Foto: H.S.
08.05.2023 - von Dresdner Bündnis für Pflege
"Wunschzettel für die Pflege" heißt ein Projekt, dass Ende 2022 vom unabhängigen Runden Tisch in Dresden initiiert wurde. Das Büro gegen Altersdiskriminierung hat die Freude, die berührenden und anregenden Ergebnisse vorstellen zu können, um sie über Dresden hinaus bekannt zu machen. Jenseits von Fachchinesisch wird über PFLEGE gesprochen. Es erzählen, beschreiben und reflektieren Menschen, die gepflegt werden, solche die pflegen und die, die sich Gedanken darüber machen, wie es sein wird, wenn sie der Pflege bedürfen. Sie sprechen über ihre Erfahrungen, ihre Wünsche und ihre Kritik an PFLEGE. Der im Original illustrierte und viel schöner gestaltete Projektbericht endet mit einem nachdenkenswerten Vorschlag.
Was wir nicht berühren, können wir nicht spüren / Wenzel, 2021.
0) Beachtenswert – Wegmarken einer Auswertung
1) Bewundernswert – Selbstzeugnisse aus der ambulanten und stationären Pflege
2) Benennenswert – Alle Aussagen der Wunschzettel
3) Bemerkenswert – Impulse aus der Auswertung
4) Beanstandenswert – Ein Wunschzettel aus dem Dresdner Bündnis für Pflege
5) Verbesserungswürdig - Was die Wunschzettel-Kampagne erbrachte. Ausgangspunkte für Perspektivwechsel. Wege des Verstehens
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Beachtenswert – Wegmarken einer Auswertung
Eine Wunschzettel-Kampagne in Dresden in der Weihnachtszeit 2022 – was soll denn das? Die Idee wurde am 15.Juni 2022 am unabhängigen und seit 1992 (!!) tätigen Runden Tisch der Senioren, Vorruheständler und Behinderten von einer 81-Jährigen mit Pflege-Erfahrung entwickelt. Sie stieß bei betroffenen Senioren sofort auf Verständnis, bei Aktiven im Dresdner Pflegebündnis auf wohlwollendes Interesse - bei Verantwortlichen aus Verwaltung, Politik und kommunaler, freier und privatwirtschaftlicher Wohlfahrtspflege hingegen eher auf Skepsis. Die Reaktionen der Verantwortungsträger im Dresdner PflegeNetz sind am ehesten mit Begriffen wie Ignorieren, Verschleppen und schließlich Boykott durch Verschweigen zu kennzeichnen; diesen Eindruck erhärtet der E-Mail-Wechsel im IV. Quartal.
Wecken derartige Wunschzettel wirklich die „falschen“ Wünsche, unangemessene Erwartungen, wie man im PflegeNetz mutmaßte?
Anders als etwa in Talk-Runden, die mit ihrer Rechtfertigung des vermeintlich alternativlos Bestehenden das Volk leider allzu oft in der „Zuschauerdemokratie“ ratlos und manchmal auch entrüstet zurück lassen, treten wir für einen Perspektivwechsel ein.
Auf dem Weg dahin sind Wünsche besser als Resignation, wie hoffentlich die nachfolgend diskutierte Auswertung zeigt.
Ursachen nicht länger verdrängen oder bürokratisch umdeuten!
Unstrittig ist, dass sich in der Pflege Grundlegendes ändern muss; Das betrifft die juristischen, wirtschaftlichen und institutionellen Bedingungen ebenso wie die öffentliche Wahrnehmung und Wertschätzung von Sorgearbeit und „Pflegeschicksal“. Die Zahlen sind bekannt und brauchen hier nicht gebetsmühlenartig wiederholt werden. Hinter den immer wieder statistisch ausgedünnten Zahlen der millionenfachen Betroffenheit stehen jeweils „Einzelfälle“, die - solchermaßen entindividualisiert – das Anrecht auf Anerkennung zu verlieren drohen.
Mehr noch als bei Arbeitslosigkeit gilt für die Pflege, dass in Deutschland mindestens 10 % der Bewohner*innen direkt oder indirekt davon betroffen sind und das Leben mit Pflegebedürftigkeit dennoch individualisiert, nicht gesellschaftlich wahrgenommen wird. Individualisierung untergräbt sozialkooperative Bewältigungswege (persönliche Netzwerke, Nachbarschaften, Stadtteile etc.). Damit kann es sich nicht nur um ein statistisch wirkendes Problem handeln. Pflegebedürftigkeit wird von Betroffenen, Angehörigen und
freiwilligen wie auch beruflich tätigen Helfern stets individuell, und zu oft in mehr oder minder großer Isolation erlebt.
Wenn schon die Statistiken viele Verantwortliche und die Öffentlichkeit jeweils nur für den Moment ihres Aufrufens berühren – um sogleich durch „Wichtigeres“ auf den Skalen der Aufmerksamkeitsökonomie wieder im Hintergrund zu versinken, bleibt jedes Einzelschicksal gleichsam unsichtbar, verschwindet jenseits der Pflegebetten. Unabhängig von den je individuellen Ursachen eines jeden „Pflegefalls“ erleben Betroffene so etwas wie ein Verbannt-Werden aus der „Welt da draußen“. Dieses Erleben von Nichtwahrgenommen-Sein verstärkt den ohnehin fragilen und durch Abhängigkeiten geprägten Zustand weiter.
Zur Isolierung tritt die Ungewissheit über Perspektive und Dauer der Einschränkungen. Während akute Ereignisse sich mit der Aussicht auf Besserung vergleichsweise gut ertragen lassen und Helfer Kraft und Mut aus dem Aufstieg aus der Krise hin zu vielleicht sogar völliger Genesung schöpfen dürfen, wirkt das in der Altenpflege eher entgegengesetzt: Den Beteiligten ist meist klar, dass der nun durchlittene Zustand wenig Hoffnung auf Besserung verheißt, an Genesung nicht zu denken.
Dennoch wollen wir PFLEGE nicht nur als „große Zahl“ stärker ins öffentliche Bewusstsein rücken, sondern unternehmen den Versuch, zu VERSTEHEN, was Pflegebedürftigkeit und das Kümmern um Pflegebedürftige praktisch, alltäglich, in asymmetrischen Beziehungen bedeutet.
Wir wollen PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT ein Gesicht/viele persönliche Gesichter geben, mithin dazu beitragen, das individuell bessere Perspektiven durch das öffentliche und politische Anerkennen von PFLEGEBEDÜRFTIGKEIT UND eben durch EINFÜHLENDES VERSTEHEN ermöglicht wird.
Anlässe, oder: Geldbeutelreflexe sind offenbar wirksamer als Mitgefühl?
Die Idee zur Wunschzettel-Aktion entstammt Debatten um stark steigende Heimentgelte 2022, was gerade angesichts des jahrelangen Stillstandes in der Pflege den Kosten- und Leidensdruck für Heimbewohner, Angehörige, haupt- und ehrenamtliche Helfer in der Altenhilfe sowie für die kommunalen Sozialkassen drastisch erhöht. Deshalb verfasste der Dresdner Seniorenbeirat als Folge von Beschwerdebriefen von Angehörigen zu den stark steigenden Eigenanteilen eine „Eingabe“ an das federführende Bundesgesundheitsministerium.
Die Verhältnisse in der stationären Altenhilfe spitzen sich dramatisch zu; dringend ist eine Umkehr von der Politik gefordert. Das „Rumdoktern“ am Rechtsrahmen in den letzten 2 Jahrzehnten ist ebenso zu überwinden wie offenbare Einflussnahmen durch Lobbyisten. Demokratie muss gerade in diesen existenziellen Fragen wirksamer werden. Wie derlei (Minister-)Briefe ausgehen kann sich „der geneigte Leser“ denken ...
Das System stößt unverkennbar an finanzielle Grenzen, während menschliche Nöte - wie
oben beschriebene Proteste nicht auszulösen vermögen. Dies wollen wir nicht hinnehmen.
Methodisches zur Wunschzettel-Kampagne - Ein Tropfen im Fluss der Veränderung?
So entschieden wir uns dazu, Wunschzettel zu verteilen, um subjektive Blitzlichter zur Weihnachtszeit einzufangen, wo angeblich viele Menschen milder und sensibler gestimmt sind. Es ging also nicht um eine wissenschaftlich exakte Erfassung, sondern um eine Momentaufnahme, von der wir jedoch durchaus Exemplarisches für Pflegesituationen und deren Erleben erhoffen - Anstatt repräsentativ gingen wir exemplarisch vor, in der Erlebenswelt Betroffener verankert. Durch den o.g. Boykott seitens der Sozialbürokratie erreichten wir leider eher zufällige Adressaten und Verteiler. Sollten Pflegeminister und Geschäftsführer dies bemängeln, mögen sie gern in der nächsten Weihnachtssaison – auch ohne „Erlaubnis“ durch uns - selbst aktiv werden.
Grundlage der vorliegenden Zusammenstellung ist der Beschluss des Dresdner Seniorenbeirates vom 05.09.2022:
„Der Seniorenbeirat ist besorgt über die Situation in der stationären Pflege und beauftragt seine AG Wohnen und Wohnberatung aktiv im „Dresdner Bündnis für Pflege“ für Verbesserungen hinzuwirken. Erreicht werden kann dies u.a. über eine Wunschzettelkampagne mit weiteren Akteuren in der Altenpflege mit dem Ziel
1. Herstellen von Öffentlichkeit für Unzulänglichkeiten in der Pflege,
2. Brückenschlag zwischen Pflegebedürftigen und den sie Pflegenden
3. Mobilisieren Angehöriger inkl. Gewinnen Freiwilliger im Umfeld der Pflege.
Die Mitglieder der AG berichten regelmäßig dem Beirat.“
... was nachfolgend geschieht.
1)
Bewundernswert – Selbstzeugnisse aus der ambulanten und stationären Pflege
Anlässlich des (sächsischen) Tags der Altenpflege lasen am 16.11.2022 im Rahmen der Kundgebung des Dresdner Pflegebündnisses an der Frauenkirche Künstler*innen Texte aus dem Pflegealltag, also von in der Pflege Arbeitenden, aber auch von Pflegebedürftigen und ihnen nahestehenden Menschen. Sie gestatten Einblicke in ein System der stationären und ambulanten Versorgung Pflegebedürftiger, das oft nur noch mit Begriffen wie „Notstand“ oder „am Limit“ charakterisiert werden kann. Zugleich – und das wird oft vergessen – geht es uns nahe, wie all diese Menschen fühlen, sich leider zu oft ausgeliefert und allein gelassen empfinden. Das muss sich unbedingt ändern!
Nachfolgend werden einige dieser „Selbstzeugnisse“ wiedergegeben.
WENN. ICH DARÜBER NACHDENKE, ...
sind die Jahre wie im Flug vergangen. So bunt, vielfältig und lehrreich war die Zeit in der Pflege. Lange wollte ich es nicht wahrhaben, dass ich größere Pausen zum Erholen brauche, mich letzten Endes nun doch von der Pflege verabschiede. Ich bleibe weiter mit dem Haus verbunden, so dass es sich für mich nicht wie Abschied anfühlt. Durch die lange Arbeit im Heim denke ich oft über das Altwerden nach. Wie wird es mir ergehen? Womit würde ich besser klarkommen: geistig oder lieber körperlich mobil? Mein Verhältnis zum Tod hat sich in all den Jahren geändert. Der Tod gehört zum Leben dazu wie die Geburt. Ich habe keine Angst mehr davor. Zur Aufgabe machte ich es mir, die Bewohner so zu pflegen, wie ich selbst gern gepflegt werden möchte. Diese Einstellung möchte ich allen nahebringen, die sich für den Beruf entscheiden.
EIN LIEBER BRIEF
Sehr berührend finde ich es, wenn sie im Heim und der Ehepartner noch zu Hause lebt. Lissy hat oft das Gefühl, dass sie zu uns abgeschoben wurde. Der Mann will sie nicht mehr. Er ist 90, würde die Pflege seiner Frau nicht schaffen. Auch wenn es mühsam für ihn ist, er kommt in Abständen zu Besuch. Es ist schön, dass die beiden sich Briefe schreiben. Bekomme ich von ihr die Zeilen zu lesen, denke ich selbst über das Leben und das Alter nach. Hier ein Auszug aus einem der Briefe:
„Liebe Lissy!
Der Sonntag neigt sich zum Ende, die Straßen sind leergefegt. Nach meinem traditionellen Spaziergang durch den Park will ich mich zu Wort melden. Die Sonne scheint verhalten. Die Holunder Büsche strömen einen angenehmen Blütenduft aus und die Linden werden auch bald blühen. Damit dürfte der Sommer in die Lande ziehen. Die Zeit fliegt nur so dahin und das Sterben rückt immer näher. Gestern habe ich die 9. Sinfonie angehört. Leider werden die Töne durch die Schwerhörigkeit nicht mehr richtig wahrgenommen, was mich sehr betrübt. Günter hat mir ein Büchlein geschickt unter dem Titel „Das beste Alter ist jetzt".
