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Arbeiten bis 67? Nicht mal die Hälfte der 60-64Jährigen ist sozialversicherungspflichtig beschäftigt

Foto: H.S.

14.12.2022 - von Hanne Schweitzer

Der Kanzler fordert ArbeitnehmerInnen dazu auf, bis 67 zu arbeiten, um dem Arbeitskräftemangel abzuhelfen. „Es gilt, den Anteil derer zu steigern, die wirklich bis zum Renteneintrittsalter arbeiten können. Das fällt vielen heute schwer“, so Scholz. Dazu muss man wissen: Das "Gesetz zur Anpassung der Regelaltersgrenze an die demografische Entwicklung und zur Stärkung der Finanzierungsgrundlagen (RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz)" wurde im April 2007 von der schwarz/roten Koalition unter Kanzlerin Merkel verabschiedet. Es trat am 1.1.2012 in Kraft und besagt, dass die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre schrittweise bis 2029 zu erfolgen hat.

Im "Vierten Bericht zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 Jahre" berichtet die Bundesregierung im November 22 eher positiv über die Entwicklung der Arbeitsmarktlage und die Situation älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer:
- "Die Erwerbsbeteiligung der älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer hat sich ausgesprochen dynamisch entwickelt. Von 2000 bis 2021 ist die Erwerbstätigenquote der 60- bis 64-Jährigen in Deutschland von 20 Prozent auf rund 61 Prozent angestiegen.
- Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Alter von 60 bis 64 Jahren ist seit dem Jahr 2000 bis 2021 um knapp 2,2 Millionen auf 2,8 Millionen gestiegen.* Mittlerweile ist knapp die Hälfte der Menschen in dieser Altersgruppe sozialversicherungspflichtig beschäftigt.


Nur knapp die Hälfte der älteren ArbeitnehmerInnen ist also sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Denkt Kanzler Scholz, das sei ein Anreiz um länger zu arbeiten? Kennt er die Zahlen des Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) über die Zunahme der Beschäftigten nicht, die zwischen 60 und 64 Jahr alt sind? BiB lobt die Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt über den grünen Klee: Der Grund: die Erwerbsbeteiligung der 60-64Jährigen habe sich zwischen 2000 und 2015 bei den Männern mehr als verdoppelt und bei den Frauen sogar vervierfacht. Ist Scholz, wie den Arbeitgeberfunktionären, die Rente mit 63 ein Dorn im Auge? Sie wurde von der schwarz/roten Koalition unter Merkel verabschiedet. Seitdem steht ArbeitnehmerInen, die 45 Jahre gearbeitet haben, das Recht zu, ohne Abschläge in Rente zu gehen. Laut BiB macht von dieser Möglichkeit aber nicht mal jede/r dritte Gebrauch!

Dulger fordert Entfesselungsoffensive
Als Reaktion auf die Äußerungen von Scholz fordert der Präsident der Bundesvereinigung der
Arbeitgeber, Dulger, am 12. Dezember in der Rheinischen Post "eine Entfesselungsoffensive bei Regeln und Gesetzen". Wie von einem Arbeitergeberpräsidenten nicht anders zu erwarten, ist es die Regelaltersgrenze, die er von den Fesseln befreien will. (Die Bundesbank hat bereits 2009 gefordert, das Renteneintrittsalter solle „dynamisiert und an die steigende Lebenserwartung gekoppelt“ werden. Begründung: Es sei klar, „dass wir (der BDA?) das Rentenniveau ab 2025 nicht bei 48 Prozent halten können“.
Damit wiederholt Dulger lediglich, was im aktuellen Rentenversicherungsbericht der Bundesregierung steht. "Bis zum Ende des langfristigen Vorausberechnungszeitraums im Jahr 2036 steigt der Beitragssatz den Modellberechnungen zufolge auf 21,3 Prozent. Das Sicherungsniveau sinkt im gleichen Zeitraum auf 44,9 Prozent." Ähnlich stand es bereits im Rentensicherungsbericht von 2021. Dessen Prognose reicht zwar nur bis 2035, sieht aber ebenfalls sowohl die Steigerung des Beitragsatzes als auch das Sinken des Rentenniveaus vor. Im Unterschied zum Bericht von 2022 liegt der geschätzte Beitragsatz 2021 bei 22,5 Prozent und das geschätzte Sicherungsniveau bei 45,8 Prozent.
BDA-Chef Dulger will nicht nur das Rentenalter entfesseln. „Auch das Leistungsniveau in der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung werden wir (der BDA ?) ohne Reformen nicht halten können“. Mit anderen Worten: DIE KRISE NUTZEN, UM DEN SOZIALSTAAT ZU DEMONTIEREN.

Zum Vorschlag von Kanzler Scholz einige Kommentare aus der Presseschau des Deutschlandfunks. Was darin nicht vorkommt: Die ARBEITSLÖHNE.

