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Aus der Corona-Virus-Pandemie für eine humanere Altenhilfe lernen

Foto: Hartmut Jeromin

18.06.2020 - von Runder Tisch der Senioren, Vorruheständler + Behinderten der Stadt Dresden

Aufruf des Runden Tisches der Senioren, Vorruheständler + Behinderten der Stadt Dresden
Bei der Beratung des R.T. am 10.06.2020 formulierten die Anwesenden ihre Positionen, Erwartungen und Eigenbeiträge zur Bewältigung der Folgen der ersten Welle der Corona-Pandemie im Frühjahr 2020.

Wir halten am Ziel fest, ein selbstbestimmtes Leben für alle DresdnerInnen unabhängig ihres Alters, Pflege- oder Behindertengrades zu gewährleisten und ihnen die Teilhabe in Würde am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen. Zugleich gilt es, die Bedürfnisse ihrer Angehörigen, Helfer und Nachbarn zu wahren. Schließlich ist für den Fall einer weiteren Erkrankungswelle Vorsorge zu treffen, damit die gesundheitliche und nachbarschaftlich-soziale Versorgung älterer Menschen nicht in Gefahr gerät. Dem dienen die folgenden Anregungen und Überlegungen:

1) Selbstbestimmtes Wohnen in der eigenen Häuslichkeit
- um Vereinsamung und Isolation zu vermeiden,
- Die Möglichkeiten zu eigener Aktivität und Beteiligung im jeweiligen Wohnumfeld zu gewährleisten und auszubauen,
- ein flächendeckendes System von Nachbarschaftshilfe in allen Stadtteilen zu fördern, aufzubauen und zu verstetigen,
- Gezielt tragfähige Grundlagen schaffen für „sorgende Gemeinschaften“ durch verbesserte städtebauliche und wohnungswirtschaftliche Anreize und Angebote,
- Qualifizieren der Kooperation der Akteure von Altenhilfe und Seniorenarbeit in den Fachplanungsgremien,

Nach unserem Erleben funktionierten auch bei vielen Betagten und Alleinlebenden die Nachbarschafts- und Familiennetzwerke in Zeiten gekappter persönlicher Kontakte nach Mitte März 2020. Das ist ein ausbaufähiges Fundament, weil sich hier auch viele Nachbarn freiwillig einbrachten. Darauf ist nun aufzubauen und dieser zivilgesellschaftliche Geist zu verstetigen.

2) Stationäre Pflege – Wohnen in Heimen und im „Betreuten Wohnen“
Weniger optimistisch muss die Entwicklung im stationären und teilstationären Bereich (Beispiel Tagespflege) beurteilt werden. So schreibt das Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA) am 27.05.2020 unter dem Titel „Schutz und Sicherheit statt sozialer Kontakte“ – eine kritische Analyse zur Situation von älteren Menschen in stationärer Pflege im Zeichen von Corona:
„Pflegeheime sollten Orte des alltäglichen Lebens und normalen Wohnens sein, de facto aber bestimmen mehr denn je Schutz und Sicherheit statt sozialer Kontakte die Wirklichkeit der Bewohnerinnen und Bewohner. ...Die COVID-19-Pandemie bringt die Gesellschaft in einen fundamentalen Zielkonflikt. Einerseits gilt die Sorge explizit dem Schutz vulnerabler (verletzlicher) Gruppen und insbesondere dem hohen Alter. Andererseits werden Menschen im hohen Alter in den Pflegeheimen verstärkt dem sozialen Tod infolge von sozialen Ausgrenzungen ausgesetzt. Die Vermeidung des biologischen Todes wird teuer erkauft mit dem sozialen Tod. ...die Lebenswelt der Pflegeheime ist eine extreme Form der Ausgrenzung. ...
Auch ohne Sars-CoV-2 ... ist die Atmosphäre in Heimen an dem Vorbild von klinischen Hygieneverordnungen von Akutkrankenhäusern orientiert. Dies, gepaart mit den Corona-Hygienemaßnahmen, wirkte sich nun in einer eskalierenden Form der Kasernierung aus. Das Risikomanagement von Corona läuft nicht wie im Fall des normalen Alltags der nachbarschaftlich und infrastrukturell vernetzten privaten Häuslichkeiten und gemeinschaftlichen Formen privaten Wohnens ab. ...
Und: Hat die Gesellschaft den expliziten oder mutmaßlichen Willen der Bewohnerinnen und
Bewohner befragt?“
(Analyse unter: Link )

Nach dem wochenlangen Zurückhalten der „Stimme der Älteren“ im öffentlichen Diskurs ab Mitte März bezieht der Aufruf der BAGSO (– Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen e.V.) an die Bundesländer – der Bundesregierung zur Kenntnis v. 26.05.2020 klare Position:

„Für die meisten Heimbewohnerinnen und Heimbewohner und ebenso für ihre Angehörigen ist diese Form des Kontakts nicht angemessen, für viele ist sie sogar verstörend. Vor allem für die große Zahl von Menschen mit Demenz sind Nähe und Berührung elementare Bedürfnisse. Für viele Bewohnerinnen und Bewohner übernehmen die Angehörigen zudem wichtige Aufgaben, etwa indem sie sich um eine ausreichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kümmern. Da dies in kaum einer Einrichtung durch einen Zuwachs von Personal kompensiert werden konnte, dürfte es in den vergangenen Wochen und Monaten zu einer Verschlechterung des Allgemeinbefinden vieler Bewohnerinnen und Bewohner gekommen sein, teilweise mit dramatischen Auswirkungen. ... Ausgangsbeschränkungen für Menschen, die in Heimen leben, aber hinreichend mobil sind, sind der mit Abstand schwerste Grundrechtseingriff seit Beginn der Corona-Epidemie in unserem Land.“ (Aufruf unter: Link )