Schon der Titel ist ein Hohn! Ich bringe es Dir mit. Nun fällt mir nichts mehr ein.
Ich grüße Dich herzlich, Dein Walter.“
WOHL DEM, DER NICHT DARAUF ANGEWIESEN SEIN MUSS
Bericht über den Aufenthalt meines Mannes in einem Seniorenzentrum, Februar 2017 bis September 2020 (Ehefrau, 88 Jahre).
Nach seinem vollbrachten 85-sten Geburtstag plötzliche Lungenentzündung, neuntägiger
Krankenhausaufenthalt, nach der Genesung mit Laufeinschränkung wurde ein Rollator erforderlich. Eine Rückkehr meines Mannes in die eigene, im 3. Stock ohne Aufzug befindliche Wohnung war nicht mehr zuträglich.
Auf Grund der mir als Ehefrau erteilten Vollmacht, konnte ein Heimvertrag abgeschlossen und nach dreiwöchiger Wartezeit in einer Kurzzeitpflege, ein Einzelzimmer mit integrierter Nasszelle in einer Einrichtung (der Wohlfahrtspflege) bezogen werden.
Im ersten Unterbringungsjahr mit Pflegegrad 2, dann 3, brauchte er noch wenig Unterstützung beim Waschen, Zähneputzen, Rasieren oder Kleidungswechsel. Außerdem konnte ich durch meine Besuche alle zwei Tage notwendige Hilfen leisten.
Mit der Beantragung des Pflegegrades 4, wurde auch ein Rollstuhl zugewiesen, der vor allem für die schnellere Bewegung in den Speiseraum diente, leider nicht zur Beförderung in den schönen Gartenbereich. Das oblag dann mir bei meinen Besuchen, denn notwendiges An- und Auskleiden wäre zusätzlich zeitaufwendig.
So stellte ich auch bei diesen Besuchen fest, dass die nur auf den Rollstuhl Angewiesenen nach dem Kaffee- Trinken ihren Mittagsschlaf, mit dem Kopf auf die Arme auflehnend, am Tisch verbrachten. So verlief jeder Tag.
Durch eine im Juli 2019 aufgetretene Blutung im Verdauungstrakt erfolgte eine zweitägige Notaufnahme in die Uni-Klinik - vermutlich verursacht durch eine verschluckte, von mir entdeckte fehlende Zahnüberkronung im Unterkiefer. Im Entlassungsprotokoll wurde auf die Notwendigkeit einer weichen, flüssig begonnenen Kost hingewiesen; diese solle weitere sieben Tage fortgesetzt werden.
Dem entgegen erfolgte diese bis zu seinem Ableben im September 2020. Ich habe ständig die Heimleiterin und den dortigen Arzt darauf hingewiesen, eine gewisse Zeit auch normales Abendbrot mitgebracht und mit ihm im Garten eingenommen. Als ich zwischendurch das übliche Abendessen mitbrachte, unterstellte mir der Arzt, er würde durch Verschlucken daran sterben.
Die verabreichte Gabe bestand zum täglichen Abendessen aus einem eiskalten Brei, wahrscheinlich aus dem Kühlschrank, da bereits viel früher gekocht. Diese veränderte
Nahrungsgabe hatte auch zum weiteren Schwächezustand beigetragen, denn mein Mann war vorher als Gern-Essender und oft Nachschlag Erbetender bekannt. So ist es vorgekommen, dass er versuchte, vom Teller der Tischnachbarn etwas zu ergreifen.
Schwierig ist so ein Leben in einer Aufbewahrung, die eigentlich Pflege erwartet, wenn der Mensch unselbständig geworden ist. Mit meiner Unterstützung in den dreieinhalb Heimjahren konnte ich nach 62 Ehejahren geringfügig zu einem erträglichen Aufenthalt meines Mannes beitragen, zuletzt auch während der Corona-Maßnahmen; so durften Besuche nur außerhalb des Heimes erfolgen, auf den Fußwegen der anliegenden Straßen und nicht im Gartenbereich.
MEINE SICHT AUF DEN BERUF
Ich bin durch einen Zufall in der Altenpflege gelandet, wollte mein Freiwilliges Soziales Jahr eigentlich in einer Kindertagesstätte absolvieren. Als ich zum Bewerbungsgespräch erfahren habe, dass ich doch in einem Pflegeheim arbeiten soll, hatte ich ein großes Fragezeichen im Kopf, was meine Aufgaben dort sein werden. Vor dem ersten Arbeitstag hatte ich große Angst. Ich kam auf eine Station mit 36 Bewohnerinnen und Bewohnern, in meiner ersten Woche lief ich mit einer Pflegekraft mit und sollte vom Zusehen lernen. Es
war eine sehr freundliche und witzige Frau, die einen humorvollen Umgang mit den älteren Leuten pflegte und mit einem Lächeln empfangen wurde. Das gab auch mir ein gutes Gefühl bei der Arbeit und ich ging die zweite Woche gern wieder hin. Nun hatte ich aber keine nette Schwester mehr an meiner Seite.
Ich kümmerte mich also ab sofort allein um 12 Bewohner. Oft stand ich überfordert mit gewissen Krankheitsbildern allein da und kämpfte mich irgendwie durch. Eine echte Herausforderung, doch mein 16 Jahre junger Körper gewöhnte sich schnell an die Arbeit. Und für mich war es normal, sehr schnell zu arbeiten, denn es wurde mir ja so gezeigt. Ich entschied mich für die Ausbildung zur Altenpflegerin, denn ich wollte mehr fachliches Wissen erlernen. Auch finde ich schnell einen guten Draht zu den älteren Menschen
und so dachte ich, das wird ein entspannter Weg in das Berufsleben.
Als Auszubildende wurde ich von Beginn an als volle Arbeitskraft gesehen und auf die Menschen los gelassen ohne viel Erklärungen. Dass ich in diesen 3 Jahren überhaupt fachliches Wissen erlernt habe, verdanke ich einzelnen aufopfernden Pflegekräften, die mich nicht abgewiesen haben, als ich es wagte Fragen zu stellen. Der Beruf der
Altenpflege wurde trotz aller Anstrengung zu meiner Berufung, ich mag die Geschichten der Generation, die man so in keinem Geschichtsbuch findet, und die Beziehungen, die sich in jahrelanger Betreuung aufbauen.
Doch in diesem Gesundheitssystem zu arbeiten, bedeutet viele Abstriche zu machen bei sich selbst und bei seiner täglichen Arbeit. Ich sah in den folgenden Jahren, wie die Qualität der Pflege zunehmend unter dem steigenden Zeitdruck und unter dem eingesparten Personal litt. Viele Kolleginnen und Kollegen gingen in Rente, Stellen blieben unbesetzt und auf dem Dienstplan war immer jemand krank. Denn das System führte leider dazu, es machte auf Dauer krank. Versuche, etwas verbessern zu wollen auf Station, waren erfolglos.
Ich musste feststellen, dass es der Heimleitung nicht wichtig war, dass die Menschen gut gepflegt werden, sondern nur, den maximalen Profit aus jedem einzelnen Pflegebedürftigen herauszuholen. Unser ach so tolles Gesundheitssystem wird seit Jahrzehnten am Laufen gehalten von Menschen, vor allem Frauen, die sich darin bis zum Burnout krank arbeiten, von einer Generation die harte Arbeit und Klappe halten gewöhnt ist. Unter den jetzigen Arbeitsbedingungen werden sich nur noch wenige für diesen Beruf entscheiden und immer mehr diesen Beruf verlassen. Und ich stelle mir die Frage: Wer pflegt mich?
HERR B., 77, HEIMBEWOHNER
Obwohl hier viele kaum noch ansprechbar sind, findet man schon Leute zum Reden. Zuerst übers Wetter, aber dann kann man auch zu anderen Themen kommen. So habe ich mal lange mit Herrn Günther in der Sonne gesessen und wir sprachen über den Krieg, unsere Arbeit, das Heim. Wenn sie aber dann abbauen, wird es immer schwieriger. Viele sind ja auch älter als ich. Über Herrn Starke, meinen gerade verstorbenen Mitbewohner im Zimmer hier, über den habe ich nur gestaunt: Er hat am Computer geschrieben, mit Kopfhörern überm Kopf - und das mit 92 Jahren. Ich sehe ihn jetzt noch hier sitzen. Und nun wohnt schon ein Neuer hier mit im Zimmer, der heute Morgen einfach einen meiner Osterhasen gegessen hat, so schnell habe ich das gar nicht mitbekommen und nun liegen die Papier- und Schokoladenreste noch auf dem Fußboden ...
Er kann eben Meine und Deine nicht unterscheiden und ist auch hier schon ausgerissen - und wurde dann mit der Polizeitaxe zurückgebracht.
FRAU ZÖ., 82, HEIMBEWOHNERIN
„Das Heim hat C. für mich rausgesucht, da hat er sich sehr bemüht. Hier kümmern sich alle rührend um uns und die Verpflegung ist auch gut; ich müsste schwindeln, wenn ich was anderes sagen würde. Im Rollstuhl sitze ich als Vorsichtsmaßnahme, damit ich mich besser betun kann. So fühle ich mich sicherer. Für kurze Wegstrecken nutze ich auch den Rollator. Über unsere Lebensgeschichten reden wir hier kaum, das mache ich eher mit den Enkeln; die interessiert das ... Wenn ich heute mein Leben noch einmal leben könnte - ich würde es genauso wieder machen, vor allem im Schwesternberuf - schwer, aber schön.“
FRAU ZEI., 95, HEIMBEWOHNERIN
„Nachdem ich eines Tages in meiner Wohnung gestürzt war, kam ich in die Vorrunde (Tagespflege) hier im Heim und bin danach gleich geblieben. Nach dem Sturz konnte ich an die Tür klopfen, was meine Nachbarin hörte. Sie hatte einen Schlüssel und rief gleich den Arzt, weil ich auf dem Boden lag. So bin ich hier rein gekommen. Es hat ja keinen Sinn, wenn Sie allein zu Hause rumhutscheln und dann wieder stürzen. Dann lieber ins Heim, wo ich betreut werde und trotzdem ein freies Leben habe. Allein zu Hause rumsitzen ist
nicht schön. Hier können Sie sich zurückziehen, aber auch die anderen zur Unterhaltung suchen.
Das Einzelzimmer hier war dabei für mich eine Vorbedingung. Hier kann ich für mich sein, mal überlegen, was mir das Leben beschert hat. Außerdem ist ja auch das Telefon da; meine Tochter ruft mich jeden Morgen an und fragt, wie es geht und so weiter. Das Lesegerät hier macht mir die Buchstaben ganz groß. Was ich lesen will, muss ich allerdings immer hin- und herschieben. Nach zwanzig Minuten tritt da eine Erschöpfung ein – das ist klar. Das strengt an, wie auch das Schauen auf den Bildschirm.
Ich bin nun 95 Jahre alt, bin ich schon überfällig? Aber ich bin nicht die älteste im Heim und fühle mich gesund, munter und gesprächsbereit. Die vor kurzem verstorbene Mitbewohnerin Ursel fehlt mir wirklich sehr. Aber ich habe mit Gerda noch eine Tischnachbarin, die lieb und nett ist und sich sehr um mich kümmert; wir hantieren viel zusammen und sie hilft mir immer mit, weil ich ja doch schlecht sehe. Es ist sehr angenehm, jemanden an seiner Hand zu wissen, der etwas sagt und führt. So waren wir gestern Abend in der Tagespflege: Da gab es mal ein paar besondere Happen zu essen wie Hackepeter und Matjes – was man sich so wünscht. Das wird ungefähr einmal im Monat gemacht. Das Essen hier kann ich nicht bemängeln; es ist gut, aber eben etwas gleichmäßig. Da ist doch so eine Abwechslung ganz schön und auch der Tisch wird festlich gedeckt und es gibt Bier, Wein, Wasser und so weiter. Ich bin aber heute nicht verkatert. Der Kater geht woanders spazieren. Man muss jeden Tag nett gestalten, damit man was vom Leben hat. Stumpf dahinleben ist nicht meine Art.“
EIN TAG IM WOHNBEREICH
Es handelt sich dabei um eine vollstationäre Altenpflegeeinrichtung eines gemeinnützigen Trägers. Auf dem Wohnbereich befinden sich 37 Bewohner bei voller Belegung und der Spätdienst ist mit einer Pflegefachkraft und einer Pflegekraft besetzt. Zudem ist eine Servicekraft mit da, welche das Kaffeetrinken austeilt und abräumt, ebenso das Abendessen. Betreuungskräfte sind häufig eher in der Frühschicht da und wenn im Spätdienst eingeteilt, dann meist nur bis 17 oder 18 Uhr vor Ort.