Die Rheinzeitung ist am nächsten dran an Realität des Arbeitsmarkts
"Die Rheinzeitung aus Koblenz notiert: „Wenn der Sozialdemokrat Scholz jetzt geradezu darum bettelt, dass die Menschen erst am Ende der Regelaltersgrenze in Rente gehen, dann grenzt das an politisches Kabarett. Der Kanzler verleugnet so gesellschaftliche Realitäten, für die seine Partei ganz wesentlich verantwortlich ist. Große Unternehmen oder Versicherungen schicken ihre Mitarbeiter schon seit Jahren mit Mitte 50 oder Anfang 60 in die vorzeitige Rente. Arbeitslose erleben bereits in den 50ern oder mit Anfang 60 immer wieder, dass sie bei Jobangeboten trotz großer Erfahrung und trotz Fachkräftemangels nicht mal eine Chance bekommen. Politik setzt mit ihren Entscheidungen eben immer auch Signale“.

Die Lausitzer Rundschau fordert Renten- und Arbeitsmarktreform
"Die Zeitung aus Cottbus hebt hervor, dass nicht einmal Abschläge bei der Rentenhöhe von der Frührente abzuschrecken scheinen. „Entweder müssen die Bedingungen für eine Rente mit Anfang 60 so unattraktiv gestaltet werden, dass Arbeitnehmer automatisch erwerbstätig bleiben wollen. Oder aber man möchte, dass Menschen gerne und freiwillig länger arbeiten. Dazu braucht es attraktive Anreize, wie Entwicklungs- und Weiterbildungsperspektiven sowie Flexibilität bei der Vereinbarung von Familie und Beruf.
Die Äußerungen des Kanzlers und die Reaktionen darauf zeigen: Mittelfristig kommen wir um eine Rentenreform nicht herum. Gleichzeitig dürfen nicht die notwendigen Reformen auf dem Arbeitsmarkt, gerade was die Arbeitsqualität angeht, außer Acht gelassen werden“.

Die Nordwest-Zeitung aus Oldenburg plädiert für private Rentenversicherungen
"Sie kritisiert, dass die gesetzliche Rente dem Einzelnen keine Wahl lasse, ab wann er nicht mehr arbeiten wolle. „Warum? Weil auf Teufel komm raus ein System stabilisiert wird, das immer höhere Beiträge und Steuerzuschüsse verschlingt, aber immer weniger Leistung erbringt. Und nun möchte der Kanzler auch noch das Arbeitskräfte-Problem der Wirtschaft lösen, indem man Alte per finanzieller Daumenschraube zum Weiterarbeiten zwingt? Systemwechsel tut not: hin zu einer kleinen Grundrente für alle, die das Existenzminimum abdeckt und durch kleine Beiträge aller finanziert wird. Für den Rest sorgt jeder individuell – und entscheidet dann auch selbst, wann er aufhört zu arbeiten“.

Der Münchner Merkur vergisst, wie lange die Senkung des Rentenniveaus und die Erhöhung der Rentenbeiträge schon auf dem Tisch liegen
„So kompliziert Rentenpolitik im Detail ist, so einfach ist sie im Grundsatz“, unterstreicht der Münchner Merkur. „Wenn immer weniger Junge für immer mehr Rentner zahlen, steigen entweder die Beiträge, oder das Rentenniveau sinkt, oder wir arbeiten länger. Noch im Wahlkampf vermittelte Scholz in der Diskussion um das Rentenalter aber ein anderes Bild. All die prognostizierten Horrorszenarien seien doch bisher dank hoher Beschäftigung nie eingetreten, beruhigte der spätere Wahlsieger. Nun scheint Scholz seinen Beschwichtigungen
selbst nicht mehr ganz zu glauben. Und auch wenn die SPD die Aussagen des Kanzlers bereits relativiert: Dass er den Handlungsdruck sieht, ist gut. Wer weiß: Vielleicht ist es – ähnlich wie bei Gerhard Schröders Agenda 2010 – am Ende wieder ein SPD-Kanzler, der die Reformen anpackt, vor denen sich seine Vorgänger gedrückt haben“.

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Am 13.12.2022 meldet die WELT: "SPD-Parteichefin Saskia Esken sagte am Montag nach Beratungen der SPD-Gremien: „Es ging dem Kanzler darum, deutlich zu machen, dass wir angesichts des dramatischen Mangels an Arbeitskräften, den wir derzeit haben, auch älteren Beschäftigten Beschäftigungschancen ermöglichen müssen.“ Derzeit sei es so, dass viele Ältere keine Arbeit mehr bekämen, wenn ein Unternehmen nicht mehr weitermache. Die Arbeitswelt sei für die Beschäftigung Älterer „nicht gut ausgerichtet“, fügte Esken
hinzu." Und warum hat der Kanzler das nicht gesagt? Kann er das Wort Altersdiskriminierung nicht aussprechen? Kann er, wie Dulger, nicht formulieren, das Renteneintrittsalter
flexibilisieren und bei dieser Gelegenheit nach oben schrauben zu wollen, z. Bsp. auf 69, wie es die Bundesbank schon 2009 gefordert hat?
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Siehe dazu auch:
- 24.1.2010: "Rente mit 67: Jonglieren mit Zahlen + Aufbruch in die altersgerechte Arbeitswelt" unter: Link

- 25.7.2009:" USA: Rente mit 62, 67 oder 70" unter: Link

- 1.5.2005: "FAZ: Auswertung Jobangebot 23.4.2005" unter: Link