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Augsburg: Rationalitäten des Lebensendes - Sterbekulturen in Vergangenheit + Gegenwart

07.03.2019

Seit der Jahrhundertwende boomt die Thanatologie, die interdisziplinäre Erforschung von Tod und Sterben, auch in Deutschland. Analog dazu lässt sich auch ein immer stärkerer Ausbau von Hospizversorgung und Palliativmedizin feststellen, die sich im Laufe der letzten beiden Dekaden
fest im Gesundheitssystem etabliert haben. Wissenschaftliche Analyse und gesellschaftliche Entwicklung gehen offenkundig Hand in Hand. Dies hat nicht zuletzt dazu geführt, dass die Forschung Kampfbegriffe wie „Institutionalisierung“, „Kommerzialisierung“ oder „Mechanisierung“ des Lebensendes oft unkritisch übernimmt. Ein Hauptanliegen des 1. Augsburger Nachwuchsworkshop zur interdisziplinären Gesundheitsforschung ist es, Perspektivendifferenz in einem interdisziplinären Sinne ernst zu nehmen.

Der Workshop möchte NachwuchswissenschaftlerInnen aus ganz Deutschland und aus unterschiedlichen Disziplinen (u.a. Soziologie, Ethnologie, Theologie, Kultur-, Geschichts- und Rechtswissenschaften, Medizin) zusammenbringen, die zu Fragen des Lebensendes forschen. Von zentraler Bedeutung ist dabei erstens ein Bezug der Themenvorschläge zu Fragen der Gesundheit, Medizin und Hygiene. Zweitens sollen diese neuere methodische und epistemologische Ansätze in der Thanatologie widerspiegeln. Mögliche Leitfragen umfassen u.a.: Wie veränderten sich gesellschaftliche, ethische und medizinische Problemstellungen im Bereich des Lebensendes im 20. und 21. Jahrhundert?
Welche neuen Antworten wurden und werden dabei von welchen AkteurInnen und mit welchen Interessen entwickelt? Und wie bedeutsam sind ökonomische Fragen, soziale Ungleichheiten, mediale Repräsentationen und kulturelle Aspekte für Sterbensverläufe? Diesen Fragen soll entlang von drei analytischen Achsen nachgespürt werden, die einen breiten Blick auf die heutige Sterbekultur in Deutschland ermöglichen:

1.) SELBSTverantwortung? Biopolitisch-gouvernementale Perspektiven auf das Lebensende
Selbstbestimmung hat sich im Laufe der letzten vier Jahrzehnte zu dem zentralen Merkmal eines „guten“ Sterbens entwickelt. Ein derartiges Ideal stellt vielfältige Verhaltens-, Repräsentations- und Kommunikations-anforderungen an Sterbende. Das Lebensende entspricht heute einem Zeitgeist, dessen Ideal das „Unternehmerische Selbst“ ist. Mit der biopolitisch-gouvernementalen Konzeption der Selbstbestimmung als Selbstverantwortung geht die (moralische) Verpflichtung einher, Selbstbestimmung auch auszuüben, aktiv am Gelingen der eigenen Lebens- und Sterbensgeschichte mitzuwirken.

Auf dem Workshop soll daher analysiert werden, wie gouvernementales Regieren Zuständigkeiten verlagert, Rahmenbedingungen schafft und Materialisierungen – wie beispielsweise Gesetze oder Vorsorgedokumente – bedingt, die es dem „selbstbestimmten“ Subjekt erlauben bzw.
es dazu anhalten, das eigene Lebenskonzept auch beim Sterben zu verwirklichen. Welche Anreizsysteme, etwa Expertenwissen und mediale Verhandlungen, unterstützen Sterbende dabei, richtige Entscheidungen (vernünftig, selbstbestimmt, verantwortlich) zu treffen, damit das eigene
Sterben gelingen kann? Welche Folgen hat dies für individuelle Sterbeverläufe und gesellschaftliche Sterbewelten? Und in welchen größeren gesellschaftlichen Rahmen lässt sich diese Entwicklung einer zunehmenden „Versicherheitlichung“ einordnen?