Dienstbeginn ist wie immer um 13:30 Uhr auf dem Wohnbereich. Zu Beginn müssen wir täglich selber einen Covid-Schnelltest durchführen. Dies ist bereits zur Routine geworden. Dann geht es auch gleich los. Übergabe mit der diensthabenden Fachkraft vom Frühdienst, in der die wichtigsten Dinge besprochen werden und eine Kontrolle des BTM erfolgt. Dann geht es gegen 14 Uhr schon raus in die Pflege, um die Bewohner*innen zum Kaffeetrinken zu begleiten. Die, die im Bett liegen, werden auf den Rücken gedreht und in eine aufrechte Position gesetzt. Nun bekommen die, welche ihr Essen nicht selbst einnehmen können, ihr Essen von uns gereicht. Das sind derzeit sechs auf der Station. Es waren aber auch schon mal 15 Bewohner*innen, welche von uns ihr Essen gereicht bekamen.
Nach dem Kaffeetrinken werden die Bettlägerigen noch umpositioniert, damit sie sich nicht wund liegen. Gegen 15 Uhr ist dann unsere Pause. Diese wird aber sehr oft durch diverse Klingelrufe der Bewohner*innen, durch Fragen von Angehörigen, die vor Ort sind, oder andere Dinge unterbrochen. Gegen 15:30 geht es dann weiter. Bewohner*innen, welche nicht selbst essen und trinken können, erhalten nochmals ein Getränk. Außerdem werden nun bereits einige Betten aufgedeckt und für den Abend, die Nachtschicht und den kommenden Frühdienst nötige Utensilien wie Inkontinenzmaterialien, frische Wäsche und anderes bereitgelegt.
Eine Bewohnerin wünscht dann um 16:30 Uhr bereits umgezogen zu werden. Nun muss ich als Fachkraft noch die Tropfen der Spätmedikation setzen und dann geht auch schon die abendliche Medizinrunde los. Blutzucker messen, Insulin spritzen, Blutverdünner injizieren, Tabletten verteilen und reichen, ebenso die Tropfen, Augentropfen und Inhalationen.
Nachdem dann alle Bewohner ihre Medikation erhalten haben, erhalten noch zwei von mir ihr Abendessen. Den anderen vier hat bereits die Pflegekraft das Essen gereicht. Ab 18 Uhr geht dann der richtige Stress los.
Die ersten Bewohner*innen beginnen bereits den Notruf zu betätigen, weil sie schon ins Bett möchten. Dies geht dann bis etwa 20:45 Uhr. Nun habe ich in etwa 2,5 Stunden 18 Bewohner*innen für die Nacht vorbereitet und / oder bereits ins Bett gebracht.
Auch die Bettlägerigen erhalten gegen 18 und 20 Uhr noch mal eine Umpositionierung. Zwischen 20:45 und 21 Uhr setze ich noch die festen Medikamente für den nächsten Spätdienst um und bereite meinen Medikamentenwagen für die Spätrunde vor. Nun geht auch der Pflegehelfer nach Hause und ich bin allein auf dem Wohnbereich. Ich beginne auf einer Seite des langen Ganges und gehe nochmal in jedes Zimmer, um nach dem Rechten zu schauen, die Nachtmedikation zu geben, bei den Diabetikern noch mal den Blutzucker zu messen und Insulin zu spritzen, das Spätstück (meist einen Jogurt) zu geben und andere Wünsche wie Toilettengänge, Getränke nachfüllen etc. zu erfüllen. Damit bin ich bis ca. 21:30/21:45 Uhr beschäftigt. Zum Schluss noch schnell die Dokumentation und eine kurze Übergabe an den Nachtdienst, der nun auch da ist.
Das Fazit eines solchen Dienstes ist ernüchternd, denn das ist ein normaler Ablauf. Nun stelle man sich noch vor, dass eine/r unserer 2 weglaufgefährdeten Bewohner*innen die Einrichtung verlassen hat, oder es zu einem Notfall durch Sturz oder anderem kommt. Diese Zeiten hängt man dann meist hinten dran und verschiebt somit seinen Feierabend. Außer in der Pause am Nachmittag ist man fast den ganzen Dienst über auf den Beinen und hat selbst zum Trinken oder mal auf Toilette zu gehen kaum die Zeit. Die Pflege ist eine Fließbandarbeit geworden. Denn wie soll man bitte 18 Bewohner in nur 2,5 Stunden gründlich grundpflegerisch versorgen, geschweige denn mal ein längeres Gespräch führen? Diese Dinge gehen oft im Alltag unter und mindern meines Erachtens nach die Qualität. Aber was weiß ich schon als Fachkraft nach fast 20 Jahren in der Altenpflege. Politik und Gesellschaft haben davon offenbar mehr Ahnung, sonst würde man nämlich einiges ändern.
WARUM ICH ALTENPFLEGERIN GEWORDEN BIN ...
Der pflegerische Beruf in der Altenpflege ist der pflegerische Teil innerhalb der pflegerischen Berufe, der mit den primären Aufgaben der Pflege einhergeht. Hier geht es nicht um ärztliche Hilfstätigkeiten, sondern um Beobachtungen, Beratungen und eindeutige pflegerische Konzepte. Es war für mich der individuellste, kreativste und innovativste Beruf, den ich mir vorstellen kann, und ich habe diesen Beruf verlassen. Gleichzeitig habe ich mir geschworen für diesen tollen Beruf zu kämpfen.
Das beschreibt noch nicht, wie ich auf die Idee kam, Altenpflegerin zu werden, denn wie toll der Beruf eigentlich ist oder sein könnte, habe ich erst mit zunehmendem Wissen verstanden. Einer der wichtigsten Menschen in meiner Kindheit, war meine Uroma. Eine verrückte lustige kleine ältere Dame, welche viel zu erzählen hatte und ich habe ihre Geschichten geliebt. Sie hat den ersten und den zweiten Weltkrieg erlebt und überlebt. Sie hat die Hyperinflation erlebt und die damit verbundene Entwertung des Geldes. Sie hat ihren Kampfgeist und ihren Humor nie verloren. Sie war begeisterte Musikerin und hat damit ihre Kinder ernährt, als ihr Mann aus Stalingrad nicht zurückkam. Meine Uroma hat noch weit nach ihrem 80-zigsten Lebensjahr Schlagzeug gespielt und sie hatte einen Freund, Opa Willi. Sie hat mir erklärt, mit ihm würde sie niemals zusammenziehen, noch einmal für einen Mann die Socken zu waschen, darauf habe sie keine Lust. Ich habe erst Schneiderin gelernt, genau wie meine Uroma, meine Oma und meine Mutter. Es ist nicht der Beruf gewesen, welcher mich wirklich interessiert hätte. Nach einer Orientierungszeit habe ich mich an verschiedenen Krankenhäusern beworben mit der Idee, später ältere Menschen unterstützen zu wollen.
Diese erwachsenen Menschen, welche so viele interessante Geschichten zu erzählen haben. In einem der Bewerbungsgespräche wurde mir erzählt, dass ich direkt Altenpflegerin werden könnte und es war der Weg, welchen ich gewählt habe. Es war toll, erwachsene ältere Menschen zu unterstützen, ihre Eigenständigkeit bestmöglich wieder herzustellen, aber es war auch eine wichtige Erfahrung für mich, Menschen auf ihren letzten Weg zu begleiten. Das Sterben gehört zum Leben dazu.
Dieses ganzheitliche Verstehen von Gesundheit, ist immer mehr aus dem pflegerischen Fokus
verschwunden. Menschen wurden in Arbeitsschritte zerteilt, ihre Autonomie stand und steht nicht mehr im Zentrum des pflegerischen Handelns, hier hat die Ökonomie die Oberhand gewonnen. In der ambulanten Langzeitpflege können einzelne Leistungen gekauft werden, wie der Toilettengang, die Nahrungszubereitung, die Körperpflege usw. Pflegerische Leistungen werden durch schnell ausgebildete Pflegekräfte erbracht und nicht durch Pflegefachpersonen. Mit dem Mangel an Wissen gehen vermehrt Fehler einher, aber wenigstens kann man den kurz ausgebildeten Menschen weniger Lohn zahlen. Die Begleitungen am Ende des Lebens erfolgen durch ehrenamtlich tätige Menschen. Wenn man Glück hat, kann man jene Menschen kontaktieren und sie haben grade Zeit zur Begleitung auf diesem ungewissen Weg, am Ende eines Lebens. Vielleicht gibt es auch Angehörige, welche leider nicht mehr beraten und begleitet werden können. Zum Tod gibt es viel zu wissen, auch um ihn aushalten zu können.
Ich konnte es nicht mehr aushalten, die pflegerischen Fehler zu sehen, die Nichteinhaltung der Autonomie, die Industrialisierung humaner Bedürfnisse, in einem zutiefst sensiblen und menschlichen Beruf. Der alte Mensch ist ein Produkt geworden, mit dem viel Geld generiert werden kann. Ich vermisse die Geschichtenerzähler. Ich vermisse die Menschen mit dem großen Schatz des Erfahrungswissens, inmitten unserer Gesellschaft. Meist wird erzählt, welcher Kostenfaktor entsteht, durch diesen demografischen Wandel. Die Menschen sind völlig aus dem Blick verloren worden.
Eine gute Bekannte hat in den sozialen Medien gefragt, was diese Anerkennung sei, welche sich Pflegekräfte bzw. Pflegefachkräfte wünschen. Ich denke, es ist das Vertrauen in unsere Fähigkeiten. Es braucht keine Arbeitsverteilung und wir wissen sehr wohl, was es braucht, um Gesundheit zu fördern und wieder herzustellen. Wir schreiben und schreiben und schreiben, wir schreiben fremdbestimmt, um eine Rechtssicherheit herzustellen. Dabei haben wir das Modell der fördernden Prozesspflege (siehe auch Monika Krohwinkel). Wir wüssten, wo es Dokumentation braucht und wo nicht. Es geht momentan um eine Rechtssicherheit, aber nicht um eine Ergebnisqualität, im Rahmen eines postfordistischen ökonomischen Konstrukts. Die älteren Menschen sind auf der Strecke geblieben und die Pflegefachkräfte fliehen aus dem Beruf. Ich habe diesen innovativen, individuellen und kreativen Beruf als Altenpflegerin geliebt, aber ich konnte ihn unter den hauptsächlich ökonomischen Bedingungen nicht mehr aushalten. Der alte Mensch als Produkt ist ein zutiefst unmenschliches Konstrukt, innerhalb dieser Gesundheitswirtschaft.
Kerstin Vietze/ Altenpflegerin von 1995 bis 2018
PFLEGE AUS SICHT EINER AUSZUBILDENDEN IN DER GENERALISTIK
Mein Name ist Nadine und ich bin im zweiten Jahr der Ausbildung in der Generalistik. Ich habe zuvor auch schon 10 Jahre in der Pflege gearbeitet und eine Ausbildung zur Gesundheits- und Krankenpflegerin 2011 bis 2014 absolviert, welche ich aber leider aus persönlichen Gründen abbrechen musste. Daher starte ich nun noch mal von vorn. Wir sind im ersten Lehrjahr mit 32 Schülern gestartet und nun nur noch 16. Damit haben sogar 50% innerhalb des ersten Lehrjahres die Ausbildung vorzeitig beendet. Gründe dafür waren z.T. persönliche, eine Nichteignung für den Beruf oder aber auch ein Kaputtspielen durch die Einrichtungen, da es auch Schüler gab, die während der Schuleinheiten am Wochenende noch auf Arbeit sollten.
Nun zu meinen Erfahrungen in der generalistischen Ausbildung. Im Krankenhausbereich laufen nach meinen Erfahrungen die Anleitungen gut und regelmäßig, da hier eine Praxisanleiterin fest für diesen Posten angestellt ist. Ich musste im Pflegeheimbereich allerdings einmal das Heim wechseln, da dort katastrophale Zustände herrschten. Ich muss als Azubi eben auch meine Praxisanleitung einfordern. Ohne Eigeninitiative geht das sonst unter. Im theoretischen Bereich vermisse ich die Fächer Anatomie, Krankheitslehre und Medikamentenlehre sehr stark. Da ich ja schon mal die Ausbildung gemacht hatte, erkenne ich die Unterschiede schnell. Arzneimittel werden nur nebenbei erwähnt, Wirkung und Nebenwirkungen sollen wir aus den Beipackzetteln oder dem Internet entnehmen. Theorie und Praxis sind sich nicht einig, wer welche Aufgaben übernehmen sollte. Man hat auch den Eindruck, dass Heime und ambulante Dienste nicht richtig wissen, wie sie die neuen Ausbildungsrichtlinien umsetzen sollen. Außerdem kein Personal, keine Anleitungen und Dienste, um die personellen Löcher zu stopfen. Daher bin ich auch selbst aktiv geworden, um die Einrichtung zu wechseln.
