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Seniorenbeirat Schifferstadt: Pflegewirklichkeit nachhaltig zum Positiven verändern

Foto: H.S.

12.05.2020 - von Bernd Wittig

Internationaler Tag der Pflege am 12. Mai 2020
Dieser Tag soll ein Anlass sein, den Menschen, die andere Menschen pflegen, zu danken.
Dieser Tag sollte auch ein Anlass sein, auf die konkrete Situation der Pflege in unserer Stadt zu schauen. Beifall für die neu entdeckten „Helden“ des Pflegealltags bewirken noch nichts.

Der Seniorenbeirat der Stadt Schifferstadt fand bisher noch wenig Gehör, als er die regelmäßige Würdigung der Pflegenden und die Lenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit auf die Pflegeproblematik zu richten empfahl. „Nichtzuständigkeit“, Ahnungslosigkeit im Umgang mit der Thematik, Ängste, Scham – viele Gründe, das Thema unter den Teppich zu kehren.

Aber die Aufgabe bleibt: Heute und in den kommenden Jahren die Pflegewirklichkeit nachhaltig zum Positiven verändern!

Professionell Pflegende und pflegende Angehörige brauchen bessere und nachhaltigere Unterstützung und es braucht dafür kommunal neu zu gestaltende Pflegenetzwerke.

Pflege ist, solange man nicht selbst betroffen ist, eher ein Geschehen im Verborgenen.

Sehr häufig ist die Sorge, eines unbekannten Tages selbst auf Pflege angewiesen zu sein, mit Ängsten besetzt. Ängste begünstigen die Verdrängung des „Problems“. So ist es schwer, demokratische Mehrheiten für eine neue Pflegepolitik zu gewinnen. Wenn man selbst der Pflege bedarf oder man in den harten Alltag als Pflegende/r eingebunden ist, dann bleibt für politisches Engagement wenig Raum, dann ist es häufig für „Interessenvertretung“ zu spät!

Aber auch in Schifferstadt fehlen „Pflegekräfte“, auch in Schifferstadt sind deren Arbeitsbedingungen für diese häufig eine Grenzbelastungssituation, auch in Schifferstadt fehlt es an Tages- und Kurzzeitpflegemöglichkeiten, auch in Schifferstadt reichen die besonders qualifizierten Angebote für dementiell Erkrankte nicht aus, auch in Schifferstadt kämpfen im Verborgenen überforderte Angehörige, auch in Schifferstadt fehlt bezahlbarer barrierefreier Wohnraum, auch in Schifferstadt ist häufig der Pflegealltag nur mit ausländischen Helfern in prekären Arbeitsverhältnissen zu bewältigen…

Jede/r kann schon seit Jahrzehnten wissen, dass es ernste Gründe gibt, sich um die Pflegebedingungen in Deutschland ernste Sorgen zu machen.

Jahrzehnte war die Ausbildung unterfinanziert. Häufig müssen und mussten diejenigen, die einen Pflegeberuf ausüben wollten, die Ausbildung selbst zahlen. Um die öffentliche Anerkennung des Berufes, um einen Umgang von „höheren“ medizinischen Berufen mit dem Pflegepersonal auf angemessener Augenhöhe ist es in Deutschland immer noch eher schlecht bestellt. Die Pflegewissenschaften haben es schwer, außerhalb der Profession gehört zu werden und der Berufsgruppe der Pflegenden fehlen breite Zugänge zur akademischen Ausbildung.

Die seelischen und körperlichen Belastungen, die unzureichende Anerkennung und Entlohnung der Pflegekräfte, die aus dem personelle Pflegenotstand resultierenden Anforderungen an Überstunden und Bereitschaftszeiten, die überbordenden Dokumentationspflichten und ein industriell getaktetes Pflegemanagement machen den Beruf wenig attraktiv, ja sie machen die darin Tätigen krank. Wer mit ethischen Ansprüchen den Pflegeberuf ergreift, befindet sich in ständigen – auch betriebswirtschaftlichen- Zwängen, Zuwendung leben zu können!

