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Soziale Isolation von Menschen in Pflegeheimen beenden! Dringende Empfehlungen der BAGSO an die Politik

Foto: H.S.

28.04.2020 - von BAGSO

Die Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 in Deutschland seit Anfang März 2020 und die damit verbundenen Risiken für den Einzelnen und das Gesundheitssystem haben Bund und Länder veranlasst, eine Vielzahl von Freiheitseinschränkungen zu verfügen, was von einer großen Mehrheit der Bevölkerung begrüßt und mitgetragen wurde.

Besonders schutzbedürftig waren und sind – aufgrund ihres vielfach sehr hohen Alters und einer damit häufig einhergehenden Multimorbidität – Menschen, die in Pflegeheimen leben. In einzelnen Fällen kam es zu Ausbreitungen des Coronavirus innerhalb von Einrichtungen mit einer großen Zahl an Sterbefällen. Ein wichtiger Grund für die schnelle Ausbreitung innerhalb der Einrichtung dürfte sein, dass Schutzkleidung für das Personal von Beginn an Mangelware war.1Vgl. Link

Zum Schutz vor solchen Infektionsketten und ihren verheerenden Folgen wurden deshalb in allen Bundesländern Besuchsverbote bzw. Besuchsbeschränkungen verhängt, zum Teil auch Ausgangssperren für Bewohnerinnen und Bewohner. Die Regelungen sind sehr unterschiedlich.

So lassen Berlin und Thü-ringen Besuche von Angehörigen in einem begrenzten Rahmen zu, in Rheinland-Pfalz haben zumindest Ehe- und Lebenspartner sowie rechtliche Betreuer und Bevollmächtigte zeitlich eingeschränkten Zugang.

In allen anderen Ländern sind die Besuchsverbote umfassend, Ausnahmeregelungen beziehen sich meist nur auf Menschen in der Sterbephase. Selbst dies wird teilweise in das Ermessen der Einrichtungen gestellt, so dass in nicht wenigen Fällen auch eine Sterbebegleitung durch engste Angehörige verwehrt wurde.

In 13 Bundesländern wird seit nunmehr sechs Wochen engsten Familienmitgliedern der persönliche Kontakt untersagt, in Nordrhein-Westfalen ist dieses Kontaktverbot sogar mit einem Bußgeld bewehrt.

Auch der Kontakt der Bewohnerinnen und Bewohner untereinander wurde eingechränkt und zum Teil über längere Zeit vollständig verwehrt; Bewohnerinnen und Bewohner wurden zum Teil angehalten, den ganzen Tag auf ihren Zimmern zu bleiben und dort auch ihre Mahlzeiten einzunehmen. Bewegungs- und andere Therapieangebote wurden zum Teil auf Null zurückgefahren.

Positiv hervorzuheben ist, dass sich nach unserem Eindruck viele Einrichtungen, zum Teil gemeinsam mit externen Akteuren, in vorbildlicher Weise bemüht haben, einen Ausgleich für die fehlenden persönlichen Kontakte zu organisieren – von der vorübergehenden Beschäftigung von Bundes-ehrsoldaten als „Zivis auf Zeit“ über die Organisation von Videotelefonie, Balkon-esprächen, Postkartenaktionen oder Hofkonzerten bis hin zur Einrichtung eines „Abschiedsraumes“ in Eingangsnähe, um eine würdige Begleitung Sterbender zu er-möglichen.

Dieses Engagement von Einzelnen ändert aber nichts daran, dass die Regelungen, die hier von den Bundesländern getroffen wurden und werden, mit Abstand die schwersten Grundrechtseingriffe in der gesamten Corona-Situation darstellen. Betroffen sind die Freiheitsrechte nach 2Die durchschnittliche Verweildauer im Pflegeheim liegt je nach Statistik zwischen anderthalb und zwei Jahren. –

Nach dem BARMER-Pflegereport 2019 sind von den Zugangskohorten 2011 bis 2017 nach einem Jahr noch 54,3 bis 58,3 Prozent der Bewohnerinnen und Bewohner, nach zwei Jahren noch 40,4 bis 43,7 Prozent und nach vier Jahren noch 22,6 bis 24,5 Prozent im Heim (vgl. S. 71). Link

BIVA-Pflegeschutzbund, der viele hundert persönliche Schilderungen aufgenommen hat, hat nun eine Unterschriftenaktion gestartet, die sich an die zuständigen Landesministerien wendet: Link

Art. 2 GG, der Schutz von Ehe und Familie gem. Art. 6 GG, sowie – ganz besonders mit Blick auf die Möglichkeit der Begleitung Sterbender – die Menschenwürde nach Art. 1 GG. In Fachkreisen ist zudem unbestritten, dass die ergriffenen Maßnahmen, die das Leben der Menschen schützen sollen, zu-gleich eine erhebliche gesundheitliche Gefahr für viele Bewohnerinnen und Bewohner darstellen. Sie bauen körperlich sehr schnell ab, weil ihre Angehörigen häufig Teil des Pflegesettings sind (sich z.B. um eine aus-reichende Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme kümmern) oder weil sie sich nicht mehr ausreichend bewegen.

Und das erzwungene Alleinsein ist für viele Bewohne-rinnen und Bewohner schwer erträglich bis hin zur klinischen Depression. Hier gilt es, die eine Gesundheitsgefahr sorgfältig gegen die andere Gesundheitsgefahr abzuwägen. Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Menschen, wenn sie ins Pflegeheim kom-men, im Schnitt eine verbleibende Lebenserwartung von nur zwei Jahren haben.2Die von unseren Mitgliedsverbänden gesammelten zahlreichen Schilderungen von Angehörigen machen die verzweifelte Lage der Betroffenen deutlich. Auch die BAGSO erhält zahlreiche Zuschriften, alle mit demselben Tenor, den ein 92-Jähriger so formulierte: „Man hat uns vergessen.“

Quelle: BAGSO, PM 28.4.2020