2.) „Care“ am Lebensende
Der Care-Begriff ist in Bezug auf das Lebensende sehr facettenreich – er berührt unter anderem Hospizarbeit, Palliativversorgung, Totenfürsorge und Trauerbegleitung. Dabei sprengt der Begriff alte Dichotomien von Privatheit versus Öffentlichkeit sowie von bezahlter versus unbezahlter Arbeit und ist eng verwoben mit wohlfahrtsstaatlichen Modellen und Krisen. Den historischen
Ausgangspunkt der Debatten um die „Sorge“ am Lebensende bildete eine technisch orientierte Medizin, der vorgeworfen wurde, Sterbende und Verstorbene auszugrenzen. Das Ziel der sich in den letzten Jahren intensivierenden Bemühungen im Care-Bereich dagegen ist es, den Umgang mit Sterben, Tod und Trauer zu „humanisieren“. Kritiker dieser Entwicklung monieren jedoch, dass durch Prozesse der Professionalisierung Sterben und Tod inzwischen nicht mehr einfach nur passieren dürften, um dann begleitet zu werden. Das Lebensende habe sich zu einer Planungsaufgabe – von Einzelnen, Institutionen und der Gesellschaft – entwickelt, die sich nur schwer bewältigen lässt. Auf dem Workshop wollen wir das Spannungsfeld zwischen Vorsorge sowie Unter- und Überversorgung analysieren und prüfen, wie sich die jüngsten Entwicklungen auf die Care-Praxen rund um Sterben und Tod auswirken.

3.) Optionssteigerung am Lebensende
Der moderne Mensch bewegt sich täglich in Bereichen, die nach eigenen Regeln funktionieren. Immer finden hier gesellschaftliche Logiken spezifische Optionen, über die sie sich zur Anwendung bringen können. Diese kennen keine Selbstbeschränkungen und dehnen sich auf immer mehr Lebensbereiche aus, sodass ökonomische, wissenschaftliche, medizinische, rechtliche oder technische Optionssteigerungen bis in das Lebensende hineinwirken. Selbst diese letzte Lebensphase wird von einem immer dichter werdenden Netz gesellschaftlicher Logiken überzogen, die Sterben und Tod als ihr Ressort entdeckt haben und es in ihrem Sinne zu optimieren versuchen. Darauf aufbauend soll das Lebensende als freies Spielfeld für Optionssteigerungen unterschiedlichster Art analysiert werden. Das Interesse richtet sich darauf, wie aus unterschiedlichen Perspektiven das „gute Sterben“ entworfen wird: PalliativmedizinerInnen nehmen das Lebensende vorrangig medizinisch ins Visier, während Patientenverfügung und Advance Care Planning es rechtlich codieren. Technische Entwicklungen erweitern die Behandlungs- und Mobilitätsmöglichkeiten Sterbender. Auch ökonomische Semantiken prägen zunehmend Wahrnehmungen und Praktiken am Lebensende. Welche Folgen hatte diese Entwicklung für Sterbende, Betreuende und Gesellschaft? Und welche neuen ethischen, sozialen, rechtlichen und medizinischen Herausforderungen ergeben sich dadurch in der heutigen Sterbekultur?

1. Augsburger Nachwuchsworkshop zur interdisziplinären Gesundheitsforschung: "Rationalitäten des Lebensendes. Sterbekulturen in Vergangenheit und Gegenwart". 07.03.-08.03.2019
Ort: Sigma Park Gebäude 10, Eingang D im 4. Stock, Raum 4013, Werner-von-Siemens-Str. 6 86159 Augsburg
Veranstalter: Zentrum für Interdisziplinäre Gesundheitsforschung (ZIG) der Universität Augsburg,
Organisation: Anna Bauer, M.A.; Dr. Florian Greiner; Sabine Krauss, M.A.; Marlene Lippok, M.A.; Dr. Sarah Peuten


Das 2014 gegründete ZIG ist eine zentrale wissenschaftliche Einrichtung der Universität Augsburg. Gemeinsam mit Kooperationspartnern außerhalb der Universität arbeiten die Forscherinnen und Forscher des Zentrums an zentralen Fragen zu Gesundheit und Krankheit, zur Medizin und zum
Gesundheitssystem. Es wird eine Publikation ausgewählter Beiträge in der Buchreihe Gesundheitsforschung. Interdisziplinäre Perspektiven (G.IP) angestrebt.