Foto: H.S.
30.09.2020 - von Michael Breidbach
Michael Breidbach hat für die 247. Ausgabe der monatlich erscheinenden Zeitung der Landesseniorenvertretung Bremen "Durchblick" ein Interview mit Frau Hinrichsen geführt. Sie ist "Abschnittsleiterin der Wohn- und Betreuungsaufsicht zu Besuchsregelungen in Heimen und Betreuungseinrichtungen in der Freien Hansestadt Bremen".
Ratlos bleibt man nach dem Lesen des Interviews zurück. Frau Hinrichsen beschreibt den Zustand der sozialen Isolation in den Heimen als"Folter", und sie hält die "strengen Regeln", die zur "Folter" geführt haben, für "gerechtfertigt". Ausserdem attestiert sie der "Politik", also dem staatlichen Handeln, "nach bestem Wissen und Gewissen" gehandelt zu haben. Demnach durften HeimbewohnerInnen gefoltert werden, weil die "Politik" nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt hat.
Ist Folter in diesem Zusammenhang das richtige Wort? Wikipedia definiert Folter so: "Folter (auch Marter oder Tortur) ist das gezielte Zufügen von psychischem oder physischem Leid (Schmerz, Angst, massive Erniedrigung), um Aussagen zu erpressen, den Willen des Folteropfers zu brechen oder das Opfer zu erniedrigen. Die UN-Antifolterkonvention wertet jede Handlung als Folter, bei der Träger staatlicher Gewalt einer Person „vorsätzlich starke körperliche oder geistig-seelische Schmerzen oder Leiden zufügen, zufügen lassen oder dulden, um beispielsweise eine Aussage zu erpressen, um einzuschüchtern oder zu bestrafen“.
1. Frau Hinrichsen, was halten sie von den gerade beschlossenen Erleichterungen bei der Besuchsregelung?
Wir begrüßen die Erleichterungen. Man muss ja sehen: Die soziale Isolation ist Folter! Die Menschen in den Heimen leben dort, es ist ihr Zuhause, dort möchten sie sich wohlfühlen und auch frei bewegen können. Wir als Heimaufsicht haben auch die Angehörigen unterstützt, es gab viele Fragen: Darf ich mit meiner Mutter rausgehen mit dem Rollstuhl o.ä.
2. Befürchten sie, ass es zu neuen Coronaausbrüchen kommt?
Wir versuchen das zu vermeiden aber die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben. Denn die Situation war unzumutbar.
3. Haben Sie die strengen Regeln als gerechtfertigt empfunden?
Ganz klares ja, es war eine neue Situation und die Politik hat nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt. Es war ja nicht abzusehen was passiert und da kamen Meldungen aus anderen Bundesländern, wo die Menschen in den Einrichtungen gestorben sind. Der Krisenstab der Feuerwehr hat die Risikogruppe erkannt. Jetzt tastet man sich langsam an die neue Situation heran. Wir sind mit den Krankenkassen und den Einrichtungen im Gespräch. Es geht darum soviel Normalität wie möglich zu schaffen.
4. Welche Auswirkungen haben nach Ihrer Meinung die Einschränkungen der Besuchsregelung bei den Heimbewohnern aber auch bei Angehörigen gehabt?
Ich sagte schon, es war wie eine Isolationsfolter. Das tut niemandem gut, den Heimbewohnern nicht, den Kindern, den Enkeln, Freunden. Hier waren die Einrichtungen besonders gefordert. Sie haben einen großartigen Job gemacht. Wir haben sie dabei beraten. Über andere Wege Kontakt halten: Briefe, Emails, Skype.
5. Wie war es für Sie festzustellen, dass es in der Nähe z.B. Wildeshausen oder Findorff Ausbrüche in Einrichtungen gegeben hat?
Es war eine fürchterliche Erfahrung. Das sind Bilder, die man nicht vergisst, wie schnell die Menschen gestorben sind. Es mussten sofort Schutzmaßnahmen ergriffen werden und das Gesundheitsamt war hier sehr professionell. Die Koordination hat sehr gut geklappt. Übrigens muss ich an dieser Stelle mal sagen, wir haben hier großartige Menschen in der Wohn- und Betreuungsaufsicht. Die sind genau für diese Probleme geschult. Diese Aufsicht stellt die Qualität in den Einrichtungen sicher. Die Betroffenen sind ein besonders schützenwerter Personenkreis. Deshalb ist es wichtig, wenn sie Beschwerden haben, haben sie bitte keine Scheu. Wenden sie sich an uns.
6. Noch eine Frage zu den Heimbeiräten. Was ist das genau?
Die Heimbeiräte sind eine Interessenvertretung. Wie Betriebsrat? Ja, so kann man es sehen. Es ist ein Ehrenamt. Bei uns im Hause ist Frau Winkelmann zuständig. Sie macht auch Schulungen und berät die Heimbeiräte. Man muss übrigens kein Angehöriger sein um Heimbeirat zu werden. Die Heimbewohner brauchen starke Stimmen. Wir helfen, wenn es Probleme gibt.
7. Und wie groß sind die Heimbeiräte?
Das ist abhängig von der Größe des jeweiligen Heimes.
8. Welche Themen werden bearbeitet?
Da geht es z.B. um Gewaltprävention. Ein solches Konzept wird gerade bei uns im Hause erarbeitet. Es geht um Vorbeugung, aber auch darum, wie die Leitung einer Einrichtung reagiert, wenn es einen Vorfall gegeben hat. Ich möchte noch sagen: Wir haben großes Interesse an einer guten Zusammenarbeit mit der Seniorenvertretung.
Vielen Dank für das Interview.
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