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Altersdiskriminierung von Schöffen benachteiligt 16% d. Bevölkerung

Düsseldorf, 2015 Foto: H.S.

27.08.2015 - von Prof. H.-G. Borck

Der Vorsitzende des Seniorenbeirats der Stadt Koblenz, Prof. Dr. H.-G. Borck schreibt einen Brief an den Bundesminister der Justiz und für Verbraucherschutz in Berlin.

Betr.: Altersdiskriminierung bei der Schöffenbestellung (§ 33(2)GVG)
Bez.: Mein Schreiben vom 14.7.2014
Sehr geehrter Herr Minister,
in mehreren früheren Schreiben hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass bei der Änderung des Gerichtsverfassungsgesetzes im Jahre 1974 (1)
in § 36 Abs.2 vorgeschrieben wurde, für die Schöffenbestellung alle Gruppen der Gesellschaft nach Alter, Beruf und sozialer Stellung angemessen zu berücksichtigen; gleichzeitig - und im unmittelbaren Widerspruch dazu - wurde in § 33 Abs.2 eine Höchstaltersgrenze von 69 Jahren eingeführt. Damit kehrte das Gesetz den Grundgedanken einer seit 100 Jahren bis heute geltenden altersfreundlichen Regelung, wonach nämlich den über 65jährigen Personen die Ablehnung des Ehrenamtes gestattet war (2) , ins Gegenteil um und führte eine in Kaiserreich, Weimarer Republik und in den ersten 25 Jahren der Bundesrepublik Deutschland unbekannte Altersdiskriminierung ein.

In meinen 2013 und 2014 an das Seniorenministerium, das sich trotz dort
vorhandener Antidiskriminierungsstelle für Fragen der Altersdiskriminierung für unzuständig erklärt hat ( ! ) (3) gerichteten Schreiben, die einschließlich meiner dazu im Februar 2014 in Koblenz gehaltenen Rede Ihnen vorliegen, habe ich ausgeführt, dass ich diese Regelungen, die schon auf Grund der Bevölkerungsentwicklung unvernünftig sind, für unvereinbar mit dem europäischen Recht ebenso wie mit dem deutschen Verfassungsrecht halte, und dies auch näher erläutert.

Der Seniorenbeirat der Stadt Koblenz hatte bereits am 30. 4. 2013 einstimmig den Oberbürgermeister der Stadt gebeten, auf eine Aufhebung dieser Bestimmungen, die derzeit bereits 16% der Bevölkerung an der Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte hindern, hinzuwirken.

Auf seiner Plenarsitzung am 18.6.2015 fasste der Seniorenbeirat der Stadt Koblenz neuerlich den folgenden

Beschluss:
Der am 2. 4. 2015 vom Vorsitzenden gestellte, am 23. 4. 2015 von der
Landesseniorenvertretung (einstimmig) angenommene Antrag, der wie folgt lautet:


Der Seniorenbeirat der Stadt Koblenz bittet im Blick auf künftige Aufstellungen von Schöffenlisten und die dabei vorgeschriebene, von ihm als rechtswidrige Diskriminierung angesehene Altersbegrenzung auf 69 Jahre, die
Landesseniorenvertretung, darauf hinzuwirken, dass der Vollzug der 1974 neu
eingeführten Altersbegrenzung von § 33(2) GVG mit sofortiger Wirkung
ausgesetzt wird. Das Verbot, über 69 Jahre alten Menschen Ehrenämter zu
übertragen, ist mit europäischem und deutschem Recht ebenso unvereinbar wie mit der demografischen Entwicklung in Deutschland und führt dazu, dass derzeit rund 16 % der Bevölkerung an der verfassungsgemäßen Wahrnehmung ihrer Bürgerrechte gehindert werden.


wird einstimmig bestätigt. Der Vorsitzende wird gebeten, für den Koblenzer
Seniorenbeirat diesen Beschluss auch bei den zuständigen Berliner
Bundesministerien zu vertreten und dem Petitionsausschuss des Bundestages sowie den Bundestagsfraktionen vorzulegen.