Die Personalnot herrscht aber nicht nur in den Heimen und Krankenhäusern. Auch die Berufsschule leidet unter Lehrermangel. Man hat auch bei Manchen den Eindruck, dass sie nicht richtig wissen, wie und was sie unterrichten sollen. Es wird alles immer nur oberflächlich angerissen. In die Tiefe bei gewissen Erkrankungen wird nur sehr selten bis gar nicht gegangen, da dafür einfach die Zeit fehle. Nach meinem Dafürhalten sollte die Theorie bundesweit gleich sein, da ja auch die Examen zentral erstellt werden. Nach Aussage der Schule müsse man dann, je nach dem was kommt, noch mal etwas nachsteuern. Die Praxis braucht klare Vorgaben, was vermittelt werden soll.
Also wäre eine Art Katalog mit Inhalten für den ambulanten Bereich und die stationäre Langzeitpflege sehr hilfreich. Der Ausbildungsvertrag sollte mit der Schule geschlossen werden. Damit würde der Druck aus den ersten 6 Monaten genommen werden, wo der Schüler Freiwild ist und für unzulässige Stunden mit der Beendigung innerhalb der Probezeit gedroht wird. Ich sehe da vieles kritisch mit Blick darauf, dass wir nach 3 Jahren eine Stelle als Pflegefachkraft antreten und von uns dann Dinge gefordert werden, welche wir leider nicht gelehrt bekommen haben. Des Weiteren sehe ich auch in Zukunft kaum Auszubildende, welche sich für die Altenpflege spezialisieren lassen, da dieser Berufszweig immer unlukrativer wird und durch den Personalmangel sich kaum noch Schüler dafür begeistern lassen. Und vor allem werden junge Menschen schnell an ihre Grenzen gebracht, was auch die hohe Abbrecherquote zeigt. Nicht jeder ist, wie ich, schon ein paar Jahre älter und gefestigt im Beruf. Das sollte man bei all dem Chaos nicht vergessen.
DER WEG NACH HAUSE
Ich bin so müde. Ich fahre nach Hause, nach mehr als acht Stunden Dienst, und bin so müde. Mein Kopf lehnt an der Scheibe der Straßenbahn, die Augen fallen mir zu. Ich bin so müde. Die Nachtschicht ist immer am schlimmsten. Man ist allein, manchmal mit bis zu 100 Bewohnerinnen und Bewohnern. Heute hatte ich eine Hilfskraft, keine ausgebildete Pflegekraft, eine Hilfskraft, für mehr will der Besitzer meines Pflegeheims kein Geld ausgeben. Ich bin so müde und denke doch über die letzten acht Stunden nach. Das ist immer so, wenn ich nach der Nachtschicht nach Hause fahre.
Wer kommt eigentlich auf die Idee, dass in der Nachtschicht so wenig Personal reichen würde? Das können nur Leute denken, die nie in einem Pflegeheim waren. Nachts herrscht dort immer Betrieb. Bewohnerinnen und Bewohner wachen auf, sind desorientiert und brauchen Beistand. Ich weiß nie, zu wem ich zuerst gehen soll. Ich muss mich entscheiden, Zeit habe ich auch dann nie. Ich versuche sie wieder ins Bett zu bringen, aber das geht selten mit freundlichem Zureden ab. Daran erinnere ich mich noch, wie genervt ich war, die ganze Schicht hindurch, wenn ich etwas zu tun hatte. Ich habe keine netten Worte gefunden, schon
am Abend nicht. Eine Bewohnerin hat wie jeden Abend ihr Schlafzeug gesucht und ich habe mich bei ihr beschwert, ich war so unfreundlich zu ihr und dabei war sie so verzweifelt. Aber in den anderen Zimmern war ja auch zu tun und deshalb musste es wieder schnell gehen, deshalb hatte ich keine Zeit, deshalb habe ich sie angeschnauzt, habe mich beklagt, statt freundlich zu sein. Jetzt bin ich müde und sitze in der Bahn und kann nur daran denken, dass ich immer anders als so sein wollte. Aber die Zeit ist viel zu knapp und wenn es immer nur schnell gehen muss, dann ist man manchmal eben nicht freundlich.
Ich sitze in der Bahn und fahre nach Hause, die Nachtschicht war wieder so anstrengend. Meine Füße schmerzen wie jeden Tag, ich bin so viel gelaufen und bin so müde. Aber eigentlich bin ich noch auf Arbeit und hoffe nur immer, dass ich nichts vergessen habe. Tablettenrunde... alle mussten ihre Medikamente nehmen. Haben wirklich alle ihre Medizin bekommen? Es war keine Zeit zum Freundlichsein, zum Lächeln oder zum Reden. Zum Hinsetzen neben die Bewohnerinnen und Bewohner. Das fällt jede Schicht unter den Tisch, dabei wäre es so wichtig und dabei würde ich es mir so wünschen. Eine Bewohnerin isst nicht am
Tisch und nicht mit den Anderen. Am Anfang habe ich mir noch Zeit genommen und bin mit ihr in den Garten gegangen, dort haben wir uns hingesetzt und ich habe ihr beim Essen geholfen. Sie hat sogar gelächelt, ganz oft, wenn ich sie gesehen habe. Aber dann hieß es, das koste zu viel Zeit. Sie würde schon essen, wenn sie Hunger hätte, hat mir die Heimleitung mit Nachdruck erklärt. Ich wusste Bescheid, so etwas darf es eben nicht geben.
Es war vorbei mit dem Zeitnehmen. Die nächste Schicht, die gerade angefangen hat, als ich gegangen bin, wird nun durch die Zimmer gehen und alle aufwecken. Da ist kein Platz für
Individualität, wir haben nicht die Zeit und oft auch nicht die Kraft.
Ich fahre nach Hause und bin müde und ich habe das Gefühl mich schämen zu müssen, dabei habe ich wirklich alles gegeben. Ich habe mir keine Zeit genommen, mich nicht ausgeruht oder Zeit vergeudet, aber die Arbeit war überhaupt nicht zu schaffen. Es ist jeden Tag dasselbe. Es ist wie ein Fließband voller Menschen statt Werkstücke. Es wird schnell etwas gemacht und dann weiter. Menschlich ist das nicht. Ich weiß, dass ich nichts dafürkann und dennoch schäme ich mich dafür. Und immer wieder frage ich mich, ob ich etwas vergessen habe. Ich fahre nach Hause und in ein paar Stunden fahre ich wieder zum Dienst.
Ausgeschlafen werde ich dann noch nicht sein. Es muss immer nur schnell gehen. Ich mag meine Arbeit, eigentlich mag ich meine Arbeit. Aber so ist es unerträglich, wirklich unerträglich. Und so ist es immer, besonders in der Nachtschicht.
ERINNERUNG AN FRAU L., AUFGESCHRIEBEN VON IHREM ENTFERNT WOHNENDEN SOHN
Nach dem Tod ihres zweiten Mannes war L. 2008 wieder allein und fand Geselligkeit neben der Mittagstischrunde vor allem bei ihrer langjährigen Nachbarin Hannelore, die es allerdings 2013 doch zu ihrer Schwester in die alte Heimat Schönebeck zurückzog. Die Anzahl der sogenannten Bezugspersonen wurde immer überschaubarer, nun eigentlich nur noch Margot und der hilfreiche Nachbar Herbert. Die Jahre jenseits der 80 laufen auf Einsamkeit und Anschlussverlust an die Welt zu, zumal sie eigentlich das
Knüpfen neuer Beziehungen nie so recht gelernt hatte und Tinnitus und erste Demenzepisoden dies immer unrealistischer machten ...
Unversehens und vorher zu oft verdrängt ist das hohe Alter da und nimmt immer mehr Körper und Geist in Besitz. Vor dem Ende kommt der Abstieg und die Gesellschaft will von den einstigen „Leistungsträgern“ nichts mehr wissen, vermag bestenfalls Versorgung, aber keinen Trost zu spenden, von Wertschätzung nicht zu reden. Auch die meisten Nachbarn begegnen den zunehmend Unverständigen mit Unverständnis – ein Teufelskreis. Nur manchmal erfuhr die gealterte L. pragmatisches Einfühlungsvermögen, etwa bei einem Mitarbeiter der Nahverkehrsgesellschaft, der das Ansinnen von Buskontrolleuren abwies, der „alten Frau“ ein Bußgeld aufzuerlegen, weil sie keinen Fahrausweis vorweisen konnte. Den hatte sie zu Hause oder immer wieder mal verlegt und: Die meisten Busfahrer respektierten
das und behelligten sie nicht, weil sie um das Vorhandensein der Monatskarte wussten ... Ein Arrangement in Richtung demenzfreundlicher Kommune?
Die Welt verstand sie schon lange nicht mehr und bemühte sich auch nicht mehr darum. Niemand erklärt ihr mehr die Gegenwart, die Wünsche von Behörden und therapeutisches Handeln ... Der Lebensfilm läuft immer schneller und unbegreiflicher. Bleibt das Gefühl: Mein Wissen und meine Erfahrungen sind unnütz und vor allem veraltet, überholt ...
Halten wir Nachgeborenen doch bitte einen Moment inne in unserem zunehmend komplexen und zeitlich verdichteten Alltag und versuchen zu verstehen, was wir Menschen wie L. tagtäglich zumuten - Hochaltrigkeit als Verlusterleben und -erfahrung: Die Anzahl sozialer Kontakte verringert sich fast schon dramatisch durch das Wegsterben vertrauter Personen aus Nachbarschaft und Bekanntenskreis. Vor Jahren noch sprachen sie manchmal frühere Kunden in der Stadt an und gaben ihr ein aufflackerndes Gefühl vergangener Wertschätzung. Dazu kommt irgendwann abnehmende räumliche Mobilität, also das Verwiesen-Sein auf die Wohnung als letzte Zuflucht. Blieb dort noch die Unterhaltungsindustrie mit Fernsehen und Radio? Sie hörte nur noch das Programm von MDR 1, obwohl englischsprachige Musik,
vornehmlich aus den 1980ern, auch dort den Ton angab – damals hatte sie schon die 70 überschritten und konnte demzufolge mit diesen „Playlists“ nichts anfangen.
Die gewohnte Alltagssouveränität nimmt dann weiter ab, wenn – wie bei L. nach einem Sturz und Krankenhausaufenthalt 2015 – pflegerische Hilfe in der Wohnung unabweisbar wird. Der Alltag wird immer mehr durch wechselndes Personal bestimmt, dass trotz häufig bester Absichten stets die Uhr im Blick haben muss. Glaubt wirklich jemand, dass dies Pflegebedürftigen nicht auffällt, sie zermürbt, verbittert, überfordert?
Diese Form staatlich organisierter Pflege schränkt die Restbestände an Alltagstauglichkeit
weiter ein, deprimiert und entmündigt. L. verbitterte zwar nicht, formulierte aber ihr Einsamkeitsempfinden immer deutlicher. Der fortschreitende Tinnitus trug das Übrige zur Weltabgeschiedenheit bei und so glitt sie immer mehr in eine Parallelwelt, verrauschte das Sein ...
Der Abbau sozialer Bindungen und Kontakte wurde nun von Helfern dominiert. Sie erlitt Fremdbestimmung und -verfügung als alltägliche Erfahrung ohne eine Besserungsperspektive. Ist das unser zivilisiertes Wartezimmer auf den Tod, der soziale vor dem körperlichen Abgang? Dazu kam in den letzten Wochen die Erfahrung eines Abgewiesen-Werdens etwa im Krankenhaus, da man dort „keine medizinische Indikation“ erkennen wollte.
Diese Isolation verschmilzt mit Rückzug in die Kindheit als zunehmendes Einschwemmen von Erinnerungen ins Hier und Jetzt, aus dem L. immer wieder durch die plötzliche Anwesenheit von Helfern herausgerissen wurde. Erinnern - ein letzter Akt von Widerständigkeit gegen eine völlig unbegreifliche Welt?
Es klingt nach, Dein letztes Wort am Telefon zu Deinem Sohn drei Tage vor Deinem einsamen Sterben in der Wohnung: „Mach’s besser“. So etwas bekommt erst im Nachhinein Bedeutung und gibt zwischen den Generationen wohl doch so etwas wie Verantwortung und Hoffnung weiter?
Du lachtest dabei, was Du lange schon nicht mehr getan hattest und der Sohn ahnte in diesem – durchaus erbaulichen – Augenblick nicht, dass es die letzten Worte aus Deinem Munde waren.
FRAU I. ALLEIN ZU HAUS -PFLEGE- UND WOHNSITUATION EINER 93JÄHRIGEN DRESDNERIN
Neben inzwischen leicht verbesserten Wohnbedingungen für die seit über 80 Jahren in dieser Wohnung lebenden Person erlebt sie vor allem die pflegerische Versorgung oft als unerträglich. Sie hat seit 2 Jahren die Pflegestufe II und kann nach einem Unfall ihre Wohnung ohne fremde Hilfe nicht mehr verlassen; das Haus verfügt über keinen Fahrstuhl und zudem über zusätzliche Barrieren im Übergangsbereich zum öffentlichen Fußweg.
