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Manifest gg. Kommerzialisierung d. Gesundheitswesens

Erfurt, 2012 Foto: H.S.

21.10.2012 - von Verein demokratischer Ärztinnen + Ärzte

In ganz Europa gibt es Tendenzen der Kommerzialisierung und Privatisierung der öffentlichen Einrichtungen im Allgemeinen und des Gesundheitswesens im Besonderen. In Deutschland teilen sich vier große Konzerne einen erheblichen Anteil des "Krankenhaus-Markts" auf; der ambulante Sektor wird schon lange quasi privatwirtschaftlich betrieben; das ganze Gesundheitssystem ist strukturell anbieterdominiert. Die gesetzlichen Krankenkassen werden immer mehr zu Unternehmen umgebaut – nicht zuletzt durch die aktuell geplante (und inzwischen realisierte) Unterstellung unter das Kartellrecht.

Überall in Europa, sei es in Großbritannien, Polen, Schweden, Spanien, der Schweiz oder in anderen Ländern, sind diese Tendenzen der Kommerzialisierung und Privatisierung zu beobachten. Da Gesundheit keine Ware ist und jeder Mensch einen gleichen Zugang zum Gesundheitswesen haben muss, haben der Verein Demokratischer Ärztinnen und Ärzte zusammen mit den Sozialistischen Ärzten Schwedens die Initiative für ein Europäisches Manifest gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens ergriffen. Weil wir diese Tendenz für die Patientinnen und Patienten sowie die Beschäftigten für ungesund und für die Gesellschaft insgesamt für gesundheits- und sozialpolitisch sowie volkswirtschaftlich ungünstig halten, protestieren wir zusammen mit Health Professionals aus verschiedenen europäischen Ländern gegen die Kommerzialisierung. Wir fordern die Bevölkerung, Patientinnen und Patienten auf, sich mit uns für diese Ziele einzusetzen.

Wir fordern die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker auf, den Zug der Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zu stoppen und zur Umkehr zu zwingen! Organisationen von Health Professionals in Europa, die unsere Analyse und Ziele teilen, sind aufgerufen, ebenfalls zu unterzeichnen und das Manifest weiter zu verbreiten.
Prof. Dr. Wulf Dietrich (Vorsitzender)
Dr. Nadja Rakowitz (Geschäftsführerin)

Europäisches Manifest gegen die Kommerzialisierung des Gesundheitswesens - Health professionals erheben ihre Stimme -

Die Organisation des Gesundheitswesens ist eine öffentliche Aufgabe. Als Gesundheitsprofessionelle sind wir damit betraut, die Krankheiten unserer PatientInnen zu diagnostizieren, zu behandeln und nach Möglichkeit zu verhüten. Wir sollten diese Aufgabe ohne Ansehen der Person wahrnehmen. Eine Unterordnung unter vorwiegend ökonomischen Kriterien hindert uns, diese Aufgaben zu erfüllen: Weder wollen wir PatientInnen medizinisch notwendige Leistungen vorenthalten, noch wollen wir Leistungen erbringen, die medizinisch überflüssig,
aber für den Leistungserbringer lukrativ sind.

Diese Bedingungen für eine gute Medizin herzustellen, ist in allen europäischen Ländern möglich. Ist doch die EU eine der reichsten Regionen der Erde. Aktuell erleben wir europaweit eine Entwicklung, die diesem Anliegen entgegenläuft.

Krankheit ist keine Ware!

Ob wir ein staatliches Gesundheitswesen haben oder eines, das über Sozialversicherungen organisiert wird, wir sehen überall eine zunehmende Privatisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens bzw. der Medizin. Das Gesundheitswesen wird zum Markt, Gesundheit und Krankheit werden zu Waren. Ein wichtiges Moment dieser Ökonomisierung/Kommerzialisierung ist die Privatisierung. Privatisierung bedeutet:

  • - ehemals staatliche oder gemeinnützige Krankenhäuser werden privatisiert;
  • - große Klinikkonzerne, als Aktiengesellschaften organisiert, übernehmen zunehmend die stationäre Versorgung und dringen in den „Markt“ der ambulanten Versorgung ein;
  • - in ehemals staatlichen Gesundheitswesen können private Anbieter Leistungen anbieten;
  • - Gewinne aus Gesundheitsleistungen fließen an private Kapitalgeber und werden damit dem Gesundheitswesen
    entzogen und verteuern es so für die Gesellschaft;
  • - medizinisch notwendige Leistungen werden aus dem Leistungskatalog des staatlichen Gesundheitswesens bzw. der Sozialversicherungen ausgegliedert und müssen privat bezahlt werden;
  • - hochtechnisierte Leistungen, die gut honoriert werden, kommen zunehmend zur Anwendung.

  • Privatisierung führt zu gesellschaftlicher Entsolidarisierung und Abwälzung des Krankheitsrisikos auf die Individuen und sie beschränkt demokratische Einflussmöglichkeiten. Der Druck von Gesundheitskonzernen, Profite machen zu müssen, ordnet medizinische Prioritäten zwangsläufig ökonomischen bzw. betriebswirtschaftlichen unter und untergräbt das Arzt‐Patient‐Verhältnis.

