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Corona & Alter: Öffentliche Kommunikation und Berichterstattung

Foto: H.S.

01.04.2020 - von Prof.Dr. Eva-Marie Kessler + Prof. Dr. Paul Gellert

Gerontolog*innen tragen in diesen Tagen eine besondere Verantwortung dabei zu helfen, dass alte und sehr alte Menschen und damitdie gesamte Gesellschaft die aktuelle Krise möglichst wohlbehalten bewältigen. Die Gerontologie hat sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich dafür eingesetzt, die Pluralität des Alters in der öffentlichen Diskussion und in den Köpfen der Menschen zu verankern.

Wir sehen in der aktuellen Situation die große Gefahr eines Rückschritts. Dieser könnte darin bestehen, dass sich einseitig-negative Einstellungen gegenüber älteren Menschen verstärken und sich diskriminierende Praktiken einstellen, die ältere Menschen benachteiligen und für die gesamte Gesellschaft erhebliche negative Folgen haben. So ist derzeit zu beobachten, dass ältere Menschen vornehmlich als zu Beschützende und Schwache in der Gesellschaft repräsentiert werden.

Gleichzeitig mangelt es an einer notwendigen Diskussion über eine gesamtgesellschaftliche Solidarität. Es entsteht das Bild von älteren Menschen als Mitglieder der Gesellschaft, die in Bezug auf die Coronapandemie ohne Handlungsspielräume und ohne Stimme (ohne ‚Agency‘) sind. Wir befürchten, dass sich dadurch die derzeit sehr herausfordernde Lebenssituation zusätzlich verschlechtert. Der Vorstand der Sektion III der DGGG hat Empfehlungen entwickelt, um eine öffentliche Kommunikation zu `Alter und Corona` anzuregen, die Altersdiskriminierung entgegenwirkt und effektive politische Maßnahmen und Programme zum Wohl aller Generationen ermöglicht.

Diese Empfehlungen werden im Laufe der nächsten Wochen angepasst an die Entwicklungen weiter ausgearbeitet werden.

1. Derzeit wird primär über ältere Menschen gesprochen. Ältere Menschen müssen aber selbst die Möglichkeit erhalten, in der öffentlichen Kommunikation ihre subjektive Sicht auf die aktuelle Situation zu kommunizieren. Ältere Menschen müssen eine Stimme erhalten, und sie müssen auch selbst als aktive, entscheidungs- und handlungsfähige Individuen angesprochen werden.

2. Eine Form der Berichterstattung über die Coronapandemie, welchem die Logik WIR (Jungen, Gesunden) versus SIE (Alten, Kranken) zugrunde liegt, löst Ängste, Argwohn, Ressentiments und Vorurteile aus und kann Feindseligkeit auf allen Seiten befördern. Es soll eine inklusive Sprache verwendet werden, welche das Gemeinwohl, die Verantwortung füreinander und ein Wir-alle-zusammen in den Mittelpunkt stellt. Es muss eine Sprache gefunden werden, die Menschen aller Altersgruppen dazu anregt, sich selbstbestimmt zu einer gemeinsamen Krisenbewältigung zu entscheiden.

3. In diesem Zusammenhang sollte auch stets geprüft und hinterfragt werden, inwiefern die Angabe des chronologischen Alters (etwa „5.000M enschen sind bisher gestorben, wobei es sich in 85 Prozent der Fälle um über 80jährige handelte“) tatsächlich für den spezifischen Kommunikationskontext relevant ist. Es besteht nicht nur die Gefahr, dass implizit die Botschaft vermittelt wird, dass jüngere Menschen `sicher` wären, sondern auch, dass Krankheit und Tod im Falle älterer Menschen (aufgrund ihres hohen Lebensalters) weniger gravierend wären.

4. Zu einer inklusiven Kommunikation gehört auch, eine paternalistische Ansprache gegenüber älteren Menschen zu vermeiden („Was Alte und Kranke jetzt nicht tun sollen...“). Problematisch ist, wenn `von oben herab` Einschränkungen und Verbote kommuniziert werden, die zudem für die Altersgruppe freiheitsbeschränkender und länger ausfallen als für andere Altersgruppen. Corona-Maßnahmen gelten unabhängig von Merkmalen der Person, und sind auch entsprechend als gemeingültig zu kommunizieren.

5. Die Begriffe ‚älter‘ und ‚vulnerabel‘ sollten nach Möglichkeit vermieden werden. Personen identifizieren sich häufig nicht mit diesen negativ konnotierten Eigenschaften, sondern schreiben sie vielmehr anderen zu. Für eine verständliche und zielgruppengerechte Kommunikation günstiger sind konkrete Spezifizierungen: Menschen im höheren Lebensalter (65 plus); Menschen mit chronischen und Mehrfacherkrankungen (Herzkreislauferkrankungen, Diabetes etc.) aufweisen; Menschen mit Pflegebedarf usw.

