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Jahreswechsel 1987/1988 in Karlovy Vary

31.12.2017 - von Hanne Schweitzer

Besuche auf den Zimmern: verboten. Der Aufzug darf ab 22 Uhr nicht mehr benutzt werden. Der Fernseher auch nicht. Schilder mit solchen Aufschriften erwarten Reisende allenfalls in einer hinterwäldlerischen Jugendherberge, aber nicht in einem Hotel. Doch das ´Hotel Krivan` in Karlovy Vary, dem früheren Karlsbad, überrascht noch mit anderen Merkwürdigkeiten. So haben die Speisen nicht mal Kantinenniveau und das Rührei, das zum Frühstück bestellt werden kann, hat nicht einmal das. Es ist flüssig. Nun soll es ja Leute geben, die gerne rohe Eier austrinken, aber lauwarme, glitschige Ei-Suppe am Morgen - kein appetitanregender Anblick. Reklamieren ist zwecklos. Die jungen Tschechinnen, die die Gäste im überheizten Speisesaal bedienen, sprechen weder deutsch noch englisch oder französisch.

Doch 40 Pauschaltouristen aus dem Westen, die der Reiseveranstalter zum Jahreswechsel 87/88 im ´Hotel Krivan` einquartiert hat, klagen nicht nur über flüssiges Rührei. In den Hotelbetten liegt es sich wie auf einem Brett, auf einem Brett allerdings, das schmal wie ein Handtuch ist. Im Bad der Geruch des DDR-Desinfektionsmittels Wofasept. Aus der Armatur des Handwaschbeckens kommt milchiges Wasser, aus dem Kran über der Badewanne fließt es rostbraun heraus.

Wer aber nun meint, die Hotelgäste hätten ihren Ärger an der Bar herunterspülen können, der irrt. Das 480 Betten-Hotel hat keine Bar. Stattdessen ein sogenanntes Buffet. Hinter diesem Namen verbirgt sich eine rechteckige, drei Meter lange Stehtheke aus Plastik, die im zugigen Hotelflur aufgebaut ist. In diesem Verschlag hat die Bardame das Sagen - was sich hauptsächlich dadurch äußert, dass sie endlos mit anderen Hotelangestellten plaudert, während vor der Theke Leute stehen, die gerne etwas zu trinken bestellen würden. Aber vielleicht ist die schleppende Versorgung mit Getränken ja nur ein Trick, um die Gäste zur Teilnahme am Kulturprogramm zu animieren, das Bestandteil dieser Pauschalreise ist, weshalb sich etliche der Urlauber voller Erwartung in den Veranstaltungssaal eines anderen Hotels begeben, um dort einem Unterhaltungsabend beizuwohnen. Auf der Bühne erscheinen zwei dralle, schon etwas reifere Maiden, dazu ein paar Blechbläser und ein Mann mit Akkordeon. Zwei Stunden lang spielen und singen sie Volksweisen aus Böhmen und Mähren, unterbrochen von einem Conférencier, der die Gäste zum Schunkeln auffordert und Witze mit zerzaustem Bart erzählt.

Zum Kulturprogramm gehört ebenfalls ein ärztlicher Vortrag, der sich als Werbeveranstaltung für das Kuren in Karlovy Vary entpuppt. Dazu gehören des weitereren zwei ´festlich` genannte Abendessen. Sie unterscheiden sich von den anderen zwar durch die Anzahl der Gänge und die mit weißen Leintüchern gedeckten Tische, aber nicht durch die Qualität der servierten Speisen.
Abendliche Tanzveranstaltungen im ´Krivan` sind ebenfalls Bestandteil des Kulturprogramms. In einem schlauchartigen Raum, dessen Längsseiten mit Esstischen und entsprechenden Stühlen möbliert sind, spielt eine drei- bzw. zweiköpfige Combo zu Walzer, Foxtrott und Polka auf. Alternativ dazu laufen im Kinoraum immer dann, wenn sich nach Meinung des Filmvorführers genügend Gäste eingefunden haben, tschechische Spielfilme mit deutschen Untertiteln. Eine Kombination, der vor allem die amerikanischen und französischen Mitglieder der Reisegruppe nicht sonderlich viel abgewinnen können.