Der Aufruf weist auch Auswege: „Ein Sterben in völliger Isolation ist ebenso entschieden zu vermeiden xq2 wie regelmäßige Aktivierungs- und Präventionsangebote: „Um einem körperlichen und geistigen Abbau entgegenzuwirken, müssen Maßnahmen der gesundheitlichen Prävention und der Gesundheitsförderung wieder durchgeführt werden. Das reicht von Bewegungsangeboten über therapeutische Anwendungen bis zu ärztlichen oder zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen.“

Deshalb sind die Vorschläge aus diesem Papier in Dresden rasch umzusetzen und dauerhaft zu sichern. Es bedarf auch hier 1. Klarer Vorgaben der Politik; 2. Bedarfsgerechtes Vorgehen; 3. Sicherstellung des Schutzes vor Infektionen.

Nötig sind in Dresden damit konkret:
- Schutz der professionellen und ehrenamtlichen Beschäftigten, BewohnerInnen und ihrer Angehörigen durch ausreichende Ausstattung mit Schutzbekleidung, Infektionsschutzmitteln etc.
- Sichern regelmäßiger Tests für alle Beteiligten, besonders und selbstverständlich im Verdachtsfall.
- Regelmäßige Abstimmung von Gesundheitsamt mit den Einrichtungsleitungen, Mitarbeitervertretungen und den Vertretern der Bewohnerschaft
- Sowie kontinuierliche Berichterstattung der federführenden Sozialbürgermeisterin gegenüber SeniorAkteuren, dem Stadtrat mit seinen Gremien und der regionalen Öffentlichkeit.

3) Verbesserung der medizinischen Versorgung älterer und pflegebedürftiger DresdnerInnen
Über das eben Skizzierte hinaus geht es um den schon aus Vor-Corona-Zeit bekannten und oft kritisierten Zustand im Gesundheitssystem mit- Fehl- und Übermedikation inkl. der Folgen von Antibiotikaresistenzen
- des Geschehens im Zusammenhang mit Krankenhauskeimen und einer dementsprechend hohen Sterblichkeit
- Unterschätzen der Krankenhaushygiene
- Fehlen einer unabhängigen Pflege- und Gesundheitsberatung in Dresden.

4) Sicherung der kollektiven Mitsprache und eigenverantwortlichen Mitgestaltung ihres Lebensalltags durch ältere, pflegebedürftige und behinderte Menschen in Dresden selbst!
Einige Beispiele dessen, was relativ einfach und rasch getan werden kann:
- Heimbeiräte und –fürsprecherInnen stärken,
- Einbinden bekanntermaßen aktiver SeniorInnen in Verwaltungshandeln, regelmäßige Konsultationen und Absprachen etwa in den FASA,
- Verpflichtende Freiwilligen- und Angehörigenkonzepte in allen Einrichtungen der privaten und freien Wohlfahrtspflege,
- Stärken zivilgesellschaftlicher Akteure aus der Senioren- und Behindertenselbsthilfe und – selbstvertretung (Empowerment).

Wer die pandemische Krise bewältigen und daraus möglicherweise erwachsenden Herausforderungen künftig präventiv begegnen will, muss die Teilhabe der Bevölkerung sichern. Das betrifft in Sonderheit auch sog. „Risikogruppen“, will man diese nicht entmündigen. Das ist unser zivilgesellschaftliches Credo!

Über Ihre Unterstützung bzw. Rückmeldung würden sich freuen:
Jürgen Dudeck, Sprecher des Runden Tisches dudeck.jgn(at)gmx.de
und Dr. Peter Müller, Mitglied des Behindertenbeirates Vorsitzender Sigus e.V. und Stellv. Vorsitzender des Seniorenbeirates Dresden sigus-dd(at)t-online.de

Anmerkungen:
1 Dr. Peter Müller, u.a. Vorsitzender von Sigus e.V. und stellv. Vorsitzender des Seniorenbeirates der LHD erarbeitete aus den in mehreren Arbeitsgruppen aufgezeigten Problemanzeigen den vorliegenden Entwurf. Während der Beratung zum R.T. wurden anhand konkreter Beispiele die vielen Betroffenen bekannten Probleme nochmals verdeutlicht und Lösungsvorschläge aufgezeigt. Diese wurden während der Diskussionsphase mit Fußnoten und Markierungen versehen.
2 xq In dem Fall wird es sich lt. Dr. Peter Müller um einen redaktionellen Fehler der BAGSO handeln. Gemeint könnte sein: „„Ein Sterben in völliger Isolation ist ebenso entschieden zu vermeiden wie das Fehlen regelmäßiger Aktivierungs- und Präventionsangebote: „
FASA = Fachplanungsgremium Seniorenarbeit und Altenhilfe

Quelle: Runder Tisch der Senioren, Vorruheständler + Behinderten der Stadt Dresden