27.11.2012 - von Fred Schmid
Das Land mit den meisten Millionären und Milliardären in Europa ist zugleich das Land mit der größten Zahl an Armen und in Not lebenden Menschen. Nach der Erhebung LEBEN IN EUROPA 2011 ist hierzulande fast jeder Fünfte (19,9%) von Armut und sozialer Ausgrenzung betroffen (2010: 19,7%) – insgesamt rund 16 Millionen Menschen.
Frauen waren mit einer Quote von 21,3% stärker betroffen als Männer (18,5 %) (destatis 23.10.12). Armut und soziale Ausgrenzung ist nach der Definition der EU gegeben, wenn eines oder mehrere der drei Kriterien „Armutsgefährdung“, „erhebliche materielle Entbehrung“, „Haushalt mit geringer Erwerbsbeteiligung“ vorliegen.
Im vergangenen Jahr setzte sich der Indikator in der BRD wie
folgt zusammen: die Armutsgefährdung lag bei 15,8%, 5,3% der Bevölkerung waren von erheblicher materieller Entbehrung betroffen und 11,1% der Personen lebten in einem Haushalt mit sehr geringer Erwerbsbeteiligung.
Als arm gilt – der Begriff „Armutsgefährdung“ verschleiert die tatsächliche Situation – wer mit weniger als 60% des mittleren Einkommens der gesamten Bevölkerung auskommen muss: für einen Alleinstehenden sind das weniger als 952 Euro monatlich, für einen Vier-Personen-Haushalt mit zwei Kindern unter 14 Jahren 2.000 Euro monatlich.
Erhebliche materielle Entbehrung liegt nach EU-Definition vor, wenn vier von neun Kriterien erfüllt sind: z.B. Probleme bei der Mietzahlung, nicht ausreichende Beheizung der Wohnung, aus finanziellen Gründen laufende Rechnungen nicht begleichen zu können, sich keinen Urlaub leisten zu können, Fehlen eines
Farbfernsehers, einer Waschmaschine, eines Telefons, nicht mindestens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit einnehmen zu können. Die Möglichkeiten der sozialen Teilhabe sind bei den Betroffenen sehr eingeschränkt, sie sind ausgegrenzt.
Fast tausend „Tafeln“, die eineinhalb Millionen „Kunden“ mit ihren Familienangehörigen versorgen, unterstreichen, dass satt essen heute für viele Menschen in D. keine Selbstverständlichkeit mehr ist. Der apokalyptische Reiter Hunger ist dabei, zurückzukehren. „Es wäre eine Katastrophe, wenn es die „Tafeln“ nicht mehr gäbe“, schreibt Heribert Prantl (SZ, 12.10.12). „Aber es ist eine viel größere Katastrophe, dass es sie in unserem reichen Land geben muss. Ein Staat, der tausend
Tafeln braucht, ist kein guter Sozialstaat.
Die EU hat die beschriebene Art von Sozialindikator eingeführt, um Fortschritte der Europäischen Sozialpolitik bei bei der Verminderung von Armut und sozialer Ausgrenzung in der Union, einem Kernziel der sogenannten „Strategie Europa 2020“ zu messen. Aber von Fortschritt bei der Armutsbekämpfung keine
Spur, soziale Reaktion auf der ganzen Linie ist angesagt. Die Zahl der Armen und sozial Ausgegrenzten in der EU27 stieg von 2009 auf 2010 um zwei Millionen auf 116 Millionen Europäer, das sind 23 Prozent der EU-Bevölkerung. Vor der Krise waren nur 17 Prozent von Not bedroht.
2011 dürfte ein weiterer Armutsschub – vor allem aus den Krisenländern – hinzugekommen sein; die Ergebnisse aller 27 Mitgliedstaaten liegen noch nicht vor. In Spanien lag 2011 allein die Armutsquote bei 21,8 %, in Portugal bei 18,0 %, in
Italien 2010 bei 18,2 %. Zu beachten ist, dass bei diesen Ländern das so genannte Äuivalenzeinkommen wesentlich niedriger liegt.
Geschäfte mit der Not
Die Konsumgüterkonzerne rechnen jedenfalls mit einer weiteren Ausbreitung der neuen Armut in Europa und stellen sich darauf ein. „Die Armut kehrt nach Europa zurück“, sagt Europa-Chef Jan Zijderveld vom Lebensmittelkonzern Unilever. Und er zieht daraus Konsequenzen für die Verkaufsstrategie. „Wenn ein Spanier nur noch durchschnittlich 17 Euro pro Einkauf ausgibt, dann kann ich ihm kein Waschmittel für die Hälfte seines Budgets verkaufen“. Deshalb will er nun Erfolgsmethoden aus dem Asiengeschäft anwenden und seine Produkte in kleineren und Mini-Packungen anbieten. „In Indonesien verkaufen wir Einzelpackungen Shampoo für zwei bis drei Cent und verdienen trotzdem ordentliches Geld“, sagt Zijderveld. Auch Nestle verkauft einige Markenprodukte in kleineren Portionen als „Popularly Positionend Products“, kurz PPP. In Griechenland bringt Unilever mittlerweile Kartoffelpüree und Mayonaise in XXS-Packs auf den
Markt. In Spanien bietet der Konzern sein Waschmittel Surf in Packungen an, die gerade einmal für fünf Waschgänge reichen. „Not macht erfinderisch“, heißt es und sei es die Not der anderen. Und sie zahlt sich für die Konzerne aus. So lässt sich auch in krisengeschüttelten Ländern Profit machen
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