Sie wird zweimal täglich vom Pflegedienst versorgt (abends ohne Abendbrot) – Hauptprobleme sind neben häufigem Personalwechsel
1) Mängel in der Versorgung durch de Pflegedienst
1.1) die Pünktlichkeit für die Morgentoilette: Vereinbart zwischen ihr und dem Pflegedienst ist 8:30 Uhr; die AltenpflegerInnen erscheinen aber oft später, mitunter erst nach 11 Uhr; sie wäscht sich sitzend am Waschbecken und benötigt Hilfe beim Rücken- und Füße waschen sowie beim Ankleiden.
1.2) Duschen entfällt nach Sturz trotz Anwesenheit der Pflegekraft inzwischen völlig.
1.3) Frühstück wird oft einfach hingestellt, kaum gefragt, was sie gerne essen und trinken würde
1.4) nach dem Frühstück muss sie allein abräumen: mit Rollator über 2 cm-Schwelle durch Korridor in die Küche – Transport von Geschirr etc. auf Sitzfläche, da sie sich wegen der Hüfte nicht mehr bis zum Transportkörbchen bücken kann
1.5) Medikamentengabe: schon fehlerhaft vorgekommen (4 anstatt 2); Dosissortierung nicht immer eingehalten; einmal wurden beide Tabletten einfach auf dem Tisch wg. fehlender Dose hinterlassen
1.6) Inkontinenzmaterial wird nicht täglich entsorgt. Blieb schon von Donnerstag bis Dienstag im Bad liegen, und das trotz der Hitze im Juli. Wegen Sturzgefahr nachts Inkontinenzhosen.
1.7) Dokumentation – für sie nicht nachvollziehbar und nicht lesbar; keine Zeit für Pflegekräfte zum Vorlesen und Erläutern – also: schnell unterschreiben? - Kein Verzeichnis für die vom Pflegedienst verwendeten Kürzel - Das gilt auch für die Rechnungslegung (kommentarlos hingelegt)
2) Barrieren in der Wohnung, wo sie sich nur mit Rollator einigermaßen sicher bewegen kann:
2.1) Übergänge zwischen Zimmern – Konzentration und Geschicklichkeit gefragt: Übergänge zum Schlafzimmer und zur Küche wurden schwellenfrei umgebaut, dagegen Wohnzimmer/Korridor mit 2 cm Stufe (wenn ihr Gewicht auf den Rollator drückt, schiebt sie den Rollator mit dem Knie und hebt/drückt ihn hoch auf die Schwelle sowie zum Bad
2.2) altersgerechte Wohnungsanpassung – vom Entstehen einer Verschlimmbesserung: Um eine Schwelle vom Korridor ins Bad zu überbrücken wurde ein für den Tritt zu schmales schräges Brett angebaut, wodurch 2 neue Stufen entstanden. Das Brett ist weder trittfest noch kann ausgeschlossen werden, dass sie seitlich abrutscht. Direkt auf das schräge Brett zu treten ist auch deshalb gefährlich, weil es so schmal ist, dass ein ganzer Fuß gar nicht darauf passt. Somit bleibt als einzige Möglichkeit: Drübersteigen!
2.3) Duschen – ein gewagter Luxus: Im Bad selbst ist der Einstieg in die Dusche aufgrund seiner Höhe allein nicht und mit Hilfe nur über einen daneben stehenden Fußtritt zu bewältigen. An der einzigen stabilen Wand der Duschkabine befindet sich ein nur unter gefährlichem Vorbeugen erreichbarer Haltegriff.
2.4) Der Balkon – exterritoriales Gelände: Durch die hohe, mehrstufige Schwelle Balkon nicht nutzbar.
(aufgeschrieben 2015 von bei SWIS engagierten Senioren gemeinsam mit der Betroffenen)
2)
Benennenswert – Alle Aussagen der Wunschzettel
Zugleich startete am Tag der Altenpflege im November offiziell die Wunschzettel-Kampagne
Sie wurden ab Ende Oktober über elektronische Kanäle, Auslagen in Einrichtungen sowie persönliche Kontakte verteilt. Durch die fehlende Unterstützung seitens des PflegeNetzes gelang dies nicht flächendeckend. Hinzu kamen Berichte in der DNN und im SachsenSpiegel am 16.11.2022.
Pressemitteilungen darüber hinaus unterblieben bzw. waren resonanzlos. Ein größerer Artikel nach einem Interview mit der DNN am 08.12.22 fiel offenbar einer Geiselnahme am Folgetag zum Opfer ... Der Wunschzettel selber war von SeniorAktivisten gemeinsam mit dem Bündnis für Pflege erarbeitet worden. Da durch den relativ überschaubaren Rückfluss eine statistische Auswertung wenig Erkenntnisgewinn verspricht und unserem personenzentrierten Ansatz zuwiderliefe, listen wir nachfolgend in diesem Kapitel komplett alle 21 gegebenen Antworten auf, um im Nachfolgeabschnitt 3. einige Häufungen hervorzuheben.
Jeweils mit einer Nummer entsprechend dem Posteingang versehen, äußerten sich die Antwortenden zu folgenden offenen, Fragen:
• Was wünschen Sie sich für Ihre Tätigkeit in der Pflege, für Ihre eigene Pflege und die Ihrer Angehörigen?
• Was fehlt Ihnen? Was benötigen Sie in einer Pflegesituation – sei es als Pflegende*r oder Pflegebedürftige*r??
• Was brauchen wir, um eine gute, qualitative und würdevolle Pflege möglich zu machen?
001 - 78; männlich; wohnt in der Altstadt; abgeschlossene Mietwohnung; Angehörige wohnen weit entfernt; aktiv gelebter Glaube:
Noch ist eine Pflege bei mir (78) nicht nötig. Meine Söhne und Schwiegertöchter wohnen weit entfernt. Ich möchte aber in meinem Wohnumfeld und Bekanntenkreis bleiben. So wünsche ich mir ein partnerschaftlich zusammenarbeitendes Team, wie ich es beim Pflegen meiner Mutter 2011/2012 durch die Ökumenische Seniorenhilfe in Striesen erlebt hatte.
Soziale Kontakte auch im Heim: Bevor eine gute Bekannte pflegebedürftig wurde, haben wir viel miteinander unternommen und uns gegenseitig geholfen. Nun, da sie in einem Pflegeheim ist, darf ich sie nicht besuchen, obgleich sie es möchte.
Bewohnerzentrierung: Ich wünsche mir, dass die Wünsche der HeimbewohnerInnen respektiert werden, solange keine Gefahr für sie oder die Umgebung zu befürchten sind.
Wahrung der Intimsphäre: Pflegedienstmitarbeiterinnen kontrollieren ohne zu fragen die Ordnung im Wäscheschrank meines Vaters und in anderen Schränken, obgleich mein Vater dies nicht möchte. Er traut sich aber nicht es zu sagen. Ich wünsche mir, dass die Privatsphäre meines Vaters respektiert wird, so lange kein Schaden für ihn oder die Umwelt zu befürchten ist.
Nötig sind rechtliche, organisatorische und finanzielle Rahmenbedingungen wie z.B. beim niederländischen Buurtzorg.
Realisierungsvorschlag: Ein Pflegedienst im Stadtbezirk hat mir schon zugesagt, im Pflegefall mich in der von mir gewünschten Weise zu versorgen und dabei partnerschaftlich von mir benannte Personen (Nachbarn, Kirchgemeindemitglieder und Freunde) einzubeziehen. Sollte ich zum Treffen der notwendigen Vereinbarungen nicht mehr in der Lage sein, habe ich dafür meinen ältesten Sohn bevollmächtigt.
002 - anonym:
• Kein Profitstreben von Seiten der Heimbetreiber
• Aufwertung (nicht materiell, da hat sich schon einiges getan) des Altenpflegeberufes, damit sich mehr Menschen für den Beruf interessieren und keine Quereinsteiger eingestellt werden müssen, die keine soziale Ader besitzen und den Beruf nur als sicheren Arbeitsplatz sehen.
• Mehr Menschen mit warmen Herzen und Fürsorge für unsere pflegebedürftigen Menschen.
003 – anonym:
Am besten ist es natürlich immer, wenn die eigenen Angehörigen mit in die Pflege einbezogen werden.
Wenn unsere betagten Mitbürger in einer Pflegeeinrichtung leben müssen, benötigt es für die Unterstützung durch Angehörige auch Anreize wie vor allem genügend freie Zeit an den Wochentagen. Bei Vollzeitbeschäftigten gestaltet sich dies sehr schwierig. Aber viele müssen dies tun, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Ein finanzieller Ausgleich ist in diesen Fällen dringend zu klären. Wenn nur ein Teil der Pflegearbeiten dadurch abgefedert werden kann, sind wir auf dem richtigen Weg. Funktionieren kann das!
Fragt die Pflegekräfte selbst nach ihren Lösungsvorschlägen. Ich glaube auch, an Ideen mangelt es nicht.
004 – anonym.
Es ist beeindruckend, welche Möglichkeiten für Pflege es gibt. Nur ist es schwer, alles zu finden. Ein Pflegeratgeber, der alles bündelt, wäre gut. Vom Brückenteam über mobile Hospizdienste bis Pflegezeit und Familienzeit, über Nachbarschaftshelfer etc.
Leider fand ich niemanden für die Fußpflege. Podologen sind so überlastet, dass sie nicht ins Haus kommen, Pflegedienste dürfen es anscheinend nicht machen. Was tun?
Die Bürokratie ist überwältigend und von Kasse zu Kasse unterschiedlich (TK gut, IKK weniger). Eine Vereinheitlichung und Vereinfachung wäre entlastend. Und aktive Informationen der Kassen über Möglichkeiten, nicht erst auf Antrag.
Nutzung der 125 € (Entlastungsgeld oder wie das heißt) für Nachbarschaftshilfe nicht an Pflegekurs koppeln. Zum Einkaufen o. Ä. braucht der Nachbar keine Qualifikation, aber der vorgeschriebene Kurs reduziert das Angebot.
005 - VS Trachenberge/Tagespflege, Marina mit Team und allen Betreuten:
• Sonnenschirme
• Neues Hochbeet
• Schwungtuch
• Beschäftigungsmaterial für dementiell Erkrankte
• Sportgeräte
006 - Tagespflege (unleserlich) mit Team und allen Betreuten:
• Kontakt zu einer Kindereinrichtung (Märchenstunde oder Spiele-Runde mit den Kindern)
• Kontakt zu einer Therapeutin, die mit Tieren in Einrichtungen geht
007 – anonym:
Ich würde mich auf meiner Station selber pflegen lassen, also: Kinder-, Kranken- und Altenpflege muss so organisiert sein, dass ich sie mir auch selber stets zumuten kann. Das betrifft auch die Mitarbeiter eines ambulanten Pflegedienstes.
Eigentlich haben wir so viel Geld im System, so viel Wissen bei Fachkräften und auch eigentlich das Vertrauen als potentielle Patienten, dass eine fachlich gute Pflege möglich sein sollte und nicht zu sehr auf„die Kosten“ geguckt wird.
Als Pflegebedürftige möchte ich mich darauf verlassen können, dass im Notfall Hilfe leicht erreichbar ist und sich die erforderliche Zeit nehmen kann.
Als Pflegebedürftige will ich, dass es den Pflegekräften gut geht.
Am wichtigsten sind Achtsamkeit und menschliche Zuwendung – also Menschlichkeit in der Pflege.
Pflegekräften fehlt am meisten Zeit und mitunter auch ein Kollege mehr.
Wenn ich Pflegekräfte gehetzt und unter Druck erlebe, steigt auch mein Blutdruck.
Nicht nur mehr Fachkräfte, sondern auch ehrenamtliche Mitarbeiter als Helfer in Alltagsdingen; dafür ist nicht immer eine Fachkraft erforderlich, aber Anleitung und Anerkennung durch die Geschäftsführung und Pflegedienstleiter.
Die Nachbarn „draußen“ sollten wissen, wie es im Heim zugeht und sich vielleicht dort sogar engagieren.
In den Stadtteilen braucht es mehr Pflegestützpunkte, wo auch Angehörige Rat und Hilfe suchen können.
Verwaltung und Politik muss mehr Verantwortung ermöglichen und nicht immer mehr bürokratisieren.
008 - R. Uhlemann, 01309 Dresden; 80; GdB 80 behindert; G+B im SB-Ausweis; Pflegegrad 2
Hallo, Ihr Verantwortlichen im Land, bitte lasst uns alten und nicht sonderlich bemittelte, nichtbehinderte Menschen nicht „DUMM STERBEN!“ Wir haben keine Möglichkeiten das „Fachchinesisch“ in den Ämtern bei den Pflege- und Krankeneinrichtungen zu lesen, zu begreifen und umzusetzen. Habt Ihr keine Möglichkeit für alle diese Menschen, ein einfaches Gerät wie Handy, mit wenigen Tastaturen, zu entwickeln und diese im eigenen Land kostenlos zur Verfügung zu stellen?!
