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Essener Seniorenresidenz: Offener Brief an Armin Laschet

Foto: H.S.

26.04.2020 - von Dr. Heike Jacobsen

Wenn Pflegeheime zur tödlichen Falle werden. WELT am SONNTAG, 26.4.2020: Link

Schutzhaft in Pflegeheimen? Die "Neue Normalität"? Angefragte Institutionen schweigen.
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Sehr geehrter Herr Ministerpräsident Laschet,
entschuldigen Sie bitte diese lange Mail, in der ich mich heute an Sie wende.
Meine Mutter lebt seit 5 Jahren in einer Essener Seniorenresidenz, in der es einen Appartement- und einen Pflegebereich gibt. Sie ist auf eigenen Entschluss und im Einvernehmen mit mir dort direkt auf der Pflegestation eingezogen, da sie mit Pflegegrad 3, jetzt 4 nach drei Darmoperationen inkontinent, medizinisch pflegebedürftig und auf den Rollstuhl angewiesen ist.

Ansonsten erfreut sie sich mit 87 Jahren als ehemalige verbeamtete und sehr beliebte Grundschullehrerin großer geistiger Klarheit. Ich bin ihre einzige Tochter und habe sämtliche Betreuungsvollmachten. Seit ihrer Aufnahme in das Haus habe ich sie dort so gut wie jeden Tag besucht, mit meiner Energie wiederaufgebaut und bei schönem Wetter im Rollstuhl spazieren gefahren, außerdem für alle Bewohner des Hauses regelmäßig Lesungen mit Klaviermusik veranstaltet.

Ich würde meine Mutter oder andere Bewohner und Mitarbeiter niemals gefährden, daher habe ich seit Februar freiwillig sämtliche Kontakte reduziert, verlasse das Haus nur mit medizinischem Mundschutz und kontrolliere jeden Morgen meine Temperatur. Ich arbeite als selbstständige Autorin nur im Dialog und von zu Hause aus und schreibe biografische Porträts und Porträtbücher, um die Lebensleistung von Menschen jeden Alters zu würdigen. Meine eigene Vereinsamung kann ich verkraften.

Die natürlich notwendigen Schutz-Maßnahmen, die zurzeit in Pflegeheimen getroffen werden, entsprechen allerdings nicht dem Gebot der Menschenwürde und auch nicht den von Bund und Ländern getroffenen und seit dem 20.4. gültigen Beschlüssen, nach denen unter Verstärkung der Hygienemaßnahmen weitere soziale Isolation verhindert werden soll.

Besuche werden seit Wochen nicht erlaubt, die neue Lockerung, dass Bewohner das Haus verlassen dürfen, wird nicht umgesetzt. Und wenn, würde hier im selben Haus zuerst ein diskriminierender Unterschied zwischen den Bewohnern der Appartements, die noch laufen können, und den Bewohnern des Pflegebereichs, die im Rollstuhl sitzen und nicht alleine das Haus verlassen können, gemacht.

Eine Kontaktperson aus der engsten Familie außerhalb der Einrichtung zu treffen ist laut Beschluss möglich, wird aber nicht umgesetzt. Stattdessen dürfte möglicherweise nur ein anderer Bewohner, der selbst geschwächt ist, oder ein Mitarbeiter, dem dafür die Kapazitäten fehlen, den Rollstuhl meiner Mutter nach draußen bewegen? Auch das ist so nicht machbar und wird natürlich nicht umgesetzt. Eine Zusammenführung draußen wäre demnach schon gar nicht erlaubt.

Wenn ich mit meiner Mutter einen Rollstuhl-Spaziergang machen wollte, müsste sie anschließend für 14 Tage in Zimmerquarantäne. Das bringt sie gerade morgen hinter sich, weil sie aufgrund von Pflegefehlern in die Augenambulanz musste – eine Quälerei. Können Sie sich vorstellen, 14 Tage lang auf einem Stuhl in Ihrem Schlafzimmer zu sitzen?

Leider wird auf der Pflegestation zurzeit diese für die Kriegsgeneration re-traumatisierende Zumutung – alleine im Zimmer zu bleiben – sogar als Dauerlösung auf unbestimmte Zeit installiert, wie ich gerade erfahren musste! Nicht jeder Pflegebedürftige kann mit einem Handy, Smartphone oder Tablet umgehen, und auch das ersetzt keinen persönlichen Kontakt zu engsten Familienmitgliedern.

Auch eine Fahrt im Aufzug zum Dachgarten im Haus, um etwas Frühlingsluft und ein paar blühende Bäume zu erleben, wird den Bewohnern der Pflegeabteilung nicht ermöglicht, um im Haus alle Bewohner voneinander zu isolieren. Mir wurde soeben mitgeteilt, dass ich froh sein solle, wenn man so unsere liebsten Familienmitglieder am Leben erhalte.

Sehr geehrter Herr Laschet, ich weiß nicht, ob Ihre Eltern noch leben – meine Mutter, und sicher nicht nur sie - empfindet die Aussicht, mich auf unbestimmte Zeit nicht mehr wiederzusehen, nicht als lebenswert.

In Berlin oder Sachsen z.B. gilt, dass Besuche in Pflegeheimen durch eine nahestehende Person für eine Stunde erlaubt sind. Warum ist das in NRW nicht möglich? Zusätzlich zu den Maßnahmen von Händedesinfektion, Mundschutz für alle und der Möglichkeit der Kontaktnachverfolgung durch die vom RKI vorbereiteten Listen im Eingangsbereich schlage ich vor, am Eingang kontaktlos Fieber messen zu lassen.

Die Bundeskanzlerin hat gestern in ihrer Pressekonferenz betont, dass man die Älteren nicht wegsperren wolle, das entspreche nicht ihrem oder unserem Menschenbild, genau das passiert aber.

Ich appelliere an Sie: Bitte bessern Sie dringend nach in puncto der stationären Pflegeheime oder -stationen in Altenheimen und der impliziten Ungleichbehandlung von Behinderten bzw. Rollstuhlfahrern.

Ich bedanke mich ganz herzlich für Ihre Kenntnisnahme unserer Not und hoffe auf gleichermaßen verantwortungsbewusste wie umsichtige und menschlichkeitsrelevante Nachbesserungen durchzuführender Beschlüsse durch Sie und alle beteiligten Entscheidungsträger.

Herzlich, Dr. Heike Jacobsen, in Absprache mit Roswitha Jacobsen

Link: Zustände im Pflegeheim: Würde Herr Laschet das seiner Mutter zumuten ?
Quelle: Mail an die Redaktion