6. Gerade in komplexen, bedrohlichen Situationen wie der Coronakrise haben Werte eine stark motivationale und Orientierung stiftende Wirkung. Es sollte eine Sprache gefunden werden, die das in der Gesellschaft und in Individuen tief verankerte Gerechtigkeitsideal in den Mittelpunkt stellt (etwa „Für alle Menschen muss –unabhängig von ihrer Person –sichergestellt werden, dass sie diejenigen Versorgungsleistungen erhalten, die sie jetzt benötigen.“) Als Kompass für Entscheidungen und Handlungen, die auf ausgeglichene Interessen ohne Benachteiligung von Einzelnen oder Gruppen abzielen, kann dadurch zugleich Altersdiskriminierung entgegengewirkt werden.

7. Gleichzeitig muss die Botschaft der Aufopferung Jüngerer für Ältere vermieden werden (indem Jüngere ihre Interessen zurückstellen müssen, sich für ältere Menschen in Gefahr bringen etc.). Dieses Retter-versus Opfer Narrativ verstärkt Grenzen und Differenzen zwischen den Generationen. Bei älteren Menschen können sie ein reduziertes Selbstwertgefühl sowie Schuldgefühle auslösen, bei jüngeren Menschen Frustration und Ressentiments. Auch hier gilt wieder, dass eine Sprache gefunden wird, die die Verantwortung füreinander in den Mittelpunkt stellt.

8. Berichte, die ausschließlich Fehlverhalten oder gar Versagen von Öffentlichkeit, Behörden, Einrichtungen der Versorgung und Pflege etc.thematisieren, verstärken in problematischer Weise das Altersbild des alten, wehrlosen Opfers. Die dringend notwendige öffentliche Berichterstattung über‚Missstände‘ muss stets mit der Formulierung konkreter Ansatzpunkte und Forderungen verbunden werden, was die jeweiligen Institutionen und Einzelne tun können, um die Situation zu verbessern.

9. In der Kommunikation sollten ältere Menschen nicht nur als passive, wehrlose Opfer der Coronapandemie dargestellt werden, die nun zwangsläufig zu Einsamkeit und Depression ‚verdammt‘ sind. Ohne Zweifel ist das Risiko psychischer Belastung in der Altenbevölkerung in Folge der aktuellen Situation erheblich erhöht. Es ist dringend erforderlich, dass entsprechende Präventions-und Interventionsmaßnahmen zur Förderung der psychischen Gesundheit durch die verantwortlichen Institutionen entwickelt und umgesetzt werden. Gleichzeitig müssen in den Medien auch die psychologischen Potentiale älterer Menschen im Umgang mit Corona in Erscheinung treten. Die Mehrheit älterer Menschen verfügt nachweislich über gut ausgeprägte Strategien im Umgang mit widrigen Umständen und Verlusten.

10. Dem einseitigen Opfer-Narrativ entgegen wirkt eine öffentliche Berichterstattung über die vielen Initiativen,in denen sich ältere Menschen derzeit im Rahmen von freiwilligem Engagement für das Gemeinwohl engagieren. Dazu gehören pensionierte Ärzt*innen, und darüber hinaus eine große Anzahl älterer Menschen, die sich in vielfältiger Weise in Familien, der Nachbarschaft und Vereinen engagieren.

11. Im Zusammenhang mit Empfehlungen für Bewältigungsverhalten der aktuellen Situation sollten individuelle Unterschiede in den vorhandenen Ressourcen, Bedürfnissen und Präferenzen berücksichtigt werden. Kommunikation über Videotelefonie und Soziale Medien ist für viele ältere Menschen eine gewünschte und realistische Option. Allerdings sollte ein überzeichnetes Bild technikaffiner, ‚moderner‘ Senioren, die Kontakte nun problemlos per Skype etc. pflegen, vermieden werden. Eine homogene, ‚positiv‘ verzerrte Darstellung älterer Menschen in diesem Zusammenhang kann zu Frustration und Ablehnung führen und die ohnehin bestehende digitale Spaltung noch verstärken.

Berlin, 1.April 2020
Prof.Dr. Eva-Marie Kessler (Vorsitzende des Vorstandes der Sektion III) Prof. Dr. Paul Gellert (Mitglied des Vorstandes der Sektion III)

Quelle: Deutsche Gesellschaft für Gerontologie und Geriatie e.V.