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Kommentar: 5. Altenbericht der Bundesregierung

03.10.2006 - von Hanne Schweitzer

Wäre dieser Altenbericht vor 20 Jahren erschienen, sähe es anders aus in diesem Land. So manche Verwerfung der Vergangenheit und Gegenwart wäre uns erspart geblieben. Weil hierzulande aber erst zu Beginn der 90iger Jahre überhaupt mit Altenberichterstattung begonnen wurde, hinken wir in vielen seniorenpolitischen Belangen weit hinter anderen Staaten her. Das Tempo der Entwicklung muss forciert werden. Das belegt der mit einjähriger Verzögerung erschienene 5. Altenbericht der Bundesregierung.

1. Selbstdiskriminierung
Im Altenbericht wird ein Mangel an realistischen und positiven Altersbildern festgestellt. Das lässt sich mit einer Mail an das Büro gegen Altersdiskriminierung aus dem Monat September 06 trefflich belegen.
„Jeder weiß“, heißt es in dieser Mail, „dass die Alten die Last der Gemeinschaft sind, die sich auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung einen schönen Lenz machen, nachdem sie uns sehenden Auges in diese Misere gesteuert haben.“

Seit Jahren wird „den Alten“ die „Schuld“ für strukturelle Probleme - so etwa für die vielen leeren Kassen - zugeschoben. Die Art von Schuldprivatisierung blieb nicht ohne Folgen. Alterabhängige Diskriminierung konnte kräftig gedeihen, negative Altersbilder verfestigten sich. Das Individuum reagiert darauf mit zunehmender Selbstdiskriminierung:

“In meinem Alter lohnt das nicht mehr“. „In meinem Alter kann ich das nicht ... “. „Mit 50 kriegt man eh keinen Job mehr.“ Oder auch: „Ich bin 60, meine Frau ist 56, wir sind doch Gammelfleisch“*.

Gammelfleisch, das ist bekanntlich totes Fleisch. Das Haltbarkeitsdatum ist überschritten, es muss entsorgt werden. Wer eine solche Selbsteinschätzung hat, wie soll der sich und seine Potenziale ernst nehmen?

Diskriminierung und Selbstdiskriminierung führen zu sozialer Ausgrenzung und Isolation. Diskriminierung und Selbstdiskriminierung verhindern die aktive und selbstständige Teilhabe an der Gesellschaft.

Wer von Politik und Wirtschaft jahrelang als zu alt, zu teuer, zu ungebildet und zu wenig innovativ gebrandmarkt wurde, warum soll der ausgerechnet jetzt, wo er kaum finanziell über die Runden kommt, etwas für diese Gesellschaft tun, sich engagieren, seine Potenziale einbringen?

Im Kommissionsbericht werden die Potenziale des Alters als Ergebnis einer lebenslangen Entwicklung beschrieben. Vielen BürgerInnen dieses Landes ist durch willkürlich gesetzte Altersgrenzen jahrzehntelang der Zugang zu wichtigen gesellschaftlichen Bereichen verwehrt worden. Sie standen und stehen draußen. Zu ihrer Aktivierung, zu ihrer Wiedereingliederung sind besondere Motivationshilfen erforderlich. Wir brauchen deshalb nicht nur die gesellschaftliche Konstruktion neuer Altersbilder, wir brauchen auch andere Selbstbilder.

2. Geschlechtergerechtigkeit
Der Altenbericht belegt die unzureichende Gleichstellung von Frauen in diesem Land. Es fällt auf, dass im Bericht nur wenige geschlechterspezifische Daten verwandt werden.

So sind zum Beispiel die Angaben im Kapitel zur häuslichen Pflegearbeit nicht nach Männern und Frauen differenziert. Stattdessen ist in diesem Kapitel geschlechtsneutral entweder von „den Pflegenden“ die Rede, oder vom „Potenzial der durch Familien erbrachten Hilfe“.
Dadurch bleibt die ungleiche Verteilung von unbezahlter Familien- oder Pflegearbeit unberücksichtigt.