009 - anonym
Auf private Vermittlung hin, habe ich drei Nachbarschaftshelferinnen erleben dürfen. Sie haben Probleme in der Bewältigung ihres eigenen Alltages. Das belastet Helferin und die zu Helfende. Sie kamen von weit her aus der Stadt und bekamen kein Wegezeitgeld. Auch 10 € für die Hilfe motivieren nicht gerade.
Ihnen stehen die unterschiedlichsten eigenen Einschränkungen im Wege: Mangelnde Pünktlichkeit / Zuverlässigkeit / mangelnde Stuktur / evtl. Orientierungssinn / Handhabungen im Haushalt, obwohl der Vorsatz vorhanden ist.
Es sollte eine Auswahl getroffen werden, um nicht beide Seiten zu enttäuschen.
010 - Karin via Pflegebündnis, sie ist offenbar eine Pflegefachkraft
Meine Wünsche als Pflegeheimbewohnerin:
• dass Hilfe kommt, wenn ich sie rufe / brauche;
• dass ich als Person (nicht nur Pflegebedürfige) wahrgenommen, respektiert, mit meinen Gebrechen und Macken akzeptiert werde;
• dass ich Schutz finde vor ggf. An- /Übergriffen von Mitbewohnern
• dass meine Intimsphäre so weit wie möglich gewahrt wird;
• dass ich vom Personal verstanden werde, mit ihm sprechen kann;
• dass eine Atmosphäre herrscht, die ein Miteinander ermöglicht, ich mich nach meinen Möglichkeiten einbringen kann und Anregungen erfahre;
• dass die Pflege auf mein Tempo / meine Befindlichkeit Rücksicht nimmt;
• dass ich Besuch empfangen kann;
• dass ich möglichst in vertrauter Umgebung, in Begleitung Angehöriger / Pflegekraft sterben kann;
• dass ich mir den Heimplatz leisten kann; meine Hilfsbedürftigkeit nicht ausgenutzt wird durch zusätzliche Kosten (z.B. Pflegeausbildung);
• dass die Pflegekosten real sind und nicht auch noch Renditeansprüchen genügen müssen.
als Pflegekraft:
• dass ich für diesen Beruf ausreichend ausgebildet und angeleitet bin; keine Pflege ohne Ausbildung;
• dass ich die Möglichkeit habe, mit anderen meine Arbeit zu reflektieren, Belastungen (mit)zuteilen;
• dass genügend Personal da ist, damit die Betreuung nicht auf das Nötigste beschränkt ist;
• dass genügend Zeit ist, damit ich dem zu Pflegenden gerecht werden kann (keine
Behandlungshetze);
• dass ich als Pflegefachkraft auch Zeit habe für Gespräche mit zu Pflegenden und Angehörigen;
• dass ich Beruf und Privatleben gut in Einklang bringen kann auch bei Vollbeschäftigung;
• dass ich ein Gehalt erhalte, dass der Beanspruchung, Verantwortung, Wertschätzung
entspricht;
• dass die zu Pflegenden im Mittelpunkt stehen, weniger der materielle Druck, keine
Renditeerwartungen.
Alles nichts Neues, leider nicht selbstverständlich. Ich hoffe, dass Ihr damit was anfangen könnt.
011 - Brief einer 83jährigen aus Blasewitz, die selber als Altenpflegerin gearbeitet hat
Da ich mehrere Jahre in der stationären Altenpflege als Schwester tätig war, fällt es mir nicht schwer, einen Wunschzettel zu schreiben, wie ich mir die Pflege privat oder in der Heimsituation wünschen würde. Aus ganz praktischer Erfahrung weiß ich aber leider, dass das Illusionen und Visionen sind, die in der realen Praxis nicht verwirklicht und realisiert werden können, weil die äußeren Voraussetzungen es nicht zulassen.
Personalmangel, Hilfskräfte in der Altenpflege, die aus ganz anderen gelernten Berufen kommen, für diese ist es ein Broterwerb, sehr schwer und keine ,Berufung ?. Im Letzten hängt die Pflege, besonders die Altenpflege, wenn sie gut sein soll neben Fachkompetenz, Einfühlvermögen für den alten, zu pflegenden Menschen, immer von der Einsatzbereitschaft und Verantwortlichkeit jedes einzelnen Pflegers ab, wobei der Hierarchie im Gesundheitswesen immer Grenzen gesetzt sind.
Ich würde mir wünschen:
• dass alte und demente Menschen im Privatbereich und in den Heimen als individuelle,
ganzheitliche Persönlichkeiten angesehen und akzeptiert werden,
• dass in jeder Situation als Pflegender den alten und behinderten Menschen Schutz, Beistand und Anerkennung gewährt wird,
• dass die Kommunikation mit ihnen verständlich, hörbar und mit Blickkontakt passiert,
• dass sie öffentlich nicht diskriminiert und gerügt werden, berechtigte Kritik höflich an sie herangetragen,
• dass man als Pflegender in groben Zügen die Biografie und die früheren Lebensumstände des alten Menschen kennt oder sich erzählen lässt,
• die wenige Zeit, die einem Pflegenden zur Verfügung steht, immer gut nutzen, Gespräche und Kontakt mit ihnen suchen, in der Gruppe nicht wortlos agieren, sondern bei allen Arbeiten versuchen mit ihnen zu sprechen, sie ins Gespräch einbeziehen und immer bei ihren Namen nennen,
• Forderungen und Bitten nicht im rauen Ton und Befehlston äußern
• persönliche Wünsche und Interessen berücksichtigen, soweit möglich,
• die Intimsphäre wahren,
• neben dem Pflegeanspruch sie persönlich ansprechen, geistig motivieren, beim Fernsehen darauf achten, dass sie den Bildschirm im Blickfeld und nicht im Rücken haben,
• als Pfleger mit den Angehörigen im Kontakt und Gespräch sein
• Körperpflege ist ganz wichtig, nicht 0815, es kann aber Situationen geben, wo bei Zeitnot ein kurzes persönliches Gespräch noch wichtiger ist mit körperlicher Zuwendung
• leider ist die schriftliche Dokumentation in der Pflege das Allerwichtigste, dieser enorme Zeitaufwand und Bürokratismus geht dem Heimbewohner an Zeit und Zuwendung verloren
• beim Ankleiden und Auswahl der Anziehsachen ist auf das Wetter und die äußeren Temperaturen zu achten, auch die psychische Befindlichkeit und Geschmack des Einzelnen,
• beim Baden ist die Zimmertemperatur von großer Wichtigkeit
• Lob und Anerkennung sind ganz wichtig z.B. der Kleidung oder der Aura und psychischen
Ausstrahlung, Wichtiges von Unwichtigen unterscheiden
• wenn sich Heimbewohner noch selber ankleiden darauf achten, dass sie nicht zu wenige oder zu viele Sachen anhaben, Kontrolle, Ergänzung
• gute Haut und gute Haut- und Körperpflege besonders im Genitalbereich, besonders bei
Inkontinenz, Schutz vor Dekubitus
• der Personalschlüssel ist in den meisten Heimen nicht befriedigend, daran wird sich aber auch in unserem Sozialstaat wenig ändern, weil es überall um Gewinn und Profit und zu wenig um die Wertschätzung der Alten und Zupflegenden geht
• deshalb ist es für mich persönlich wünschenswert, dass man, solange es gesundheitlich möglich ist, den Lebensabend in den eigenen 4 Wänden erleben kann und darf und dass alle Hilfs- und Pflegeangebote der häuslichen und ambulanten Pflege von Sozialstationen und alle Pflegehilfsmittel genutzt werden, soweit und solange das möglich ist.
012 - Ehepaar, in eigener Wohnung in der Friedrichstadt, 87 und 90 Jahre:
Wir wohnen schon lange in einer guten Wohnung in der Friedrichstadt, mit Fahrstuhl, großer Terrasse und Badewanne mit Einstiegstür. Inzwischen fahren wir kein Auto mehr, nutzen aber die Monatskarte, aber auch den Bringedienst. Wir müssen immer wieder neu lernen, uns einzuschränken und das hat sich eingespielt.
Mit den Jahren wird es immer schwerer, die Wege werden beschwerlicher und führen immer mehr zu Ärzten, Therapeuten, Fußpflege. Da sind die Vormittage immer mit Terminen und Wegen voll, sodass mitunter vor Erschöpfung der Mittagschlaf bis in den Abend dauert...
Manchmal vergisst man auch mal was ...und da müsste man Geist und Körper schulen und trainieren können bzw. dazu angeleitet werden. Das passiert doch in einer Tagespflege?
So machen wir uns (90 mit Pflegegrad 2; 87) Gedanken, wie es weitergehen kann, wir also weiterhin selbständig in der Wohnung und Friedrichstadt wohnen können.
Jetzt wollen wir einen Pflegedienst ansprechen, der zu Hause hilft und evtl. auch eine Tagespflege für ihn ins Auge fassen. Wie findet man aber einen guten Pflegedienst, eine Tagespflege oder so etwas wie die Fußpflege, von der wir eher zufällig erfahren haben?
Pflege ist Vertrauenssache. Die Angst ist ganz einfach da, dass mal einer von uns für eine bestimmte Zeit ins Krankenhaus muss; der andere muss dann eine gewisse Zeit allein klarkommen. Wir sind eben sehr aufeinander eingespielt und wenn einer wegfällt ...?
Wichtig ist uns, dass wir uns verständlich machen können und auch verstanden werden.
Unsere Vorsorgevollmacht haben wir aus dem Internet geholt; die müssen wir uns auch ansehen, ob alles noch zutrifft.
Gut finde ich, dass einmal im Halbjahr der Krankenkasse über die Pflege berichtet werden muss.
013 - Ehepaar im Dresdner Norden in einer eben sanierten Neubauwohnung aus DDR-Zeit; 80 und 82:
Ich bin noch immer völlig aufgelöst und ratlos: Mein Mann hatte vor 2 Wochen einen Schlaganfall und wurde sofort auf die Intensivstation in die Uniklinik geschafft. Dort lag er eine Woche, inzwischen halbseitig gelähmt. Ich besuchte ihn täglich, aber dort hat kaum jemand Zeit mit einem zu reden. die Oberärztin versuchte mir alles zu erklären ... Aber einen Tag später kam ein Anruf von der Krankenkasse, dass mein Mann nun in die Reha muss und erst gar nicht nach Hause entlassen werden kann. Das wusste die Ärztin am Vortag nicht? Ich sollte mich sofort zwischen 3 Kliniken entscheiden, obwohl ich vorher nicht darüber nachdenken konnte und die Kliniken nicht kannte. Das kann man doch niemandem zumuten, nicht mal jungen Menschen, und ich bin 80.
Er wurde also nach G. gebracht, zur Intensiv-Reha. Selber habe ich kein Auto und muss den Transport dorthin immer irgendwie organisieren. Besuchszeit ist zwischen 15 und 17 Uhr und der Klinikchef lässt keine Ausnahme zu – wenn das alle wollten ...
Dort war ich entsetzt: Mein Mann hängt nach wie vor am Tropf und ein großer Schlauch ist in der Nase. Da er sich nach Aussage der Schwester die Schläuche von der Hand entfernt hat, haben sie ihn fixiert und er kann auch den rechten Arm nicht bewegen – der linke ist ja sowieso gelähmt. Dazu kommt der Riesenschlauch in der Nase – in der Uniklinik war der viel kleiner und vermutlich weniger belastend. Aber die Schwester meinte, dass dies „Standard“ sei.
Wenn ich bei ihm bin, drückt er mir die Hand, anders kann er sich nicht äußern. Da er aber auch sehr schwach und erschöpft ist, dämmert er immer wieder mal weg. Ich bin unendlich traurig und fühle mich allein gelassen in dieser kalten Atmosphäre. Zum Glück helfen mir Verwandte, die aber selber mit sich zu tun haben, wie etwa der Umzug eines anderen nahen Verwandten ins Heim ...
Wie soll es nach der Reha weitergehen? Ich weiß es nicht. Unser Bad und auch die Wohnung sind für einen Rollstuhl viel zu eng. Der Pflegedienst könnte dann täglich kommen – bisher habe ich alles allein mit ihm gemacht, obwohl er Pflegegrad 3 hat. Aber ich habe Angst, es allein nicht zu schaffen – und dann noch die enge Wohnung mit Schwellen ...
Werde ich ihn ins Heim geben müssen? Und was wird dann? Wenn ich bedenke, dass wir 60 Jahre miteinander gelebt haben und er als Architekt Bleibendes in Dresden und anderswo geschaffen hat, dann frage ich mich, wie es mit dem Dank der heutigen Gesellschaft aussieht.
014 – anonym (via Briefkasten):
Ich möchte so behandelt werden, wie ich es anderen gegenüber tue, freundlich und achtungsvoll. Hilfe bei täglichen, nicht mehr allein zu bewältigenden Aufgaben, freundlicher Umgang, auch mal ein vertrauensvolles Gespräch.
Für eine gute Pflege brauchen wir Geduld und Verständnis.