Inzwischen hat auch der Bayerische Landtag sich auf seiner Sitzung am 16. 7. 2015 einstimmig für die Aufhebung der Altersgrenze ausgesprochen (Anlage). Ich verweise in diesem Zusammenhang auf die in meinen Ihnen vorliegenden Schreiben angeführten rechtlichen, medizinischen und demografischen Gründe, die eine Aufhebung der für Ehrenämter völlig unbegründeten Altersgrenze nahelegen.

Die Auffassung Ihres Hauses, wonach die europäischen Grundrechte ausschließlich im Anwendungsbereich des Unionsrechtes Wirkungen entfalten und für den innerdeutschen Bereich keinerlei Bedeutung haben, vermag ich in den Fällen nicht zu teilen, in denen eine offensichtliche Übereinstimmung mit den eigenen nationalstaatlichen verfassungsrechtlichen Bestimmungen - hier den Artikeln 1 und 3 GG, die nach herrschender Lehre (4) ebenfalls eine Altersdiskriminierung als der Menschenwürde und der Rechtsgleichheit widersprechend ausschließen - vorliegt.

Die Altersgrenze widerspricht im übrigen auch den im europäischen Jahr des aktiven Alterns 2012 an die Regierungen der Mitgliedstaaten gerichteten Aufforderungen, den Seniorinnen und Senioren die aktive Teilhabe an allen gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen von der lokalen bis zur nationalen Ebene zu ermöglichen (5).
.
Lassen Sie mich abschließend noch einmal bemerken, dass die Altersdiskriminierung m. E. einen Verstoß gegen die grundsätzliche Gleichheit vor dem Gesetz darstellt, auf die in Deutschland schon vor einem halben Jahrtausend (6) die Rechtsprechung verpflichtet war, und dass es vielleicht an der Zeit ist, Altersdiskriminierungen durchweg - auch für alle Körperschaften des öffentlichen Rechts -, z.B. in einem Ehrenamtsgesetz, zu verbieten.

Dieses Schreiben geht auch den Bundestagsfraktionen und dem Petitionsausschuss des Bundestages zu.

Mit freundlichen Grüßen
H.-G. Borck

(1) Gerichtsverfassungsgesetz vom 27. Januar 1877 (RGBl. I S. 41) in der Fassung des Gesetzes vom 12. September 1950 (BGBl. S. 455), geändert durch Artikel 2 Nr. 5 lit. b und c des Gesetzes vom 9. Dezember 1974 (BGBl. I S. 3393) , der Nr. 2 und 3 in Nr. 3 und 4 umnummeriert und Nr. 2 (= die Altersdiskriminierung) eingefügt hat (S.3404). Änderung von § 36 ebenfalls 1974 (BGBl 1974 I S.3405 : Artikel 2 Zf. 8 zu § 36 GVG); lt. Artikel 9 (ebda S. 3415) zum 1.1.1977 wirksam.
(2) 1877 war das bereits - wie heute - in § 35 GVG geregelt
(3) Schreiben des BMFSFJ vom 19.5.2014 Az. 311-0443/000II*05
(4) vgl. Vassilios Skouris (§ 157, S. 859-888) und Dieter Kugelmann (§ 160, S.979-1029) in: Detlef Merten und HansJürgen
Papier (Hgg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa Bd. VI/1 (= Europäische Grundrechte
Bd.1), Heidelberg u.a. 2010, bes. S.868 f. (EuGH 2005) bzw. S.999, 1007-1015 (fundamentaler Grundsatz)
(5) Nikosia-Dokument vom 10.12.2012 EY2012_Roadmap_Coalition_FINALVERSION1, bes. S. 14
(6) Wahlkapitulation v.3.7.1519, § 1 (Karl Zeumer, Quellensammlung z.Gesch.d.dt.Reichsverfassung 2.A. Tüb.1913, S.309)

Link: Altersdiskriminierung von Schöffen: Gerichtsverfassungsgesetz ändern!
Quelle: Seniorenbeirat der Stadt Koblenz