Interessanter ist es, sich von der Oma, bei der wir in einer Kirche in Karlsbad unser Geld schwarz tauschen, erklären zu lassen, wie sie West- von Ostdeutschen Touristen unterscheidet: an den Schuhen. Die der Westdeutschen seien schicker. Natürlich irrt sie ab und zu. Wenn sie z.B. an eine DDR-Frau auf westlichen Sohlen gerät. Die mitunter aber harte Währung zum Tauschen in der Tasche hat. 13 Kronen für eine D-Mark werden zum Jahreswechsel 1987/88 im Staatsbad Karlovy Vary gezahlt. Die Angestellten des Hotels tauschen eine D-Mark in zehn Kronen um. In der hoteleigenen Wechselstube ist die D-Mark sieben Kronen wert. Aber auch das ist noch ein erstaunlich hoher Kurs wenn man weiß, dass der Kurs an der Grenze mit eins zu drei berechnet wurde. Die Oma aus Karlsbad will in zwei Jahren nach Kanada fahren. Dafür braucht sie Devisen. Der Flug, der Aufenthalt, das kostet. Also läuft sie morgens, mittags und abends durch die Straßen, um Touristen Kronen zu verkaufen. DDR-Mark tauscht sie nicht. Und Dollars und Francs auch nicht gerne. „Wissen Sie, das ist so unsicher mit dem Dollar und dem Franken.“

Tschechen mögen also Westgeld. Und Westtouristen mögen Ostgeld. Garantiert doch dessen illegale Beschaffung Nervenkitzeln. „Haben Sie schon getauscht?“ „Ja?“ „Bei wem“? „Wo“? Es folgt die ausführliche, möglichst konspirativ gehaltene Schilderung der Geldtauschaktion. So hat der Frühpensionär aus Unna zum Beispiel für 50 D-Mark auf dem Schwarzmarkt 650 Kronen bekommen und fühlt sich jetzt wie Agha Kahn. 650 Kronen, das ist mehr als ein Drittel des monatlichen Durchschnittsverdienstes in der Tschechoslowakei. „Wissen Sie,“ erzählt der Unnanese, „es sind ja nicht nur die unzerbombten, schönen Städte hier im Osten. Es sind ja auch die Nebenkosten. Wo sonst kann man sich denn noch für 7 D-Mark restlos betrinken?“ Dann beginnt er zu schwärmen. Damals, 1971, konnte er mit einer Gasflasche und fünf Paar Nylonstrümpfen den dreiwöchigen Campingurlaub seiner vierköpfigen Familie am Scharzen Meer in Rumänien finanzieren.

Nach der Geldtauscherei sind „die Leute aus der DDR“ ein häufiges Gesprächsthema der Touristengruppe. „Die Armen, die haben ja nichts! Dreizig Kronen Taschengeld pro Tag, was ist das denn schon!“ Ein Paket Filterzigaretten kostet 14 Kronen, eine Flache Pilsner Urquell siebeneinhalb und der Eintritt ins Thermalbad fünf Kronen. Als an einem sonnigen Sonntagvormittag in eben diesem Thermalbad einer Westdeutschen das Portemonnaie mit 400 D-Mark abhanden kommt und diverse Westhandtücher auf Nimmerwiedersehen verschwunden sind, steht außer Zweifel, dass das „die Leute aus der DDR“ waren: „Ist doch klar, dass die klauen, die können doch nix kaufen!“ "Tschechen können das nicht gewesen sein, die haben doch zu viel Angst!“ Westdeutsche mit DDR-Verwandtschaft halten dagegen. „Die Tschechen haben heute im Geschäft die DDRler einfach stehen gelassen und nur die Westdeutschen bedient. So eine Unverschämtheit, dass die sich das aber auch gefallen lassen!" Stimmt. Die DDRler, vor deren Hotel ein übergroßer Lenin steht, lassen sich viel gefallen. So darf zum Beispiel, wer in die Lobby des Devisenhotels ´Thermal` in Karlsbad will, aus unerfindlichen Gründen nicht den Haupteingang, sondern nur den Hintereingang benutzen. Es sei denn, man öffnet neben dem Haupteingang eine Glastür, auf der in deutsch, tschechisch und russisch „Durchgang verboten“ steht. Westler, die es in die neonbeleuchtete Hotelbar zieht, benutzen den verbotenen Eingang ungeniert. Ostler gehen auch bei strömendem Regen gehorsam einen halben Kilometer um die gesamte Betonscheußlichkeit herum, um zum Nebeneingang zu gelangen.