015 - anonym (via Briefkasten):
• Anregungen für geistige Tätigkeiten (nicht nur „Mensch ärger Dich nicht!“)
• mehr Einfühlungsvermögen für die Patienten durch Pflegekräfte
• die hygienische Betreuung durch die Pflegekräfte müsste besser kontrolliert werden
• mehr Geborgenheit im Heim gegenüber Pflegenden vermitteln, die zum Teil keine Verbindung zu Angehörigen haben.
016 - anonym (via Briefkasten):
Sollte ich mal in einen Notstand kommen und mich nicht mehr selbst versorgen können, würde ich mich bei Ihnen melden.
Aber wenn man das so hört, kommt jeden Tag eine andere Betreuerin zum Helfen, da wäre ich nicht begeistert!
017 - anonym (via Briefkasten):
Nicht nur in einer Einrichtung untergebracht zu werden, sondern der Befindlich- und Erforderlichkeit, Tag und Nacht gepflegt zu werden.
Dazu ist eine bestimmte Ansprechperson für jeden Pflegenden festzulegen, um mit Kontakten ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, das es ein Wohlfühlen in so einem abgeschirmten Bereich bewirkt. (würde die hohen Kosten rechtfertigen!)
018 - anonym (via Briefkasten):
In einer Heimunterbringung ist nicht nur nach den Essgewohnheiten, sondern auch nach dem Interesse an technischen Gewohnheiten, wie Rundfunk, Fernsehen, telefonieren zu befragen.
Dadurch ist die Handhabung und laufende Unterstützung dabei notwendig. Eine wöchentliche Abwechslung in der Gruppe spricht nur die sich noch selbst beschäftigenden Bewohner
an. Die wöchentliche Sorge um an der Luft zu sein, sollte gewährleistet sein.
019 - anonym (via Briefkasten):
Ich wünsche mir:
• Pflegeheim nur, wenn die Voraussetzungen in der häuslichen Pflege nicht gegeben sind.
• im Pflegeheim ein helles und freundliches Zimmer.
• ein freundliches Pflegepersonal.
• bei behinderten Kranken zweimal wöchentlich ein Aufenthalt an der frischen Luft
• im Pflegeheim keine schlechten Gerüche, wie Urin u.a.
020 anonymer Wunschzettel an die Pflege
Was gefällt mir an meinem Heim?
• Die Sitzgruppe im Wohnbereich, wo ich Besucher empfangen kann
• Beschäftigungsangebote
• Kontakt zu Bewohnern, die ihre eigenen Ideen und Gedanken haben
• Physiotherapie
• Regelmäßiges Baden mit Wannenlift
• Meine Schwiegertochter schreibt Termine für mich in den Kalender in der Ich-Form
• Der wunderbare Ausblick aus meinem Zimmer
Was ist mir wichtig?
• Die Sitzgruppe im Wohnbereich, wo ich Besucher empfangen kann
• Beschäftigungsangebote
• Kontakt zu Bewohnern, die ihre eigenen Ideen und Gedanken haben
• Physiotherapie
• Regelmäßiges Baden mit Wannenlift
• Meine Schwiegertochter schreibt Termine für mich in den Kalender in der Ich-Form
• Der wunderbare Ausblick aus meinem Zimmer
020 anonymer Wunschzettel an die Pflege
Was gefällt mir an meinem Heim?
• Die Sitzgruppe im Wohnbereich, wo ich Besucher empfangen kann
• Beschäftigungsangebote
• Kontakt zu Bewohnern, die ihre eigenen Ideen und Gedanken haben
• Physiotherapie
• Regelmäßiges Baden mit Wannenlift
• Meine Schwiegertochter schreibt Termine für mich in den Kalender in der Ich-Form
• Der wunderbare Ausblick aus meinem Zimmer
Was ist mir wichtig?
• Ich ziehe meine Stützstrümpfe weiter allein an, statt darauf zu warten, bis irgendwann eine Schwester das macht.
• dass ich ein Fach zum Abschließen habe
• dass anerkannt wird, was ich früher gemacht habe
• dass ich noch einen Platz für mein Spinnrad finde (muss nicht in meinem Zimmer sein - eventuell in der Sitzgruppe)
Was stört mich?
• Es ist aber doch gewöhnungsbedürftig.
• Ich fühle mich bevormundet, weil meine Schwiegertochter gesagt hat: „Es geht alles durch meine Hände, was in deine neue Wohnung kommt.“
• Unaufmerksamkeiten vom Personal, z.B. ungeheiztes Bad oder vergessen, das kalte Wasser
abzudrehen
• Ich durfte mein schönes, nostalgisches Bett nicht mitbringen, das mein Mann geerbt und wieder schön gemacht hat – nur die Umrandung war nostalgisch, wir haben ein geprüftes Pflegebett einbauen lassen, aber das wurde vom Heim nicht anerkannt
Ergänzungen anderer Gruppenmitglieder:
• Es ist gut, dass man eigene Möbel mitbringen darf
• Es ist doch erfreulich, mal etwas Positives von einem Heim zu hören – mal sehen, ob sich der Eindruck vom Anfang bestätigt
• Obwohl wir seit 1981 Mitglied der VS waren, bekam mein Mann keinen Heimplatz bei der VS, als er 2017 dringend einen brauchte
021 per E-Mail (Mann, Mitte 60, schwerbehindert, lebt allein im Betreuten Wohnen)
Ich habe Pflegegrad 2. Es wird 4mal am Tag mich besucht und Tabletten ausgeteilt. Und die Hände eingecremt. Ich bin zufrieden und dankbar. Wünsche habe ich keine. Es wird alles Notwendige getan. Wenn Mehrbedarf ist, dann wird es gemacht.
3)
Bemerkenswert – Impulse aus der Auswertung
Versuchen wir überblicksartig und kurz gefasst häufige Erwartungen an gute Pflege aus den Wunschzetteln zu bündeln:
a)
Wünsche sowohl von Menschen, die noch nicht pflegebedürftig sind als auch von bereits
Pflegebedürftigen:
• Verbleiben im Wohnumfeld und Bekanntenkreis (ambulant und stationär)
• gute und komplexe Beratung zur Pflege durch eine Beratungsstelle im Stadtteil
• respektvoller Umgang miteinander und Verständnis füreinander
• Wahrung der Privatsphäre und Akzeptanz der eigenen Persönlichkeit
• gute Körperpflege
• in der Pflegezeit ausreichend Gespräche führen
• regelmäßiger Aufenthalt an der frischen Luft
• Anregungen für geistige Beschäftigung individuell und in der Gruppe, auch Kontakt mit Kindern und Tieren
• ein gut funktionierendes und fürsorgliches Pflegeteam, dass ohne großen Zeitdruck arbeiten und auch auf Wünsche eingehen kann
• Vermittlung des Gefühls des Schutzes und der Geborgenheit durch das Personal
• ein fester Ansprechpartner trotz häufigen Personalwechsels
• bessere Arbeitsbedingungen und mehr Wertschätzung für das Pflegepersonal
• Bezahlbarkeit der Heimkosten
• ausreichend Angebote für Tagespflege und für Fußpflege im Hausbesuch
b)
Wünsche von Menschen, die in der Pflege arbeiten bzw. gearbeitet haben
• andere Menschen so pflegen, wie man selber gepflegt werden möchte
• weniger Bürokratie durch die Übernahme von mehr Verantwortung
• Verbesserung des Personalschlüssels, damit die zu Pflegenden im Mittelpunkt stehen und
weniger der materielle Druck
• außer der Zeit für die reine Pflege sollte ausreichend Zeit für Gespräche, auch mit den
Angehörigen, zur Verfügung stehen
• bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben
• Einbeziehung von ehrenamtlichen Helfern, auch aus der Nachbarschaft des Heimes
• Bezahlung und Wertschätzung entsprechend der Beanspruchung und Verantwortung
Das leitet unmittelbar ins nächste Kapitel über ...
4)
Beanstandenswert – Ein Wunschzettel aus dem Dresdner Bündnis für Pflege
Die nachfolgende Aufzählung lässt Einblicke in den Pflegealltag zu und bedarf der Systematisierung und Strategiebildung; sie wurde uns Anfang Januar 2023 übergeben:
• Qualifizierungsmaßnahmen
• Sicherheit fürs Alter, wenn man nicht vorzeitig in Rente möchte oder kann, aber der Körper oder die Seele nicht mehr mitspielen, gute und wertschätzende Alternativen schaffen
• Rente mit 60 für alle im Schichtsystem
• 35 Stunden Woche
• Übernahme oder Zuschuss für Pflegekosten im Alter für Pflegekräfte (Heimplatz oder ähnliches)
• Mobbingprävention im Pflegeberuf und Teambuildingmaßnahmen
• Strikte Umsetzung der Pflegevorbehaltsaufgaben
• attraktive Vergütung für Fachweiterbildungen (vergleich Industrie, Meistertitel etc)
• Leistungsbezogene Boni individuell für Mitarbeiter (wenn diese sich in Arbeitsgruppen etc. beteiligen)
• Gesundheitliche Bildung bereits im Schulalter (Prävention, Gesundheitslehre) um eigene
Gesundheitskompetenz zu fördern, eigene Gesundheit und Krankheit besser einschätzen und
handeln zu können -> Gesellschaft Handlungsfähig machen im Hinblick auf die demografische
Entwicklung
• moderne, flexible und schonende Schichtmodelle
• eine verpflichtende Pflegekammer
• eine starke Gewerkschaft bzw. einen hohen Organisationsgrad unter Pflegenden
• eine Weiterbildungspflicht für Pflegende
• eine zunehmende Akademisierung der Ausbildung; Unterstützung der
Weiterbildungsstudiengänge und Abschaffung der massiven Studiengebühren
• bei bleibender Generalistik ein Angebot an vertiefenden Weiterbildungen für die verschiedenen Pflegesettings
• ein Einstiegsgehalt von 4000 Euro Brutto für Pflege-Fachkräfte
• Schaffung von attraktiven Arbeitsplätzen für akademische Pflegekräfte (Projekte, Möglichkeiten die Praxis zu verbessern etc.)
• die Einführung einer Dreierspitze auf den Stationen/in den Bereichen (Pflegemanagement,-
wissenschaft und -Pädagogik)
• Ermäßigungen für Sozialversicherungsbeiträge für Mitarbeitende im Gesundheitswesen
• ein wertschätzender Umgang zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern UND UNTER PFLEGENDEN SELBST
• Verordnungsbefugnis für Pflegekräfte für Pflegehilfsmittel und Pflegeleistungen
• Ausbau der ambulanten Versorgung mit bspw. Gesundheitszentren inklusive
Comunityhealthnurses (entlastet die stationären Settings und Notaufnahmen)
• deutlich bessere Unterstützung der Pflegenden Angehörigen, da sie eine sehr große, tragende Säule unseres Systems sind (Äquivalent zur Elternzeit)
• Abschaffung des Kirchenrechts, damit auch Mitarbeiter von kirchlichen Trägern die Möglichkeit haben, für Ihre Arbeitsbedingungen zu streiken
• Benefits für Mitarbeiter des Gesundheitswesens (Ermäßigungen für Gesundheitsleistungen wie Entspannung, Sport, Kurse, Wellness etc.)
• Investition in eine qualitative Umsetzung der Ausbildung und Konzept zur Gewährleistung der mindestens 10% (15 Prozent) Praxisanleitung
• Anerkennung der Pflegedirektion als vollwertiges Mitglied der Geschäftsführung einer jeden Einrichtung
• Etablierung von Pflegediagnosen und -interventionen, um Leistungen der Pflege abbildbar zu machen und sie auch dementsprechend transparent und fair bezahlen zu können
• sinnvolle Personaluntergrenzen auf Basis einer wissenschaftlich basierten Personalbemessung anhand des realen Pflegebedarfs
• Angebote für Pflegekräfte, mehr Anerkennung, bessere Ausbildungsmöglichkeiten, keine
Profitwirtschaft. Die Pflege braucht soviel mehr Menschlichkeit, von allen Seiten. Es ist ein wunderbarer Beruf, der durch so viele Aspekte in den Dreck gezogen wird. Es sollte und muss sich vieles in Zukunft ändern.
• Rückgabe der delegierten ärztlichen Tätigkeiten (Blutentnahme, Infusionen etc.) und gleichzeitig andere Entlastung für Ärzte und Pflege (Hilfskräfte, technische Unterstützungsmöglichkeiten)
• Gesundheitsfördernde Atmosphäre im Krankenhaus für Patienten und Mitarbeitende
• Digitalisierung und Entlastung von Bürokratie und Dokumentation
• dass die Länder ihrer Investitionspflicht wieder vollständig nachkommen
• eine Reform des Finanzierungssystems bzw. DRG Systems (Reformierung der Pflegesätze), damit Gesundheitsleistungen nicht mehr von Profit abhängig sind und falsche Anreize für Operationen usw. korrigiert werden – Pflegevollversicherung
• alles in öffentliche Hand
• ein Umdenken hin zu mehr Prävention und Gesundheitsförderung in der Gesellschaft
• eine angemessene Bezahlung entsprechender Maßnahmen (keine reine Vergütung auf Basis
von Behandlung von bereits bestehender Krankheit)
• Prävention von Gewalt
5)
Verbesserungswürdig - Was die Wunschzettel-Kampagne erbrachte.
