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Hannoversche Erklärung der Seniorenverbände aus der Bundesarbeitsgemeinschaft

Foto: H.S.

28.11.2021 - von Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen

Die Welt verändert sich. Die Menschheit steht vor enormen Herausforderungen. Pandemie, Klimawandel, kriegerische Auseinandersetzungen und gesellschaftliche Umbrüche verunsichern und ängstigen viele.

Vertrautes verschwindet und alte Gewissheiten geraten ins Wanken. Lösungswege, die als erprobt galten, scheinen nicht mehr zu taugen. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft
sind gefordert, neue Lösungen zu entwickeln. Wir Älteren sehen uns in der Verantwortung, daran mitzuwirken.

Wir sehen es als Geschenk, in dieser Gesellschaft alt werden zu können. Wir Älteren haben im Laufe unseres Lebens vielfältige Erfahrungen machen können. Wir haben vieles gelingen und manches scheitern sehen und beurteilen die Welt heute aus den daraus gewonnenen Erkenntnissen und Einsichten. Trotz aller Widrigkeiten und Unzulänglichkeiten im Alter wissen wir: Es ist ein Geschenk, in dieser Gesellschaft alt werden zu können.

Während unseres Berufslebens haben wir dazu beigetragen, wissenschaftliche und
technologische Erkenntnisse, Dienstleistungen und Produkte zu entwickeln, die noch lange Zeit zur Leistungsfähigkeit unseres Gemeinwesens beitragen werden. In der Familien- und Sorgearbeit haben sich vor allem die Frauen in hohem Maße engagiert. Viele von uns geben ihr Wissen und Können auch im Alter weiter und beteiligen sich an der Ausbildung Jüngerer oder an der Erhaltung der kulturellen und sozialen Infrastruktur des Landes. Auf unsere Lebensleistungen blicken wir mit Stolz.

Die Mehrheit unter uns Älteren erfreut sich eines Lebens in Freiheit und materieller Sicherheit. Wir leben länger als frühere Generationen und haben bessere Bedingungen,
mit den Belastungen des Alters umzugehen als die Generation unserer Eltern und Großeltern. Viele von uns sind fit und aktiv, und zwar auch dann, wenn sie mit körperlichen oder geistigen Einschränkungen leben müssen. Wir sind offen für Neues, nachdem wir die Verpflichtungen und Belastungen der Erwerbstätigkeit und Familienarbeit hinter uns lassen konnten. Ein gut entwickeltes Gesundheitswesen hilft uns, mit Erkrankungen und Einschränkungen umzugehen, unser Sozialstaat vermittelt Sicherheit und schützt die meisten von uns vor Armut und Not.

Auch für Zeiten von Pflegebedürftigkeit und für die letzte Lebensphase gibt es Strukturen
der Unterstützung, die allerdings dringend verbessert werden müssen.

Die meisten von uns führen ein selbstbestimmtes Leben. In der Coronakrise sind wir älteren Menschen pauschal zur „Risikogruppe“ erklärt worden, wodurch sich viele zu Recht diskriminiert fühlten. Wir sind dankbar für die notwendigen Anstrengungen zum Schutz der besonders Gefährdeten. Pflegekräfte mussten häufig bis weit über die Grenze des Zumutbaren arbeiten. Entscheidungen von Politik und Einrichtungsleitungen führten vielfach aber zu einer Überbehütung und dazu, dass die Grundrechte der Menschen in stationären Einrichtungen erheblich ein-geschränkt und zum Teil massiv verletzt wurden – bis zu dem Punkt, dass Menschen nicht voneinander Abschied nehmen konnten, als das Leben zu Ende ging. Dazu darf es nie wieder kommen.

Es trifft zu, dass mit der Zunahme der Zahl der Hochaltrigen der Bedarf an Hilfe und Schutz für uns ältere Menschen wächst. Doch die meisten von uns führen ein selbstbestimmtes Leben. Viele beteiligen sich aktiv am Alltag unserer Quartiere und Kommunen und bringen sich ehrenamtlich ein.