Aber dieser Blick auf die „professionelle“ Pflege verkürzt die Problematik unzulässig, denn „drei Viertel der Pflegebedürftigen und zwei Drittel der demenziell Erkrankten leben zu Hause… Millionen Menschen sind von der Situation der häuslichen Pflege betroffen.“ (1)

Häusliche Pflegende, das sind oft gleichaltrige Partnerinnen und Partner, das sind durch zusätzliche Erwerbstätigkeit geforderte Menschen, das sind Kinder, die selbst schon im Rentenalter sind, und es sind überwiegend illegal in den Haushalten Beschäftigte aus anderen Staaten sowie die sie alle unterstützenden MitarbeiterInnen ambulanter Pflegedienste und haushaltsnahe Dienstleister. Hinzu kommen Nachbarschaftshelfer, Seelsorger u.v.a. mehr.

Die Corona-Krise legt nun auf besondere Weise Versäumnisse und eklatante Schwächen offen.
Was nützen Pflegebetten und Beatmungsplätze, wenn es an Pflegepersonal und ausreichenden Präventionsmaßnahmen fehlt? Was kostet die Vermeidung einer Infektion durch präventiven Infektionsschutz mit geeigneten Mitteln im Vergleich zu den sozialen und wirtschaftlichen Folgekosten erfolgter Infektionen?

Was nützt die hohe Einsatzbereitschaft der Pflegenden, wenn es an Unterstützung und heute konkret an Schutzausrüstungen, an Atemschutzmasken, die tatsächlich vor Viren schützen, an ausreichenden Tests der zu Pflegenden, der Pfleger und der beteiligten Angehörigen fehlt?

Ist es nicht ein Zeichen von landes- und bundespolitischem Versagen, wenn es trotz Pandemievorhersagen (2) und Handlungsanleitungen für den Pandemiefall (3) an den notwendigen Hilfs- und Schutzmitteln, an Aufklärungsarbeit, an Schulung zum Umgang mit Viren, mit Pandemien fehlt? Der Appell an die „Eigenverantwortung“ des Bürgers in der Pandemie ist kein Ersatz für ausreichende Aufklärung, für eindeutiges staatliches Handeln und die Bereitstellung des dafür nötigen Personals und Materials.

Ist es nicht ein deutliches Zeichen von strukturellen Mängeln, wenn eine privatisierte profitorientierte Gesundheits- und Pflegewirtschaft seit Jahrzehnten gefördert wurde, die sich „Vorsorge“ und Mitmenschlichkeit nicht leisten kann?

Sind die an COVID 19 erkrankten Ärzte, Krankenschwestern, Rettungsdienste, professionellen Pflegekräfte und sonstige in diesen Bereichen Beschäftigte, sind die bisher 756 Infizierten und die 47 Verstorbenen (4) dieser und ähnlicher Tätigkeitsgruppen nicht ein deutliches Zeichen der entsolidarisierenden Arbeits- und Lebensbedingungen? Viele von ihnen sehen sich zu Recht als Kanonenfutter an der Pandemiefront.

Wie sollen die mit der Pflegetätigkeit betrauten Menschen die ihnen anvertrauten Menschen schützen? Wie sollen die Pflegebedürftigen vor Maßnahmen der sozialen Isolation bewahrt werden, ohne sie mehr als den unvermeidlichen Risiken auszusetzen?

Es ist zu einfach gedacht, wenn die Landesregierung am 06.05.2020 eine ab dem Folgetag geltende Verordnung (5) kreiert, wenn man sich nicht mit Pflegekräften, den Pflegeeinrichtungen, den Angehörigen und den zu Pflegenden hinreichend berät. Denn wäre dies geschehen, hätte man gemeinsame Vorbereitungsarbeiten und Übergangsregelungen zum Beispiel für die Durchführung von Angehörigenbesuchen erarbeiten müssen.

Was Mund-Nasen-Bedeckungen (ein neu geschaffener Begriff für den selbst gehäkelten „Mund-Nasen-Schmuck“) und Mund-Nasen-Schutz mit Maßnahmen gegen die Infektionsgefahr durch die Virenlast in Aerosolen zu tun haben soll, bleibt jedem naturwissenschaftlichen Zugang verborgen und wird leider zukünftig die Gerichte und die Berufsgenossenschaften beschäftigen müssen.

Aber, so heißt es: Die Altenheimbewohner müssen eben selbst entscheiden, welches Risiko sie für die Lebensfreude, ihre Angehörigen sehen zu dürfen, tragen wollen.