Ausgangspunkte für Perspektivwechsel
Wege des Verstehens
Es gibt viele Weisen, die umrissene Situation nachempfinden, vielleicht sogar verstehen zu können – Literatur, Audio- und visualisierte Medien, Dokumentationen aus dem Pflegealltag etc.
Entsprechend unserer jahrelang entfalteten Kompetenzen in der BIOGRAFIEARBEIT MIT BETAGTEN scheint uns eine Annäherung über PFLEGEBIOGRAFIEN eine von vielen Möglichkeiten zu sein, die gesteckten Ziele zu erreichen.
Hier allerdings stehen wir sogleich vor dem Dilemma, dass eine Pflegebiografie nur eine Lebensphase, also kein persönlich-ganzheitliches Dasein in seiner zeitlichen und Beziehungsstruktur abzubilden vermag. Unser Ziel ist LEBEN, nicht Pflegebedürftigkeit. D.h., das Eintreten und fortwährende Dauern von Pflegebedürftigkeit wird in der Biografie eines Menschen eher als störend, Unfall, Krise wahrgenommen, ein Zustand, den mensch am liebsten rasch beenden, überwinden möchte. Fast nie kann das gelingen und so
gehört es zur Pflegebiografie, Pflegebedürftigkeit zu akzeptieren als dauerhafte Abhängigkeit von anderen Menschen und als mehr oder minder intensives Angewiesensein auf „fremde Hilfe“, also auf Hilfe von Dritten aus dem unmittelbaren Umfeld und auf professionelle Unterstützung und Begleitung.
Wenn wir dennoch methodisch den biografischen Ansatz favorisieren, um zu verstehen, was tagtäglich von Betroffenen bewältigt werden muss, dann konzentrieren wir uns tatsächlich auf den Lebensabschnitt eines Menschen, der vor allem von Pflegebedürftigkeit/-abhängigkeit dominiert wird. In der Tat verschieben sich die Koordinaten der Lebensorientierung und Alltagsorganisation immer mehr hin zu den sich aus
Pflegebedürftigkeit ergebenden Notwendigkeiten, ja Zwängen. Dass es sich nicht nur um
„Sachzwänge“ handelt, sondern derlei Notlagen durch einen veränderten sozialen Kontext und
gesellschaftliche Anerkennung gemildert werden können, soll als ein angestrebtes Ziel unserer Bemühungen immer wieder erinnert werden.
In dieser Perspektive kann Wissens- und Verständnisgewinn als heuristisches Ziel erreicht werden, wenn wir folgende Komponenten einer Pflegebiografie beachten:
1. Die Vorgeschichte – wie ein Mensch pflegebedürftig wurde
2. „Krankengeschichte“, also Stadien und Befunde der körperlichen, psychischen und sozialen Situation
3. Bewältigungsgeschichte, also Erkunden der Strategien im Umgang mit Pflegebedürftigkeit
4. Bewältigungsressourcen, als mentaler, intellektueller und sozialer Umgang mit Fokus auf
• Bezugspflege in der Privatsphäre
• Nachbarschaft als semiprivater Nahraum
• institutioneller, städtebaulicher etc. Rahmen im Politischen und Öffentlichen.
5. Persönliche Zukunftsplanung für ein Leben mit Pflegebedürftigkeit.
Diese 5 Indikatoren-Bündel - wir vermeiden bewusst medizinisch einengende Fachbegriffe wie Anamnese oder Compliance - werden individuell erfasst, zunächst also als „Einzelstudien“ aufgeschrieben, vergleichbar einem BUCH MEINES LEBENS, aber eben „nur“ auf das Stadium „Pflegebedürftigkeit“ bezogen.
Erzählende Interviews gehen Hand in Hand mit Beobachtungen; sie werden aufgezeichnet, aufgeschrieben und in sich anschließenden „Sitzungen“ vervollkommnet. Entscheidend dafür ist neben der Erfassungstechnik das kontinuierliche Gespräch mit dem pflegebedürftigen Menschen, seinen Angehörigen und mitmenschlichen Helfern sowie Bezugspersonen in der beruflichen Pflege und bei fördernden Institutionen wie Pflegekasse, Altenhilfe etc.
Anders als beim BUCH MEINES LEBENS steht damit nicht nur der pflegebedürftige Mensch im Mittelpunkt der Erhebung, sondern auch sein mehr oder minder verlässlich geknüpftes Unterstützer- und Bezugsnetz. Deshalb streben wir am Ende tatsächlich eine „Persönliche
ZUKUNFTSWERKSTATT“ an.
Methodenpluralität - Herstellen von Öffentlichkeit im demokratischen, Einfühlung wagenden Diskurs
Methodisch stehen also qualitativ-erzählende mündliche Interviews, Dokumentenanalyse und
teilnehmende Beobachtung im Mittelpunkt, mehr als nur ergänzt durch persönlichkeitsorientierte Verfahren wie „Persönliche Zukunftsplanung“. Dabei formulieren wir den Anspruch, die uns prägenden Leistungen einer Maxie Wander (1933-1977) oder von Winfried und Barbara Junge mit dem Dokumentarfilm „Lebensläufe“ einzubeziehen. Das auch deshalb, weil sie sich für ihre „Erhebungen“ nicht nur die erforderliche Zeit als Ausweis des Respekts vorm „Untersuchungsgegenstand“ nahmen, sondern real eine große Öffentlichkeit mit ihren Büchern, Theaterstücken und Filmen herzustellen vermochten. Das Hinwenden zum Dokumentarischen in Film und Literatur entsprach in der Zeit um 1980 tatsächlich einer
gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung in der DDR, angehäufte und bisher verdrängte Probleme endlich angemessen zu behandeln und würdige Lösungen zu finden. Ging es damals vor allem um Bildung und Geschlechteremanzipation, so stehen heute millionenfache Schicksale einsamer und pflegebedürftiger Menschen und ihres unmittelbaren Umfeldes im Fokus. Allein Letzteres rechtfertigt unseren „Aufwand“!
Indem wir solcherart aus individuellen „Einzelfällen“ ein neues Gesamtbild zusammensetzen und gesellschaftlich abrufbar machen, wird hoffentlich das, was oft als demografischer Wandel, gleichsam statistisch ausgedünnt daherkommt, verstehbar.
Anlässe – Ursachen – Wirkungen – Auswege
Aus Angehörigenbeschwerden über steigende Kosten bei Eigenanteilen in der stationären Pflege im Frühjahr 2022 entsprang schließlich die Aktion „Wünsche an meine Pflege“ um Weihnachten 2022: Ist es nicht so, dass zwischen dem für viele ausweglos belastenden Pflegealltag und den nicht wenigen Bemühungen um alternative Pflegemodelle bspw. über Nachbarschaftshilfe, Bezugspflege etc. eine Lücke klafft, an die sich auch diverse Verantwortungsträger nicht heranwagen? Insofern wird die Aktion kurzfristig nicht abgeschlossen sein können. Das müssen auch wir als Initiatoren zur Kenntnis nehmen, aber überhaupt nichts zu tun, ist angesichts unseres Erlebens und Wissens unerträglich.
Und so erinnern wir uns sozialwissenschaftlicher Fachlichkeit und unserer Jahrzehnte umfassenden Engagement-Biografien und bauen die Ergebnisse der Wunschzettel-Kampagne als Lernimpuls in das sich abzeichnende große Projekt einer nachhaltigen Verbesserung der Verhältnisse in der Pflege ein.
Der Suche nach Gemeinsamkeiten zwischen engagierten Senioren und Pflegekräften ab Juni 2022 folgten Öffentlichkeitsaktionen zum Altenpflegetag u. a. mit jenen Selbstauskünften betroffener am 16.11.2022 (s. 1) und ab Dezember die aufgeschriebenen Wünsche an die Pflege (Wunschzettel – s. 2) und 3)).
Welche Schlussfolgerungen zeichnen sich ab, auch wenn eine wie auch immer legitimierte Repräsentativität in unserem Bemühen zunächst hinter der „Wahrheit des Einzelfalls“ zurücktreten muss?
Leider ist die Reflexion in den (regionalen) Medien eher ernüchternd und beschränken sich Meldungen aus dem Pflegenetz auf ein Fachpublikum bzw. zentrieren sich um ohnehin finanziell kaum noch stemmbare Pflichtaufgaben der Kommunen – beispielhaft steht der o.g. Schriftwechsel mit dem Sozialamt sowie die Pressemitteilung des Pflegenetzes Dresden vom 13.12.2022. Als Zeichen einer wirklichen Überforderung der Vor-Ort-Verantwortlichen wollen wir das hier nicht weiter kommentieren und geben lediglich der Hoffnung Ausdruck, dass auch auf dieser, gewissermaßen unteren Ebene andere Aushandlungs- und Artikulationswege gefunden werden müssen. Das Pflegenetz Sachsen scheint den enorm gestiegenen
Herausforderungen nicht mehr gewachsen ... Das zeigte sich jüngst auch daran, dass man dort mit Innovationen wie „Präventive Hausbesuche“ und bundesweiten und basis-getragenen Bemühungen um eine Reorganisation der Gesundheitsversorgung in den Gemeinden nichts anfangen wollte.
Und: Während vielfach Betroffene die Lasten kaum noch tragen können, resignieren und verstummen - das allein schon muss Verantwortlichen zu denken geben -, ist auch das zurückhaltende Agieren von Wohlfahrts- und Berufsverbänden nicht länger problemangemessen.
Land in Sicht zu einer Solidarischen Pflege - oder nur ein PS?
PS.: In einer tiefgehenden Diskussion u.a. mit Julia Friedrichs/Bildungsforscherin und Journalistin sowie Michael Hartmann/Elitenforscher wurde am 27.01.2023 in Deutschlandfunk Kultur beiläufig die Idee ins Publikum geworfen, in der Bundesrepublik ein „Sondervermögen Pflege“ auf den Weg zu bringen. Warum nicht? Doch das sei Bundesangelegenheit, wenden die ein, die immer alles genau wissen und deshalb nichts tun.
Dem halten wir entgegen, in Dresden zu beginnen, also so etwas wie eine „Stiftung Sorgendes Dresden“ auf den Weg zu bringen, um den Kreis gleich etwas weiter zu ziehen. Innerhalb dieser Stiftung wäre eine „Aktion Pflege-€“ zu prüfen, wo jedeR Pflegebedürftige gebeten wird, monatlich freiwillig 1 € in den Aktionsfonds zu spenden – als Dank an die Stadtgesellschaft und diejenigen in der unmittelbaren Nachbarschaft. Zumindest erwüchse daraus für Letztere auch eine direkte Verpflichtung, Pflegebedürftige gleich nebenan wahrzunehmen.
Eine Utopie? Vielleicht, aber so klein kann es unmittelbar anfangen, ohne dass Pflegebedürftige etwas von anderen erwarten. Vielleicht wäre dann auch „Politik“ bereit, mehr zu tun als Gegebenes immer wieder als leider nicht zu ändern weg zu reden.
10.000 Pflegebedürftige könnten jährlich mit 120.000 € in eine „Vorleistung“ gehen, die den Rest der Stadtgesellschaft bei weiterem Nichtstun beschämen würde. Dass eine solche Leistung auch alle anderen erbringen dürfen, versteht sich von selbst – wie einst der „Kultur-Fünfer“ an der Kinokasse ...
Das vorerst letzte Wort: Wenn aus diesem „PS“ eine Überschrift geworden sein wird, haben wir schon etwas erreicht.
Auch so kann es beginnen ...
Die Probleme sind viel zu groß geworden, um sich in taktischen Debatten zu verausgaben. Wichtiger ist u. E. eine baldige Verbesserung des Alltags für Pflegebedürftige, Angehörige und Pflegekräfte. Lasst uns gemeinsam in die im letzten Abschnitt der Auswertung gewiesene Richtung wirken. Vielleicht schaffen wir damit in einer Stadt wie Dresden ein Klima, das endlich Fortschritte auf Bundesebene zu erleichtern vermag.
Wir sind optimistisch, trotz mancher Probleme und Widerstände, damit zur Verbesserung in Pflegesituationen und -beziehungen Impulse geben zu können und sind gern für Interessierte und ihre Nachfragen, Anregungen und Ratschläge ansprechbar.
Kontakt
Per E-Mail: pflegebriefkasten.dd @gmail.com
Per Post: Pflegebriefkasten Dresden
c/o SIGUS e. V.
Schrammsteinstraße 8
01309 Dresden
Das Dresdner Bündnis für Pflege nimmt am 29. April 2023 an der Messe "DA-SEIN
Gesundheit und Nächstenpflege" teil.
Rathaus Dresden, 10 – 16 Uhr
Erstveröffentlichung auf dieser Seite: 26.4.2023
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