Frauen leisten aber sehr viel mehr unbezahlte Arbeit für andere, als sie selbst erhalten. Im Alter sind sie dann oft auf professionelle Pflege angewiesen. Um diese einkaufen zu können, bedarf es aber finanzieller Ressourcen. In der Zukunft wohl noch mehr als heute.

Von den 15 Abbildungen und Tabellen im Kapitel „Einkommenslage im Alter“ sind aber nur sechs nach Männern und Frauen differenziert. Eine Fußnote unter einer Tabelle im Altenbericht belegt, dass dieser Mangel System hat: Darin heißt es: „Im Alterssicherungsbericht (der Bundesregierung) werden keine Einkommensangaben für Frauen vorgelegt.“

Das ist eine mangelhafte Grundlage für die Beurteilung der finanziellen Ressourcen von Frauen. Nur in einer einzigen Tabelle wird ausserdem der Median angegeben, auch ist der Begriff „Nettovermögen“ nicht definiert.

Auch bei der im Altenbericht zitierten „Zeitverwendungserhebung“ des Statistischen Bundesamts fehlen geschlechterspezifische Angaben. Darin werden erfasst: „Haus- und Gartenarbeit, handwerkliche Tätigkeiten, Einkaufen, Haushaltsplanung, Pflege und Betreuung, Ehrenamt und (sogenannte) Hilfen“.

Über 65Jährige haben im Jahr 2001 immerhin 23 Milliarden Stunden dieser unbezahlten Tätigkeiten geleistet. Wie viele davon aber auf Männer, bzw. auf Frauen entfallen, bleibt im Dunkeln.

Ähnlich unbefriedigend ist die Datenbasis im Kapitel Migration. Von 13 Abbildungen und Tabellen sind die Fallzahlen nur in einer einzigen Tabelle nach Geschlecht aufgeschlüsselt. Im Gegensatz zu den anderen Kapiteln, wo Klagen über die mangelnde Datenlage im Text verteilt sind, wird dieser Mangel von den AutorInnen des Kapitels Migration aber auf einer eigenen Seite ausführlich benannt und kritisiert.

Nun erhebt der Altenbericht bekanntlich keine neuen Daten, sondern er stützt sich auf die „Bewertung existierender wissenschaftlicher Ergebnisse und auf Sekundäranalysen vorhandener Datensätze.“

Gender Mainstreaming, längst Querschnittsaufgabe bundesdeutscher Politik und Verwaltungsarbeit, ist demnach in der Wissenschaft noch nicht angekommen. Wie sonst lässt sich die mangelnde Datenlage erklären?

Für die Altenberichterstattung ist das sehr von Nachteil. Wegen der unbefriedenden Datenbasis kann die Kommission weder Aussagen über das Volumen der unbezahlten Arbeit von Frauen machen, noch kann sie Vorschläge zur „Verrechnung“ dieser unbezahlten Arbeit machen.
Vor allem kann die Kommission weder Leitziele noch Kriterien einer geschlechtergerechten Altenpolitik entwickeln.

Das ist für die nahe Zukunft von Bedeutung. Die geschlechterspezifische Aufschlüsselung von Staatsausgaben und Staatseinnahmen ist in den EU-Staaten ab dem Jahr 2015 vorgesehen. Bei dieser Aufschlüsselung ist der ökonomische Wert von unbezahlter Haushalts-, Erziehungs- und Pflegearbeit in die Budget-Planungen einzubeziehen.

3. Stadt- und LandbewohnerInnen
Der Altenbericht spart –wahrscheinlich auch wegen fehlender Daten, die besonderen Lebensbedingungen der alten LandbewohnerInnen aus.

Diese werden vor allem durch die zunehmend schlechtere Versorgungssituation bestimmt. Die Unterstützungsnetze im Alter werden löchrig, denn Kinder und Enkel ziehen in die Stadt. Die Alten bleiben zurück. Geschäfte, Post, Wirtshaus und Kirche sind geschlossen. Eine Schule gibt es schon seit Jahren nicht mehr. Der nächste Arzt, das nächste Krankenhaus ist weit weg.

Wer kein Auto hat, oder keines mehr hat, ist auf den öffentlichen Personennahverkehr angewiesen. Der ist aber mittlerweile fast nicht mehr vorhanden. In vielen Orten ist es oft nicht mehr möglich, am selben Tag von A nach B und wieder zurück nach A zu kommen.

