Mit den kleinen Anzeichen, die man so gerne verdrängt. Vergesslichkeit, Überforderung im Alltag, Angst.

Pflegegrad 1 war keine „nette Unterstützung“, es war der schmale, rettende Faden, um meine Mutter in ihrer vertrauten Umgebung zu halten. Und jetzt wollen Sie diesen Faden kappen. Für hunderttausende Familien. Mit einem Federstrich. Weil Mitgefühl offenbar keinen Platz mehr im Bundeshaushalt hat.

Herr Merz, Sie, der sich selbst zum großen Sanierer der Nation erklärt hat, sparen natürlich nicht an sich, nicht an Beratern, nicht an parteinahen Netzwerken, sondern an denen, die keine Lobby haben. Den Pflegebedürftigen, den Alten, den Kranken, den Erschöpften. Das ist kein Sparkurs. Das ist sozialpolitischer Vandalismus, im Maßanzug und mit PowerPoint.

131 Euro im Monat, das ist Ihnen zu teuer. Während sich die Regierung im Juli die eigenen Auf-wandsentschädigungen um 606 Euro erhöht. Herr Merz, Sie sprechen von „Verantwortung“, aber was Sie tun, ist schlicht verachtend. Sie treten nach unten und verneigen sich nach oben. Das ist Ihre Methode. Nach unten treten, nach oben buckeln.

Und Sie, Frau Warken, als Bundesgesundheitsministerin und als Stimme der CDU im Bundestag, Sie wissen genau, was Sie da mittragen. Sie verteidigen einen Kurs, der pflegebedürftige Menschen zu Kostenpositionen degradiert, als wäre Menschlichkeit eine Buchungszeile im Excel-Sheet des Finanzministers.

Wollen Sie das wirklich verantworten? Wollen Sie ernsthaft den Menschen erklären, die ihre Angehörigen zu Hause pflegen, dass die 131 Euro monatlich, die sie für Alltagsbegleitung, Unterstützung, Medikamente oder Fahrten brauchen, „nicht mehr drin“ sind, während Sie selbst gerade eine Gehaltserhöhung erhalten haben?

Das ist blanker Zynismus. Das ist die moralische Entkernung einer Regierung. Pflegebedürftige werden zu „Kostenfaktoren“. Bürgergeldempfänger zu „Problemfällen“. Und wer das kritisiert, gilt als linker Gutmensch, als linker Spinner, der nach Ihrer Meinung, Herr Merz, nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Unfassbar, wie sie Bürger tituliert haben, weil sie eine andere Meinung haben. So sieht Ihre politische Wirklichkeit aus. Herr Merz, Sie sind kein Kanzler. Sie sind ein kalter Verwalter, ein moralisch verwahrloster Machtmensch, der das soziale Fundament dieses Landes als Sparpotenzial begreift.

Und Sie, Frau Warken, Sie machen mit. Sie sehen zu. Sie verteidigen. Sie nicken. Das ist das Erschütternde.

Ein Land im Takt der Kälte Man nennt es „Reform“, wenn Hilfen gestrichen werden. Man nennt es „Haushaltskonsolidierung“, wenn Familien entlastet werden sollten. Und wenn Senioren ihre Wohnungen verlieren, Kinder auf Tafeln angewiesen sind und Pflegebedürftige verzweifeln, dann heißt es: „Wir müssen Prioritäten setzen.“ Ein wunderbarer Satz... für Menschen ohne Gewissen.

Das Ergebnis? Ein Land, das im Takt der Kälte schlägt. Eine Bundesregierung, die lieber in
Beraterverträge investiert, als in Menschlichkeit.

Sie, Herr Merz, und Sie, Frau Warken, stehen sinnbildlich für eine politische Kultur, in
der Moral nur noch als Deko dient, als hübsches Zitat für Reden, aber niemals als Handlungsgrundlage. Sie produzieren Probleme am laufenden Band, belügen die Bürger und dann haben Sie auch noch die Frechheit, Ihren Fraktionsvorsitzenden Spahn zu schützen, der mehr Steuergeld verbrannt - hat, als Sie mit Ihrem Sparkurs in einer Legislaturperiode zu-
sammenkratzen werden. Glauben Sie tatsächlich, die „linken Spinner“ können nicht rechnen? Dass wir vergessen? Oh nein, dieses Mal nicht... das kann ich Ihnen versprechen!

Ich fordere Sie auf: Lassen Sie die Finger vom Pflegegrad 1!
Sparen Sie an Parteiposten, an Eigenlöhnen, an PR-Gipfeln, aber nicht an den Schwächsten
dieser Gesellschaft. Denn wer am Mitgefühl spart, hat das Menschsein längst aufgegeben.

Und ja, ich weiß sehr genau, dass meine Worte in Berlin vermutlich irgendwo zwischen
Gleichgültigkeit und Augenrollen versanden. Vielleicht macht man sich im Kanzleramt
oder bei Frau Warken sogar einen kleinen Spaß daraus, über die „aufgebrachten Bürger“ zu
lächeln, während Herr Merz die Stirn in moralischer Selbstzufriedenheit kräuselt.

Aber wissen Sie was? Ich will mir niemals vorwerfen müssen, geschwiegen zu haben. Ich
schreibe nicht anonym in Kommentarspalten, ich schreibe Ihnen, denjenigen, die Verantwortung tragen und sie so eiskalt ignorieren. Wenn Sie es lieber arrogant weglächeln oder in einem dieser endlosen Sitzungen mit dem Satz abtun „das versteht das Volk halt
nicht“, bitte sehr. Tun Sie das.

Nur eines sollten Sie wissen, die Rechnung für diese Ignoranz wird kommen. Und sie wird nicht nur in politischen Umfragewerten ausgedrückt sein, sondern leider auch in menschlichen Schicksalen. In Pflegebedürftigen, in Angehörigen, in Menschen, die Sie längst abgeschrieben haben.

Und dann, Herr Merz, Frau Warken, wird kein arrogantes Lächeln der Welt mehr reichen, um das zu überdecken.

Mit bitterem Gruß, im Namen all derer, die pflegen, kämpfen und sich aufreiben, während
Sie sich die Taschen füllen...

Quelle: Offenbach Post, 13.10.2025