In den devisenfreien Cafés und Restaurants von Karlovy Vary haben die Westdeutschen das Sagen. Die Kellner sind freundlich. Sie wissen, dass Trinkgelder nur dann gezahlt werden. Also strahlen sie, als hätten sie Plutonium gegessen. Mitunter stellen sie dieses Strahlen aber blitzschnell ab. Während sie gerade an einem Tisch noch einschmeichelnd die Menüs heruntergeflötet haben, knallen sie den Leuten am Nebentisch die Speisekarten aus mindestens Stuhlumfangentfernung vor den Latz. Diese Gäste haben sächsisch gesprochen. Und tragen adidas-Schuhe, d a s untrügliche Zeichen für DDRler!

Außer den Kuranwendungen, die zum Kulturprogramm gehören, und wie dieses im Reisepreis inbegriffen sind, werden Ausflüge und Führungen angeboten. Die Besichtigung Karlovy Varys besteht aus einem dreiviertelstündigen Spaziergang mit anschließendem Kaffeetrinken, von der Führung nach Prag bekommt nur etwas mit, wer sich eng an den Rockzipfel der Tourguide hängt, alle anderen verstehen schon rein akustisch nicht, worüber oder wovon die Rede ist. Rund um den Wenzelplatz kann man keine 20 Schritte tun, ohne von einer finsteren Gestalt mit dem Wort „Cambiare?“ angezischt zu werden. "No,no". Besser nicht. Lieber eine Lektion in Sachen sozialistische Arbeitswelt genießen. Sie dauert 20 Minuten, also exakt so lange, wie neun tschechische Werktätige brauchen, um einen mit Friedenstauben geschmückten Weihnachtsbaum abzubauen. Fünf der neun an dieser Aktion Beteiligten sichern mit einem Seil die Stellen auf dem Bürgersteig, auf die der Baum eventuell fallen könnte. Eine Frau ist dabei. In der einen Hand hält sie das Seil, in der anderen eine Eistüte und reckt der Sonne dabei ihr strahlendes Gesicht entgegen. Zwei Männer sichern den Baum mit zwei Seilen aus dem 2. Stock des Kaufhauses, ein Mann koordiniert die Aktion aus einem Fenster im ersten Stock. Auf der Straße schlägt eine Frau mit einem kleinen Hämmerchen die Stützen des Baumes los. Alle neun Werktätigen tragen weiße Kittel, die Männer haben ihre zugeknöpft, die der Frauen stehen offen.

Als wir aus Prag nach Karlovy Vary zurückkommen, passt uns die Karlsbader Oma ab, um nach dem Kurs zu fragen, den die Mafiosi in der Hauptstadt der Fensterstürze für die D-Mark zahlen. „Eins zu sechzehn, sogar eins zu neunzehn“, informieren wir sie. Von wegen Oma, Devisenhändlerin, aber freischaffend!!

Ein Ausflug nach Cheb und einer nach Franzensbad zeigt, dass für Touristen auch kompetente Tourguides zur Verfügung stehen. Sie kennen die Geografie, die Geschichte, Architektur und Pflanzenwelt beider Orte, sie können Fragen beantworten und tabuisieren weder die heutige Situation in der Tschechoslowakei noch die in der Hitlerzeit mitsamt ihren Folgen. Zum Glück sind keine Vertriebenen in der Gruppe der Westler.

Nun könnte man natürlich fragen, warum sich keiner der Urlauber beim Reiseleiter beschwert hat. Die Antwort ist einfach. Zum einen hatten findige Urlauber längst den privaten, in einer Wohnung residierenden Club ausgemacht, wo es hervorragende Live-Musik, eine schummrig beleuchtete Tanzfläche und hochprozentige Getränke bis in den frühen Morgen gab. Zum anderen lag es daran, dass kein Reiseleiter da war. Das heißt: es gab schon einen. Da er aber zwei Gruppen in zwei verschiedenen Kurorten zu betreuen hatte, und ihm das ´Hotel Krivan` wohl auch nicht so gut gefiel, glänzte er in Karlovy Vary acht lange Tage durch Abwesenheit. Tauchte er doch mal auf, griff er nach dem nächsten erreichbaren Mikrofon, holte seine Mundharmonika hervor und spielte ein paar Volkslieder. Selbst der Bahnhofslautsprecher war vor ihm nicht sicher. Bevor sich am Tag der Abreise der Zug Richtung Westheimat in Bewegung setzte, spielte er den Reisenden noch ein Ständchen: "Muss i denn, muss i denn zum Städtele hinaus", schallte es über die Gleise.

Die gerade beschriebene Reise war kein Sonderangebot. Acht Tage kosteten ohne Fahrt 740 D-Mark. Das war 1987 noch viel Geld.

Link: Nach Hause kommen im Frühjahr 2017
Quelle: Hanne Schweitzer