Von verpflichtenden Tests für Pflegekräfte, deren Haushaltsangehörigen, für Angehörige der zu Pflegenden – Fehlanzeige!

Diese „Lockerungsübungen“ werden von mir als populistisch und unrealistisch wahrgenommen.

Nehmen wir an:

100 Heimbewohner wollen täglich eine Stunde in einem separaten Raum, zudem sie vielleicht begleitet werden müssen, ihre Angehörigen sprechen. Sie sollen es dabei emotional schaffen, sich körperlich nicht unter 1,50 m nahe zu kommen und auf dem Weg der Besucher zum Angehörigen im Heim soll eine Begegnung mit anderen Menschen mit einem Abstand unter 1,50 m ausgeschlossen sein. Haben wir dafür Personal, geeignete Räume, hinreichende Schulung usw.?

Lockerungserlässe: Vom ernsthaften Schutz der sich besuchenden Menschen ist keine Rede. Dafür fehlen die Schutzmittel, dafür fehlt es häufig auch an Einsicht und an handhabbarem Wissen der Beteiligten. Hygienekonzepte ohne diese Voraussetzungen überfordern Heime und Angehörige! Hier läuft der nun zu hörende Appell an die Eigenverantwortung ins Leere.

So vorgegangen werden die Heimbewohner, die Pflegekräfte und die Angehörigen gefährdet. Wenn eine Infektion stattfindet, die zu einem schweren Krankheitsverlauf führt, lässt sich leicht vorstellen, welche Seelenqualen die daran Beteiligten erleiden. „Ich habe meinen Angehörigen verletzt… Seinen Tod habe ich verursacht….“

Hier werden morgen traumatisierte Angehörige und Pflegekräfte fahrlässig in Kauf genommen.

In der Corona-Krise, die die Pflegekrise schonungslos offenlegt, braucht es eine sachkundige, verantwortlich und initiativ handelnde Bürokratie. Die Rat Suchenden benötigen vor allem widerspruchsfreie, übereinstimmende Aussagen. Dringend ist ein verständliches und abgestimmtes einheitliches Handeln staatlicher Stellen im Land zu gewährleisten. Die Pflegemitarbeiter, die Angehörigen und wo möglich die zu Pflegenden sind zu hören. Die Pflegekammer muss verbindlich gehört werden und sobald möglich müssen die Pflegekonferenzen sich den konkreten Herausforderungen in den Landkreisen und Städten stellen. Für die Zeit nach der Krise muss endlich den Kommunen altenpolitische Verantwortung und Ressourcen zugewiesen werden, wie es der 7. Altenbericht bisher folgenlos von der Bundesregierung und dem Gesetzgeber forderte.

Es ist an der Zeit, dass die Senioren und ihre Beiräte gehört werden, sie medial selbst zu Wort kommen und ihr Wort zu konkreten Handlungen führt. (6)

Bernd Wittich
Vorsitzender des Seniorenbeirates Schifferstadt 08.05.2020


(1) BAGSO (Hrsg.): Pflegende Angehörige in der Corona-Situation besser unterstützen! Dringende Empfehlungen der BAGSO an die Politik. Bonn, 4.5. 2020 Link

(2) Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“. In: Unterrichtung durch die Bundesregierung. Bericht zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012. Link

(3) Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe / Robert Koch Institut: Biologische Gefahren I. Handbuch zum Bevölkerungsschutz. Berlin 2007

(4) Robert-Koch-Institut (Hrsg.): Täglicher Lagebericht des RKI zur Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19). 06.05.2019. Aktualisierter Stand für Deutschland. Berlin 2020, S. 6

(5) Landesverordnung über Neu- und Wiederaufnahmen volljähriger pflegebedürftiger Menschen in Einrichtungen nach den §§ 4 und 5 des Landesgesetzes über Wohnformen und Teilhabe zur Verhinderung der weiteren Ausbreitung des Coronavirus. Mainz, 06.05.2020
Link

(6) Öffentliche Kommunikation und Berichterstattung zu „Corona & Alter“. Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Gerontologie und Geriatrie (DGGG), Sektion III (Sozial- und Verhaltenswissenschaftliche Gerontologie) (Stand 1. April 2020) Link

Quelle: Seniorenbeirat Schifferstadt