Selbst mit der Breitbandversorgung hapert es auf dem Land. DSL-Anschlüsse sind für Provider nur bei hoher Nutzerdichte profitabel. Und Glasfaserkabel, wie sie in den neuen Bundesländern verlegt wurden, eignen sich nur sehr bedingt für DSL-Anschlüsse. Es besteht die Gefahr, dass ältere Menschen auf dem Land von Informationswegen abgeschnitten werden.

Für die Gesundheitsversorgung ist das von zunehmender Wichtigkeit. In nicht allzu ferner Zukunft werden viele Rehamaßnahmen nicht mehr von Therapeuten durchgeführt werden, sondern sie sind, wie z.B. von der Universität Leipzig entwickelt, im Selbsttraining via Internet oder CD-Rom zu betreiben.
Nötig sind deshalb kreative Ansätze zur Reduzierung der „Versorgungskluft“ auf dem Land.

4. Altersarmut
Älterwerden ist vor allem mit der Hoffnung verbunden, gesund zu bleiben und den bisherigen Lebensstandard möglichst zu halten. Deshalb ist den AutorInnen des Altenberichts die Ausführlichkeit, mit der sie auf die Benachteiligungsmechanismen der jüngsten Rentenpolitik eingehen, hoch anzurechnen. Solch differenzierte Analyse zum politisch unliebsamen Thema ist selten geworden in diesem Land.

Die Alterseinkommen derer, die heute in den mittleren Jahren sind, werden in den nächsten Jahren noch sehr viel ungleicher verteilt sein, als das bereits heute der Fall ist.
Während die happy few dann - ganz dem Leitbild vom selbstbestimmten und informierten Verbraucher entsprechend - Dienstleistungen und Konsumartikel aus dem „Ageing well“ Bereich einkaufen können, werden sich bei den weniger Glücklichen die Folgen der kontinuierlichen Kürzungen des Leistungsniveaus der Gesetzlichen Versicherungssysteme bemerkbar machen.

Altersarmut wird wieder zunehmen. Sie nimmt schon zu. In der Stadt Köln wurden im Jahr 2005 bereits 8,2 Millionen Euro mehr für die Grundsicherung (=Alleinstehende: 345 € + Unterkunftskosten in angemessener Höhe + Heizkosten in angemessener Höhe) alter Menschen ausgegeben, als eingeplant. Besonders von Armut betroffen sind alte MigrantInnen. Ihr Anteil unter den Beziehern von Grundsicherung ist z.B. in München sieben Mal höher als bei den anderen SeniorInnen. Die Zuwanderer türkischer Herkunft und aus dem ehemaligen Jugoslawien sind am stärksten von Armut betroffen. Diese beiden Gruppen haben auch die relativ längste Verweildauer in Armut.

Die Bundesregierung hat die Empfehlungen der 5. Altenberichtskommission zum Übergang vom Erwerbsleben in die Nacherwerbsphase ebenso abgelehnt, wie die zur Alterssicherung. Die soziale Ungleichheit zwischen den Älteren wird also weiter zunehmen. Welche Folgen das für die Partizipation der älteren Menschen und damit auch für die Produktion, den Konsum und den Dienstleistungssektor haben wird, das wird sich bald zeigen.

Copyright: Hanne Schweitzer

* Hintergrund: Der TV-Unterhalter Harald Schmidt sagte in der ARD-Sendung `Harald Schmidt´ Show: „Wir hier im Ersten, wir sagen nicht 50 plus, wir sagen Gammelfleisch." Daraufhin forderte das Büro gegen Altersdiskriminierung die Absetzung der Sendung und erhielt 10 Zuschriften von älteren Leuten, die sich selbst als Gammelfleisch bezeichneten.

Erstveröffentlichung: Fachgespräch am 25.9.2006 der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, Paul Löbe-Haus, Berlin, anlässlich des 5. Altenberichts der Bundesregierung.

Link: http://www.bmfsfj.de/Kategorien/Publikationen/Publikationen,did=78114.html
Quelle: Hanne Schweitzer

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