Diskriminierung melden
Suchen:

Der Berliner Wahlsumpf, Wählen als Ritual der Mittelschicht, Nichtwähler

Foto: H.S.

16.10.2021 - von Kolja Zydatiss, Volker Seitz, Hanne Schweitzer

Die Ergebnisse von Wahlen sind für das Handeln von Regierungen immer unwichtiger. Gespräche in Davos oder bei Bilderberg-Konferenzen, die Interessen von Lobby- oder Standesorganisationen beeinflussen das Handeln der staatlichen Akteure direkter, gezielter, dauerhafter. Gleiches gilt für die Beschlüsse von NATO und WHO, von EZB, ESM oder Bundesbank. Für die meisten WählerInnen sind diese Institutionen Rätsel mit sieben Siegeln, gekennzeichnet durch Intransparenz, üppigst dotierte Posten, nicht weisungsgebundenes Handeln und fehlende parlamentarische Kontrolle. „Vierte Gewalt“ nennt Joseph Vogl, was sich neben der Legislative, der Judikative und der Exekutive etablieren konnte. Damit meint er die sich gerne als vierte Gewalt selbst erhöhenden MedienmitarbeiterInnen nicht. Sondern den Bereich der Finanzen, die "Monetative", die mehr und mehr zum Digitalkapitalismus mutiert.

Das auffallend wenig öffentlich kommentierte Wahldesaster in Berlin könnte den einen oder anderen Vertreter der Finanz-, Digital- oder Start-Up-Industrie zu einem "Wahlen-ohne-Pannen-Projekt-2015" animieren. "Digi-Wahl", steht an, zumindest als Feldversuch in der Hauptstadt; die Stimmabgabe als Geldquelle entdecken. >Regierende Bürgermeisterin von Berlin, Frau Giffey, now it`s your choice: Entweder Fortschritt oder ein weiteres Fiasko. Klar, an den 602.759 Nichtwählern, die bei der Wahl zum Abgeordnetenhaus 2021 ausgewiesen wurden, wird das nichts ändern, aber peinliche, vielleicht gar Wahlbeobachter und Wahlbeobachterinnen anziehende Anmerkungen, wie sie im endgültigen Ergebnis des Landeswahlausschusses stehen, etwa "Falsche Stimmzettel" oder "Wahllokale mit temporären Schließungen", könnten durch "Digi-Wahl" vermieden werden. Und unter uns: "Digi-Wahl" mit ein bisschen Werbung aufgelockert, da hätte die Stadtkasse auch was davon!>

Die Berliner Wahlungeheuerlichkeiten decouvriert Kolja Zydatiss in einem Beitrag für NOVO:
"Komplett identische Meldeergebnisse für verschiedene Wahllokale, die sich später als „Schätzungen“ herausstellen, fehlende, vertauschte und hastig am Kopierer nachgedruckte Stimmzettel, illegale Stimmabgaben von Minderjährigen, viel mehr abgegebene Stimmen als Wahlberechtigte und stundenlanges Schlangestehen vor Wahllokalen." Noch drastischer macht Volker Seitz deutlich, was in Berlin am 26.9.2021 passiert ist. Zydatiss zitiert den Diplomaten, der in den Jahren 2004 - 2008 Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Kamerun war, und das Geschehen vor dem Hintergrund seiner jahrzehntelangen Auslandserfahrung so kommentiert: „Ich sehe mich nach dem Chaos am Wahltag in dem überforderten und defekten Gemeinwesen Berlin nicht mehr in der Lage, afrikanische Staaten zu kritisieren, wenn sie demokratische Wahlen nicht angemessen organisieren können. Identische Wahlergebnisse gleich in 22 Wahllokalen habe ich in 17 Jahren in Afrika nie erlebt. ...[/b]".

Zydatiss schließt seinen Artikel mit der rhetorischen Frage: "Geht es der tonangebenden „bildungsbürgerlichen neuen Mitte“ (Streeck) überhaupt noch darum, die institutionellen Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass einfache Bürger sich durch die Mobilisierung von politischen Mehrheiten Geltung verschaffen können?" Seine Antwort können Sie sich denken oder nachlesen bei Novo-Argumente: Demokratie als Haltung, Wählen als Ritual unter: Link

------
Dazu passt:

Wahlen – eine Angelegenheit der Reichen? Wählen im „abgehängten“ Stadtteil
Während die Wohlhabenden mitgestalten möchten und wählen gehen, koppeln sich die Ärmeren immer mehr ab, sie stellen den übergroßen Teil der Wahlverweigerer. Dementsprechend haben die reichen Menschen deutlich mehr Einfluss auf die Zusammensetzung der Bundes- und Landtage und der Kommunalparlamente genommen, als die armen.

Die Gründe, nicht zur Wahl zu gehen, sind von ihnen schnell benannt. Sie finden keine Partei mehr, die ihnen ein Angebot macht, niemand fragt sie nach ihren Interessen und keiner setzt sich für ihre Belange ein. Sie haben eine fundamentale Enttäuschung gegenüber der Politik erfahren. Das Gefühl am Rand zu stehen mit dem ohnmächtigen Wissen, auf demokratischem Weg in ihrem Umfeld und in der Gesellschaft allgemein nichts mehr verändern zu können, macht sie immer passiver. Sie haben gemerkt, dass sie Produkt einer Politik sind, die ihnen die Lebensgrundlagen systematisch entzogen hat und dies dann ihnen auch noch als Fortschritt verkauft wird. Die gewählten Politiker selbst haben sich damit abgefunden, dass sie nicht mehr mit den sogenannten Abgehängten in den „Problemstadteilen“ als Wähler rechnen und erreichen können, weil die Kommunikation abgebrochen ist.
So entsteht ein Kreislauf, der nur den konservativen und rechten Parteien nützt und die ganze Gesellschaft weiter nach rechts ausrichtet.
Weiterlesen bei Gewerkschaftsforum Dortmund unter: Link

-------
Mathias Richling: u.a. über Scholz, Ulla Schmidt, Corona - „Ich bin nicht dazu da, lobzuhudeln“ Link

Spiegel online, S.Lobo unter: Liebeserklärung an den failed state: Link

Quelle: NOVO, Büro gegen Altersdiskrimnierung, Gewerkschaftsforum, dradio