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Der Künstler als Händler - Aus dem Archiv, 1991

Foto: H.S.

25.11.2020 - von Hanne Zens

Während eines Besuchs in Amerika gibt der polnische Präsident einen Empfang für Herrn Bush und seine Mannen. Bis auf Walesa haben sich die polnischen und die amerikanischen Gäste schon vollständig im Bankettsaal versammelt, als plötzlich das Licht ausgeht: Stromausfall im Washington.
In die aufkommende Unruhe ruft ein Mitglied der polnischen Delegation: "Keine Panik verehrte Damen und Herren! "Der Elektriker ist schon unterwegs!"

Walesa war, bevor er Staatspräsident wurde, bekanntlich Elektriker - ein Umstand, der von vielen Polen so sehr als Schmach empfunden wird, daß ähnliche Witze zu Dutzenden im Umlauf sind. "Walesa kann ja nicht mal richtig polnisch sprechen", empört sich selbst der finsterste Krakauer Taxifahrer in fließendem englisch. "Und so einer ist Präsident".

Als ob die Polen nicht andere Sorgen hätten. Die Landwirtschaft geht in die Binsen, Industriebetriebe brechen zusammen, das kulturelle Leben haucht seinen Geist aus.
Jenseits der Grenzen braut sich auch einiges zusammen. Im Osten tost die Sowjetunion, von Westen schielt mal wieder das Deutschtum über die Grenze, im Norden dümpelt die Ostseekloake vor sich hin, und in der Tschechoslowakei ist es mit der Ruhe auch vorbei.

Genügend Anlass also, sich über anderes zu mokieren, als darüber, dass jemand die sechs Deklinationen der polnischen Sprache nicht perfekt beherrscht.

Aber wie die 100 Parteien und Gruppierungen, die sich letzten Sonntag um einen Sitz im Parlament bewarben, so sind auch Walesa-Witze ein Beleg für polnische Instabilität, für die sozialpolitische Wendesituation. Sie weisen hin auf das Debakel eines Landes, in dem Bildung ein Wert an sich gewesen ist. Fast zwei Jahrhunderte galt als angesehener, als "guter" Pole stets derjenige, der die Sprache perfekt beherrschte, und die polnische Literatur und Geschichte kannte.

Und so standen denn auch in der Klassengesellschaft, die sich im sozialistischen Polen formiert hatte, die Künstler und die Intellektuellen an der Spitze. Sie genossen die größte Wertschätzung und bestmögliche Unterstützung. Ihr Tun löste flächendeckende Kulturdebatten aus,und war Anlaß für immer neue Diskurse über Freiheit, Gott, Unsterblichkeit.

Über Geld wurde nie gesprochen. Geld war vollkommen uninteresssant. Es taugte weder moralisch noch praktisch zur Bewältigung des Lebens. Wer eine Villa hatte, galt als Dieb, viel Geld zu besitzen kam einer Sünde gleich.

Die Zeiten sind vorbei. Der Tanz um das Goldene Kalb hat begonnen. Und wie Mauerblümchen hocken die Intellektuellen und die Künstler auf der Reservebank der sich neu formierenden Civil Society. Machtkonstellationen in Frage stellen, Herrschaft subtil unterminieren, die Axt an der Wurzel anlegen, das sind Qualitäten, die beim "run" auf die schimärische Gottheit Geld bloß stören.

Jetzt hat die Stunde der Glücksritter und Händler geschlagen. Sie legen die Regeln fest, bestimmen das Spiel, in dem die Priorität des Geistreichen von der Dominanz des Geldes erschlagen wird.

Wohlgemerkt, es war nicht der Parteigeist, der in Polen herrschte. Der Parteigeist war in der DDR zu Hause: kleinkariert, autoritär, provinziell. In Polen dominierte Geschichtsgeist, historischer, polnischer Geist, brilliant geschärft an der traumatischen Vergangenheit dieses Landes und anarchistisch bis in den tiefsten Grund.

Seit die Macher und Händler sich anschicken, das verstoßene Kind Europas auf ihre Art hochzupäppeln, heißt die Parole: Dolce Vita statt Schlange stehen. Der Flügel wird gegen einen CD-Player getauscht, und Satellitenschüsseln avancieren zu Statussymbolen.
Unverbindlichkeit ist angesagt, Unwesentliches hat Konjunktur. RAI UNO sendet schon eine Weile, RTL+ wartet auf Sendefrequenzen.

In diesem Prozess der sogenannten "Europäisierung" verkommen die Künstler zu Hofnarren. Die Intellektuellen werden werden zu Plaudertaschen, die sich mit Sesselpupern der Nomenklatura oder mit Investitionswilligen und Chopin liebenden Japanern mittags auf eine Cola treffen.

Vorbei die Zeiten, in denen Theateraufführungen polnischer Schüler das Niveau westlicher Stadttheater-Inszenierungen hatten. Vorbei die Zeiten, in denen mit Minimaletats hervorragende Filme produziert wurden, und die Buchhandlungen mehr Kunden hatten, als die Banken.

Seit die Einreise nach Polen genau so langweilig ist, wie der Grenzübertritt in Holland, seit der Westmensch ohne Visum und Zwangsumtasuch über die Oder und die Neiße rollt, nimmt die Zahl der Buchhandlungen ab, die Macht der Banken zu. Karikaturen verlieren ihren Biß, Cafes werden chic, Künstler werden zu Händlern.

Der Lyriker verkauft nepalesische Buddha-Figuren, der Schauspieler schweißt Führerscheine in Plastik ein, der Redakteur spekuliert mit Schloßallee und Parkstraße und Piotr, der Musiker, engagiert westliche Kollegen, für deren Qualitäten er vor zwei Jahren nicht mal ein müdes Lächeln übrig hatte. "Das bringt Geld", sagt er. Aber er formuliert es natürlich anders: hochpolnisch, elegant, mit jeder Menge Partizipialkonstruktionen.

"Keiner der großen europäischen Kulturprozesse hat Polen wahrhaftig umgekrempelt", schrieb Gombrowicz kurz vor seinem Tod. "Weder die Renaissance noch die Religionskriege, noch die Industrierevolution. Nur ein abgeschwächtes Echo von allem ist angekommen."

Sein Wort in Gottes Ohr.

Quelle: Privatarchiv, Erstsendung WDR 28.10.1991