    Um diese Prinzipien systematisch im Gesundheitswesen zu verankern, werden Mechanismen kapitalistischer Konkurrenz unter der beschönigenden Bezeichnung „Wettbewerb“ implementiert: So konkurrieren private Anbieter mit öffentlichen und gemeinnützigen.

    Krankenhäuser konkurrieren untereinander um Patienten. Nicht das medizinisch beste Krankenhaus ist der „Sieger“ in diesem Wettbewerb, sondern das betriebswirtschaftlich am erfolgreichsten arbeitende. Auch bei gesetzlichen, sozialen Krankenversicherungen ist das Konkurrenzprinzip eingeführt.

    Begründet wird diese Kommerzialisierung überall mit den gleichen ideologischen Formeln: Es gebe eine Kostenexplosion durch den so genannten medizinischen Fortschritt, die Überalterung der Bevölkerung aber auch durch die gestiegene Anspruchshaltung der Bevölkerung.

    Angesichts knapper Ressourcen der öffentlichen Hand seien Einsparungen notwendig und diese am besten durch mehr Wettbewerb und Privatisierung zu erreichen.

    Tatsache aber ist: Je mehr privatisiert wird, umso mehr hängen Zugang und gute Versorgung der Bevölkerung vom eigenen Einkommen ab. Je mehr privatisiert wird, umso teurer wird ein Gesundheitswesen – ohne dass
    die Lebenserwartung und der Gesundheitszustand der Bevölkerung besser ist als anderswo (siehe USA). Und: Je mehr privatisiert wird, umso bürokratischer wird ein System, denn nur was dokumentiert wird, wird im Wettbewerb auch bezahlt.

    Das ist nicht unsere Vorstellung von einer humanen Gesellschaft. Die Humanität einer Gesellschaft zeigt sich an der Solidarität mit ihren schwächsten Mitgliedern.

    Krankenhäuser sind keine Patientenfabriken!
    Die Kommerzialisierung hat unakzeptable Konsequenzen für PatientInnen und Beschäftigte im Gesundheitswesen. Sie führt zu Über‐, Unter‐ und Fehlversorgung und damit zu vermeidbarem Leiden. In Ländern, in denen
    die Ökonomisierung schon weit fortgeschritten ist, führt sie dazu, dass häufig nicht medizinisch indizierte Leistungen erbracht werden, da aus betriebswirtschaftlichen Gründen neue „Geschäftsfelder“ erschlossen werden müssen. Das geht so weit, dass Krankheiten für diesen Zweck regelrecht erfunden werden. Gleichzeitig wird zur
    Realisierung von Profiten immer mehr Personal abgebaut. Dies führt bei einer extremen Arbeitsverdichtung für die Beschäftigten zu einer schlechteren Versorgung für die PatientInnen.

    Die Ökonomisierung selektiert Patienten in lukrative und weniger lukrative PatientInnen, die unterschiedlich behandelt werden. Dies widerspricht den Grundsätzen der Humanität und unserem Berufsethos.

    Als Health Professionals sprechen wir uns gegen die Ökonomisierung und die Privatisierung des Gesundheitswesens
    aus. Stattdessen fordern wir:
  • - einen gleichen Zugang zu medizinischer Versorgung für alle
  • - qualitativ hochwertige Versorgung für alle – ohne Ansehen der Person
  • - eine solidarische und gerechte Finanzierung des Gesundheitswesens
  • - ausreichendes, gut ausgebildetes und ordentlich bezahltes Personal im Gesundheitswesen (mit gesetzlicher Regelung eines verbindlichen Personalschlüssels)

  • Wir fordern die Bevölkerung, Patientinnen und Patienten auf, sich mit uns für diese Ziele einzusetzen. Wir fordern die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker auf, den Zug der Ökonomisierung und Kommerzialisierung des Gesundheitswesens zu stoppen und zur Umkehr zu zwingen!

    Unterzeichner (13.10.2012)
    Aktion Gsundi Gesundheitspolitik (Schweiz); Asociación Española de Neuropsiquiatría‐Profesionales de Salud Mental
    (Spanien); Basisgruppe Medizin Göttingen (Deutschland); Deutsche Gesellschaft für Verhaltenstherapie (DGVT) e. V.
    (Deutschland); Federación de Asociaciones para la Defensa de la Sanidad Publica (Spanien); International Association of
    Health policy in Europe; Medical Practitioners' Union – Unite (Großbritannien); MEZIS (Mein Essen zahl ich selbst) ‐ Initiative
    unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte (Deutschland); National Health Service Consultants' Association (Großbritannien); Notruf113 Marburg (Deutschland); Ogólnopolski Związek Zawodowy Pielęgniarek i Położnych ‐ OZZ PiP (Polen); Socialist Health Association (Großbritannien); Socialistiska Läkare (Schweden); Solidarisch G'sund. Initiative für ein öffentliches Gesundheitswesen (Österreich); Sozialmedizinisches Zentrum Graz (Österreich); Thure von Uexküll‐Akademie für Integrierte Medizin, Stuttgart; Verein demokratischer Ärztinnen und Ärzte (Deutschland); Verein demokratischer Pharmazeutinnen und Pharmazeuten (Deutschland); Vereinigung unabhängiger Ärztinnen und Ärzte (Schweiz)

    Quelle: PM des Vereins demokratischer Ärztinnen + Ärzte