Nicht wenige von uns übernehmen Pflegeaufgaben für Angehörige und Freunde, entlasten und unterstützen die Jüngeren in der eigenen Familie mit ihren Zeitressourcen, häufig auch materiell. Damit helfen wir nicht zuletzt den mittleren Generationen, ihre Aufgaben in der Arbeitswelt wahrnehmen zu können.

Die uns geschenkten Jahre verlängern auch die Zeit, in der wir für unsere Kinder, Enkel und oft auch Urenkel da sein können. Nie zuvor haben ältere und jüngere Menschen so lange miteinander leben können und Erfahrungen austauschen dürfen wie heute, nie zuvor war das Generationenverhältnis in den Familien so entspannt wie heute. Wir dürfen die Generationen unserer Kinder und Enkel aufwachsen sehen und erhoffen für sie ein gutes Leben.

Wir wollen zum Erhalt der Lebensgrundlagen und zu mehr Gerechtigkeit beitragen. Wir erkennen, dass die Lebens- und Wirtschaftsweise der letzten Jahrzehnte die Zukunft unseres Planeten aufs Spiel setzt und, wenn wir nicht zügig handeln, kommenden Generationen Chancen für ein gutes Leben verbaut.

Wir Menschen in den Industrieländern leben über unsere Verhältnisse. Darum teilen wir die Sorge vieler junger Menschen um den Klimawandel und unterstützen ihren Kampf um bessere und nachhaltigere Lebensformen und Generationengerechtigkeit. Unsere Demokratie bietet dafür Raum.

Wir ermuntern die jüngere Generation ausdrücklich, ihren eigenen Weg zu suchen und zu finden. Weil Klimaschutz aber eine Aufgabe aller Generationen ist, die erfordert, alle Perspektiven einzubeziehen, wollen wir mit den jüngeren Generationen im Dialog bleiben und uns mit ihnen gemeinsam der Herausforderung stellen.

Wir wissen, dass die Lebenschancen auf der Welt ungleich verteilt sind und dass unser
Wohlstand nicht länger zulasten der Menschen im globalen Süden gehen darf. Uns ist auch bewusst, dass die Folgen wie Ressourcenmangel, Hunger und Migration auch uns betreffen. Wir Älteren wollen mit unserem Verhalten zu einer gerechteren Welt beitragen. Wir stehen in der Verantwortung, unseren Kindern und jungen Menschen ein Verständnis für eine solidarische Weltgemeinschaft und ein Leben in Frieden und geteiltem Wohlstand zu hinterlassen.

Auch in Deutschland sind die Lebenschancen weiterhin ungleich verteilt. Vielen von uns geht es im Alter deutlich besser als der Generation unserer Eltern und Großeltern. Doch dies trifft nicht für alle zu. Für nicht wenige führen niedrige Löhne und unterbrochene Erwerbsbiografien später in die Altersarmut. Das trifft insbesondere Frauen, die den größten Teil der Familien- und Sorgearbeit übernehmen. Wir sehen zudem mit Sorge, dass die jüngeren Generationen in eine Arbeitswelt hineinwachsen, die eine verlässliche Lebensplanung erschwert. Und wir sehen mit wachsendem Unbehagen, dass sich viele Menschen von Vernunft und seriöser Wissenschaft abwenden und dass Vorurteile, Hass und gesellschaftliche Spaltung zunehmen. Wir werden demgegenüber mit Zuversicht und gegenseitigem Vertrauen weiter an einer Gesellschaft arbeiten, die allen gleiche Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten einräumt, egal zu welcher Generation oder sozialen Gruppe sie gehören.

