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EU-Abgeordnete: Es gibt keinen Grund für diesen Krieg

Foto: H.J.

09.09.2023 - von Europaabgeordnete

Am 4.4.2022 veröffentlichte die WELT einen Offenen Brief prominenter Europaabgeordneter von rechts bis links. Knapp anderthalb Jahre später glaubt man kaum, was sie "damals" geschrieben haben. Die Kriegspropaganda war noch nicht zur Hochform aufgelaufen, die Waffenhändler waren noch nicht im Geschäft, über humane, ökonomische und ökologische Kriegsfolgen wurde kaum nachgedacht. ...

"Liebe europäische Nachbarinnen und Nachbarn,
Liebe Freundinnen und Freunde!
Es ist entsetzlich, schrecklich, unerträglich – Krieg entzweit unseren Kontinent. Sie wissen, warum. Die russische Armee ist in die Ukraine einmarschiert. Ihr Präsident hat entschieden, den Krieg in ein Land zu tragen, das niemanden angegriffen hat und in Frieden und Freundschaft mit seinen Nachbarn leben wollte.

Dieser Krieg hat schon zu viele Menschen getötet. Er bringt Leid zu Familien in der Ukraine, die bombardiert, belagert oder zur Flucht gezwungen werden. Dieser Krieg tötet auch Ihre Kinder, die in diesen Krieg geschickt werden, um unschuldige Menschen zu töten - ohne, natürlich, zu verstehen, warum sie das tun sollen.

Dieser Krieg muss beendet werden, wie so viele unter Ihnen – Mütter und Väter, Journalisten, Professorinnen, Lehrende und Studierende, Priester und Wissenschaftlerinnen, Künstler und Schriftstellerinnen – mutig in Petitionen fordern, die sie mit Ihrem Namen unterzeichnen.

Deshalb möchten wir Ihnen heute sagen, dass niemand Russland bedroht, dass weder die Ukraine noch die Europäische Union, die Vereinigten Staaten oder die Atlantische Allianz Russland auch nur im Geringsten schaden wollen.

Niemand hat einen einzigen Quadratmeter Russland annektiert und niemand will das tun. Es gibt keine NATO-Raketen in der Ukraine, weder europäische noch amerikanische. Keine Armee der Atlantischen Allianz, weder eine amerikanische noch eine europäische, ist in Russland einmarschiert oder beabsichtigt, in Russland einzumarschieren.

Das einzige, was Ihr Land bedroht, ist die Angst, die erwächst, wenn Ihre Machthaber sich so verhalten wie heute in der Ukraine. Denn die Folge sind Wirtschaftssanktionen, Misstrauen und ihre Konsequenzen: gegenseitige Ressentiments und der Abbruch einer für alle Seiten vorteilhaften Zusammenarbeit. Das Einzige, was Ihren Präsidenten bedroht, ist seine Angst, dass die Ukraine sich zu einer erfolgreichen, wohlhabenden Demokratie entwickelt, die die Korruption und die Herrschaft der Oligarchen überwindet und damit zum Vorbild für ein besseres Russland wird.

Es gibt keinen Grund für diesen Krieg, und ja, er muss sofort aufhören, weil er absurd und ungerecht ist und noch größere Gefahren für uns alle mit sich bringt, aber auch weil unsere 27 Länder, Ihre 27 Nachbarn, die 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, nur auf den Tag warten und hoffen, an dem wir gemeinsam mit Ihnen für die Stabilität und den Wohlstand Europas, unseres gemeinsamen Kontinents, arbeiten können.

Das sind wir unseren Kindern und unseren Eltern schuldig. Das sind wir dem jahrzehntelangen Frieden schuldig, den Europa trotz des Kalten Krieges seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs genießt. Das sind wir vor allem unserer gemeinsamen Identität, unserer gemeinsamen europäischen Kultur schuldig, denn Sie sind, so wie wir, in erster Linie Europäerinnen und Europäer.

Von St. Petersburg bis Lissabon, von Paris oder Moskau bis Berlin, Kiew oder Warschau teilen unsere jungen Menschen den gleichen Lebensstil, den gleichen Geschmack und den gleichen Drang nach Freiheit. Alle Generationen zusammengenommen, von Dublin bis Wladiwostok, sind wir alle Europäerinnen und Europäer. Unsere Geschichten waren immer miteinander verflochten. Tolstoi und Dostojewski, Tschechow und Bulgakow, Ihre Schriftsteller, gehören zu unserem gemeinsamen Erbe, zum Pantheon der Weltliteratur, wo sie neben Shakespeare, Hugo, Schewtschenko, Goethe, Cervantes, Kafka oder Mickiewicz sitzen.

Wir sind alle Europäerinnen und Europäer, weil Sie und wir unsere gemeinsame Kultur aus der griechischen Philosophie, dem römischen Recht, dem Alten und Neuen Testament, der Aufklärung und der durch die britische und französische Revolution neu erfundenen Demokratie von Athen und Rom schöpfen.

Also ja, lassen Sie uns zusammenarbeiten, um diese finsteren Stunden unverzüglich zu beenden, und lassen Sie uns auf den Tag hinarbeiten, an dem Ihre Föderation und unsere Union mit ihren gegenwärtigen und zukünftigen Mitgliedern die Wege zu einer für Europa und die Welt so notwendigen Verständigung und Zusammenarbeit finden werden.

Lassen Sie uns daran arbeiten, dass das Ende der Ost-West-Konfrontation von niemandem mehr als Sieg oder Niederlage angesehen wird, sondern als Beginn einer neuen Ära von Demokratie und Wohlstand für unseren Kontinent. Lassen Sie uns daran arbeiten, den lang ersehnten Tag herbeizuführen, an dem wir unseren intellektuellen, natürlichen und wissenschaftlichen Reichtum vereinen können, um Europa, seine Kultur und seine Zivilisation zu bekräftigen.

Ja, lassen Sie uns für den Zeitpunkt arbeiten, wenn Brücken die vergessenen Mauern überspannen werden. Lassen Sie uns dafür arbeiten, denn nichts daran ist unmöglich, da Sie und wir, liebe Freunde und Bürger Russlands, den Krieg ablehnen. Wir wissen, dass viele von Ihnen Putins kriminelle Aggression verurteilen und Frieden wollen. Wir hören Ihre Stimmen, wenn Sie trotz der Gefahr willkürlicher Verhaftungen und schwerer
Strafen protestieren.

Weil wir das wissen, weil wir uns dessen sicher sind, wenden wir uns heute an Sie mit dem Wunsch, dass diese Botschaft zu unserer Versöhnung beiträgt und sie beschleunigt, und dass wir damit die Spannungen, die Sanktionen und vor allem diesen Krieg, den Ihr Präsident dem ukrainischen Volk und Ihren Kindern so ungerechterweise zugefügt hat, so schnell wie möglich hinter uns lassen können.

Es lebe Europa! Es lebe der Frieden!"

Manfred Weber, Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei; Iratxe Garcia Perez, Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion; Stéphane Sejourné, Vorsitzender der Renew Europe Fraktion; Martin Schirdewan und Manon Aubry, Co-Vorsitzende der Fraktion Die Linke


Erstveröffentlichung auf dieser Webseite: 9.4.2022

Quelle: WELT, Printausgabe, 4.4.2022

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