Mit unserem Engagement tragen wir zu einer solidarischen Gesellschaft bei. Wir Älteren und Alten wollen unsere vielfältigen Erfahrungen in die Gestaltung einer nachhaltigen und lebenswerten Zukunft einbringen und unseren Beitrag zu einer lebendigen Zivilgesellschaft leisten. Schon heute engagieren sich viele von uns in einem hohen Maße ehrenamtlich, zum Beispiel in Lese- oder Ausbildungspatenschaften, in gemeinschaftlichen Wohnprojekten oder Nachbarschaftsinitiativen, in der Begleitung Hochbetagter, in der Übungsleitung im Sportverein, in der kommunalen Seniorenvertretung, in der Kulturvermittlung oder als Internetlotsinnen und -lotsen, in der Flüchtlingsarbeit, in Friedens- und Umweltgruppen oder bei den Tafeln. Ohne dieses ehrenamtliche Engagement müssten viele Vereine, Verbände, Gewerkschaften, Kirchengemeinden und Initiativen ihre Arbeit einstellen. Wir genießen die Freiheit von den Verpflichtungen des mittleren Lebensalters und bringen uns gern mit unseren Fähigkeiten und unserer Erfahrung ein. Dieses Engagement ist ein Beitrag zur Generationengerechtigkeit und zu einer solidarischen Gesellschaft.

Die Kommunen sind der Ort, wo solche Teilhabestrukturen gefördert und koordiniert werden müssen. Wir wissen, dass auch wir immer wieder dazulernen und unsere Kompetenz erweitern
müssen, nicht nur für unser eigenes Leben im Alter, sondern auch zum Wohl der nach-
folgenden Generationen. Das lebenslange Lernen befähigt uns zur Mitgestaltung der Zukunft.

Die Vielfalt in unserer Gesellschaft sehen wir als Bereicherung und Herausforderung. Wir Älteren wollen unser Leben selbstbestimmt und nach unseren Vorstellungen gestalten. Wir möchten nicht in starre Rollen gepresst werden. Wir erleben die Lebensphase Alter unterschiedlich und erwarten sowohl Spielräume und Möglichkeiten zum Aktivsein als auch Rücksichtnahme, Unterstützung und Hilfe bei Einschränkungen.

Die Vielfalt der Gesellschaft spiegelt sich auch bei uns Älteren wider: Wir sind Menschen mit unterschiedlichen Lebensläufen, mit und ohne Migrationsgeschichte, Menschen mit und ohne Behinderung oder mit unterschiedlichen sexuellen Identitäten und Orientierungen, Menschen in prekären Lebenssituationen oder mit gesichertem Einkommen, Menschen mit verschiedenen Bildungsabschlüssen und Menschen mit oder ohne Unterstützungsbedarf. Wir wollen, dass niemand diskriminiert und vernachlässigt wird und dass Barrieren jeglicher Art abgebaut werden, damit Teilhabe für alle möglich ist.

Der Anteil der Menschen mit Zuwanderungsgeschichte wird in den nächsten Jahren weiter wachsen. Die zunehmende Vielfalt, insbesondere die kulturelle, sehen wir als Bereicherung. Aber Vielfalt ist auch eine Herausforderung: Eine Gesellschaft der Freiheit muss verschiedene Interessen untereinander ausgleichen, dazulernen, alte Gewohnheiten in Frage stellen und das Gemeinsame und Verbindende suchen. Wir sehen uns Ältere in besonderer Verantwortung für den Erhalt der Demokratie.

Unser Motto:
„Wir. Alle. Zusammen.“
Eine Gesellschaft des langen Lebens ist keine Gesellschaft der Belastungen und Beeinträchtigungen, sondern eine Gesellschaft neuer Möglichkeiten und Chancen. Sie zu
nutzen ist ein Gebot der Stunde. Ob dies gelingt, hängt auch von uns älteren Menschen
ab.

Schon heute praktizieren wir mit vielen Millionen Menschen, die sich in den Verbänden
der BAGSO zusammengefunden haben, Toleranz und Verständnis, Offenheit, Solidarität
und gegenseitige Unterstützung – nicht nur für unsere eigene Generation. Wir nutzen die „späte Freiheit“, um uns aktiv in die Gestaltung unserer Gesellschaft einzubringen. Wir tun dies aus eigenem Antrieb und erleben dabei, dass wir gebraucht werden.

Wir laden alle Generationen zum Mitmachen und gemeinsamen Gestalten ein:
Wir. Alle. Zusammen.

Hannover, den 25.11.2021

Quelle: BAGSO Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen