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16.09.2021 - von DIMITRIS KOUTSOUMBAS, Gunnar Decker
In einem Klima der Rührung wurde die Abschiedszeremonie für den großen Komponisten Mikis Theodorakis in der Metropolitankirche von Athen abgeschlossen. Massen von Menschen jeden Alters schickten Mikis Theodorakis einen herzlichen Abschiedsgruß und waren trotz des Nieselregens rund um die Metropoliskirche anwesend, um dem großen Komponisten das „letzte Geleit“ zu geben.
Die Abschiedsreden für Mikis Theodorakis bei der Zeremonie hielten die Präsidentin der Republik, Katerina Sakellaropoulou und der Generalsekretär des ZK der KKE Dimitris Koutsoumbas.
Zur staatlichen Trauer waren drei Trauertage angesetzt.
Abschiedsrede für MIKIS THEODORAKIS von DIMITRIS KOUTSOUMBAS, vom Vertreter des ZK der Kommunistischen Partei in Griechenland:
„`Es beben die Straßen und Märkte` nach der Nachricht von deinem Verlust, unser geliebter Mikis. Massen von Menschen jeden Alters, aus allen Generationen sind an diesen drei Tagen hier, um dich zu verabschieden.
Bescheiden, aber nicht stumm.
Mit deinen Liedern verabschieden wir uns von dir, wie es denen gebührt, die mutig die Welt verlassen. Und ein Flüstern geht von Mund zu Mund: „Ohne Mikis werden wir anders sein“.
Und so ist es. Ohne dich werden wir anders sein.
Ein majestätischer Damm gegen das Vergessen, eine Lobeshymne auf die Heldentaten unseres Volkes im 20. Jahrhundert ist dein Werk.
Es brachte diejenigen zum Schweigen, die versuchten, ihr Andenken zu verdunkeln, korrigierte die Lügen, ließ ein ganzes Volk stolz auf sein Vermächtnis und seine Bewunderung für diejenigen sein, die es durch ihren Kampf ehren und sich bemühen, es zu vergrößern.
Impulsiv, revolutionär, voller Leidenschaft, eine Zusage ist deine Musik, dass unsere Welt verändert werden muss und verändert werden kann.
Mit ihrem glitzernden Schwert, das Angst, Defätismus und Gleichgültigkeit vertreibt, verkündet sie einen Neuanfang, entzündet Träume, lässt dich „schauen, was du tust“, erfüllt die Herzen mit Sonnenschein.
Du hast uns die Macht des griechischen Volkes gezeigt, die Macht der Völker der Welt. Zweifellos verstandest du es gut, den Glauben zu verankern, dass Recht, Frieden und Glück erreichbar sind.
Je robuster und stärker deine Kunst dem Unrecht entgegentritt, desto zarter und sanfter weiß sie das Schöne und Gute im Leben und auf der Welt zu liebkosen.
Du hast „die mächtigen Adler mit den goldenen Engeln“ verbunden und uns gelehrt, dass man sensibel sein muss, um stark zu sein.
Mit heiliger Hingabe hast du unsere Sensibilität kultiviert, du hast uns gelehrt, dass wir uns in den
Stürmen an einer Blume festhalten können.
Du hattest Vertrauen in das Volk.
Du hast, und nicht zu Unrecht, geglaubt, dass nur das Volk die höheren Schöpfungen des Menschen, wie Kunst, Poesie, Musik, verstehen und sich aneignen kann.Es reicht, dass ihm jemand die Schlüssel gibt.
Deshalb hast du das poetische Wort nicht nur wunderschön vertont, ohne es zu verraten. Du hast es neu erschaffen und es in die Form gebracht, die direkt in die Volksseele eindringt.
„Du hast die Poesie auf den Tisch des Volkes gebracht, neben sein Glas und sein Brot“, wie Jannis
Ritsos über dich schrieb.
Es ist nicht nur der „Epitaph“, das unwiederholbare Zwiegespräch deiner Musik mit der Poesie von Ritsos, die durch die erschütternden Interpretationen von Bithikotsis und Chiotis, zusammen mit dem Tod zu einer zeitlosen Volkstrauer und Hymne wurde, die die Zukunft befruchtet.
Du hast es geschafft, mit der erhabenen Poesie zur Volksseele zu sprechen, sogar noch durch anspruchsvolle und für das Ohr des Volkes ungewöhnliche Musikformen, wie
- im „Axion Esti“ von Elytis,
- im „Epiphania-Averoff" von Seferis,
- im „Spirituellen Marsch“ von Angelos Sikelianos,
- im „Canto General“ von Pablo Neruda u.a.
Ohne dich als Wegweiser und Wegbereiter dieser neuen Kunst wäre die Musik anders.
Ein tiefer Fluss ist dein Werk, noch unerforscht. In ihm koexistieren fast alle Arten von Musik:
Von den Straßenliedern des Volkes und dem Volkslied, bis zur antiken Tragödie, dem byzantinischen Gesang, der symphonischen Musik, dem klassischen Lied, den Oratorien.
Wir sind es dir also schuldig, dafür zu sorgen, dass alle Schätze deiner Musik den Menschen breit geöffnet werden.
Wir sind es dir schuldig, weiterhin deinen großen Traum einzufordern, dass die Schätze der ganzen Musikgeschichte zum Volk gelangen, bis sich dieses in einer höheren Gesellschaftsform erfüllt, in der alle seine Mitglieder die Kunst verstehen und genießen können. Sogar ihr schwierigstes und abstraktes Genre, die Musik, diese Kunst, die dir von klein auf, seit du Beethovens 9. zum ersten Mal gehört hast, den Verstand raubte und machte, dass du mit ihren Augen die Welt gesehen hast.
„Die Kämpfe und die Musik sind jetzt so tief in mir verwurzelt, dass ich mir weder den Kampf ohne
Gesang noch den Gesang ohne Kampf vorstellen kann“, hast du gesagt.
Dein ganzes Leben lang hast du mit einer Hand das Gewehr gehalten und mit der anderen deine Partituren.
Und das ist keine Metapher.
Sogar in Makronissos, an diesem albtraumhaften Ort des Martyriums, hast du Musik geschrieben.
Dort hast du dein erstes symphonisches Werk geschrieben, die Symphonie über Makronissos.
Dort hast du verstanden, wie wohltuend das Schaffen ist, wenn man Schmerz und Bestialität
ertragen muss, wie gut es für die Mutigen wird, die, die aufrecht bleiben und ihren Blick nicht
senken.
Auf die Frage, für wen du schaffst, hast du immer geantwortet: Für das Volk.
„Und sogar wenn ich symphonische Werke komponiere, denke ich immer an das Volk. Ich strebe danach, von den einfachen Arbeitern verstanden zu werden, weil ich glaube, dass sie die Hauptkraft sind, die die Geschichte vorantreiben“, sagtest du bei der Verleihung des Lenin-Preises.
Und dann hast du oft gesagt: „Was wir geschaffen haben, haben wir vom Volk genommen und wir geben es dem Volk zurück“.
Und das war keine Bescheidenheit.
Es war dir zutiefst bewusst, dass für dein persönliches künstlerisches Gelingen, deine Zeit eine wichtige Rolle spielte, dass sich in der besonderen Art deiner Kunst das Handeln des Volkes widerspiegelte.
Das ist auch das Geheimnis der großen, wahren Kunst, der Kunst, die den Puls der Zeit trifft und
auf das Kommende lauscht.
Dass sie ihre Kraft aus der Menschlichkeit, aus den Leiden, dem Elend, den Erinnerungen und den Hoffnungen des Volkes schöpft und diese Menschlichkeit ihren Schöpfern zurückgibt. Aber ein tieferes Bewusstsein der Menschlichkeit: Das Bewusstsein der Kraft, über die unter allen Geschöpfen nur der Mensch verfügt, die ihn umgebende Welt seinem Bedürfnis nach Gerechtigkeit und Glück zu unterwerfen, sie nach seinen Maßen zu verwandeln.
So hast du, als du für dein eigenes Volk geschrieben hast, gesehen, wie deine Musik die Grenzen des Landes durchbrach, da ihre Sprache die Universalität der gemeinsamen Leiden, der Hoffnungen, der Visionen „aller ehrlichen Menschen der Erde, die gegen Tyrannei und Gewalt und die Ausbeutung kämpfen“, die Herzen aller Völker berührt, unabhängig von Nationalität, Sprache, Religion und Rasse.
Deshalb kommen in diesen Tagen Dutzende von Beileidsbekundungen aus allen Ecken der Erde von kommunistischen und Arbeiterparteien, von vielen anderen fortschrittlichen Organisationen aus allen Kontinenten.
Von denen, die das Gefühl haben, einen Menschen ihrer Art verloren zu haben.
„Der Künstler, der im Kampf lebt und schafft, sichert seinem Werk einen besonderen Platz“, hast
du erklärt.
Und tatsächlich hat dein Werk den Mythos zerstört, dass Engagement die Kunst zerstört.
Dein Werk ist ein brillanter Beweis dafür, dass große Kunst immer politisch ist, egal ob es ihr Schöpfer will oder nicht.
Du warst der unerschütterlichen Überzeugung, dass deine Teilnahme an der Aktion des Volkes das war, was deinem Schaffen „Strom“, das ihm „Feuer“ gab, dass es nicht ausreicht, dass der Künstler nur mit seinem Werk nahe am Volk ist, sondern es auch mit seinem eigenen Leben sein muss.
„Er darf sein Leben nicht vom Leben des Arbeiters, vom Leben des wegweisenden Volkskämpfers trennen“, „er muss ein einfacher Soldat in der unbezwingbaren Armee der Menschen des Volkes sein“, die für ihr Leben kämpfen.
Deine Worte.
So bist du mit den ungerecht Behandelten auf brennenden Straßen marschiert.Schon früh bist du „den Weg der Sonne gegangen, hattest die Lyra der Gerechtigkeit umgehängt“, für unser Volk, für alle Völker, ein neuer Solomos, ein weiterer Barde der Freiheit, mit allen Erfordernissen unserer Zeit.
Ab deinem 17. Lebensjahr organisiertest du dich in der EAM und kurz darauf in der KKE und nahmst an unserem nationalen Widerstand teil.
Im Dezember 1944 kämpftest du mit der 1. Kompanie des 1. Bataillons der Reserve der ELAS in
der Schlacht um Athen. Und du warst so stolz auf deine Teilnahme an diesem Höhepunkt des Klassenkampfes in unserem Land, dass du viele Jahre später sagen wirst: „Wenn es einen Grabstein gäbe, was würdest du wollen, dass auf ihm steht: Er kämpfte im Dezember“.
Nach der Niederlage der Demokratischen Armee hast du mit deinen Genossen die grausamen Verfolgungen des bürgerlichen Staates im Exil in Ikaria und dann in Makronissos geteilt, wo du schrecklich gefoltert wurdest.
Dort war es, nach deinen eigenen Worten, wo das „Ich“ zerbrach und zum „Wir“ wurde.
Anschließend kämpftest du innerhalb der EDA und bei den Lambrakisten für die soziale und kulturelle Renaissance, wobei du dein illegales Vorgehen gegen die Diktatur der Obristen 1967 mit neuen Prüfungen, Gefängnissen und Verbannung bezahlen musstest.
Mit deinen unzähligen Auslandskonzerten bis zum Fall der Diktatur hast du die Botschaft von Widerstand und Freiheit in die ganze Welt und dann nach ganz Griechenland getragen.
Deine Lieder, die wir in all den dunklen Jahren im Geheimen gesungen haben, überschwemmten alles, die Kneipen, die Baustellen, die Schulen, die Universitäten, die Ausflüge, die Versammlungen und die Demonstrationen.
In deinen erschütternden Konzerten und bei den KNE-Festivals, in einer Verbindung deiner Musik mit den Leuten, wurde der Glaube groß, dass wir mit unseren Kämpfen die Welt verändern werden, damit eine bessere Zukunft anbricht.In diesen Jahren kämpftest du als KKE-Kandidat für die Stadt Athen, während du 1981 und 1985
als Parlamentsabgeordneter für die Partei die Rechte der ArbeiterInnen, des Volkes verteidigtest.
In deinem Denken dominierte der Kampf für die „Einheit der Griechen“.
Vielseitig und umfassend talentiert, intellektuell wie du warst, hast du dich nicht auf die Musik beschränkt, sondern hast mit deinem charismatischen Wort in diesen Jahren viele Bücher geschrieben.
Das Besondere an deinem Fall ist jedoch, dass dein künstlerisches Genie auf eine unruhige und wache Persönlichkeit traf, die immer das Bedürfnis verspürte, sich selbst zu überwinden.
Sie warst du bis zum Schluss in allen folgenden entscheidenden Momenten „präsent“ und hast dich auf die Seite der Wahrheit und der Gerechtigkeit gestellt.
Nach dem Sturz des Sozialismus und dem Sieg der Konterrevolution in der Sowjetunion und den anderen sozialistischen Ländern hast du dich nicht gebeugt.
"Aber wir blieben aufrecht und wir dürfen nie vergessen, dass wir es den Tränen und Opfern dieser Tausenden und Abertausenden von pionierhaften Kämpfern verdanken, die fielen, während sie den
Fahnen und Bannern mit dem roten Blut folgten, die brannten und immer noch brennen, den Herzen derjenigen, die für Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, die Rechte unseres Volkes und aller Völker der Erde gekämpft haben und kämpfen“, hattest du damals gesagt.
Stets auf den Barrikaden des Internationalismus hast du die brüderliche Freundschaft der Griechen mit dem türkischen Volk und den gerechten Kampf des palästinensischen Volkes unaufhörlich unterstützt.
Im Kampf gegen „die Wölfe, die nach Blut dürsten und in unserer Region umherstreifen“, hast du unter Beteiligung aller großen griechischen Sänger 1999 das historische Konzert gegen die imperialistische Intervention und die Bombardierungen in Jugoslawien organisiert und mit deinen klaren öffentlichen Äußerungen die „Schakale des Antikommunismus“, wie du sie genannt hast, die antikommunistischen Memoranden des Europarats und der Europäischen Union, die unhistorische Gleichsetzung der Opfer mit den Tätern, von Verbrechern mit Helden, von Besatzern mit Befreiern und der Kommunisten mit den Nazis“ verurteilt.
Du warst auch beim Prozess gegen die kriminelle Nazi-Organisation Xrysi Avgi anwesend.
Anwesend im gerechten Kampf unseres Volkes für die Abschaffung der Memoranden und aller ihrer arbeitnehmerfeindlichen Durchführungsgesetze.
Die Wahrheit ist, wie wir alle wissen, dass wir deinen politischen Initiativen nicht immer zugestimmt haben, aber das was bleibt, das Nachwort des Ruhms, ist das riesige Erbe deines Werks und dein politisches Vermächtnis, das du uns hinterlassen hast, indem die „Details gelöscht wurden“ und das „Große Ganze“ erhalten blieb. Dass du „deine entscheidendsten, stärksten und reifsten Jahre unter dem Banner der KKE
verbracht hast“.
Wir verabschieden uns nicht von dir, Genosse Mikis, weil du nicht gegangen bist.
Du bist in unseren Adern. Du wirst für immer in all dem sein, wofür du gekämpft hast, du wirst für
immer in allen Flüssen der Welt sein.
Und wenn sich die „Träume rächen werden“ und um uns herum das strahlende Leben leuchten wird, wirst auch du, wie immer in den großen Momenten, anwesend sein.
Denn dein Werk wurde zu einem hoffnungsvollen, erneuernden „unüberhörbaren Gesang“ für das griechische Volk und für alle Völker, in der modernen historischen Epoche des Anbrechens der neuen Gesellschaft ohne Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Für die Freiheit in all ihren Formen: Geistig, moralisch, politisch, sozial, für die vollständige, wahre Freiheit.
In deinem Sarg erhebt sich Griechenland, erhebt seine Faust „fasst Mut und wird größer“!
Genosse Mikis, Du bist ein „Licht, das freudig den Hades niedertritt“!
Ein revolutionäres Licht „links oben im Olymp“... Ein Licht, das „immer schimmert“, wie deutsche Zeitungen heute geschrieben haben.
Ein „Licht, das brennt“. „Ein Kind der Notwendigkeit und ein reifes Kind des Zorns“!
Es wird sein, wie du es gewollt hast, wie du es in deinem politischen Vermächtnis „in den großen
Straßen, unter den Plakaten“ mit deinen unsterblichen Liedern festgelegt hast.
Wir werden „die Sonne über Griechenland aufgehen lassen“. Wir werden „die Sonne über der Welt
aufgehen lassen“.
Wenn das Schiff heute Nacht von Piräus aus in See sticht, um das blaue Wasser des griechischen Meeres zu durchqueren, um dich - nach deinem Wunsch - zu deinem letzten Zuhause, zu deinem Herkunftsort, nach Galata bei Chania, in dein geliebtes Kreta zu bringen, wird dich ganz Griechenland mit deinen Liedern begleiten.
Denn auf dich war, um Verse des großen Solomos zu leihen, „der Himmel stolz und die Erde applaudierte“...
Unsterblicher Mikis!“
Link unter: Link youtube unter: Link
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Ein Großer ist nicht mehr: altersdiskriminierung.de unter: Link
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Visionär der Befreiung – Zum Tod von Mikis Theodorakis, ein Wunder an Schöpferkraft und Überzeugung
Von Gunnar Decker
Er war vieles in seinem langen Leben. Und immer vieles zugleich: Komponist von über tausend Werken – von Symphonien, Opern, Balletten, Kammermusiken, Kantaten, Oratorien, Hymnen, Liederzyklen, bis zu Theater- und Filmmusiken, aber dabei immer auch Widerstandskämpfer, Kommunist, Anarchist, Parlamentarier und sogar Minister. Ein Wunder an Schöpferkraft!
Doch die Griechen verehren Mikis Theodorakis vor allem als jemanden, der nicht nur Politik machte, sondern diese als Künstler auch immer wieder hart kritisierte. Ein Musiker, der die Sehnsüchte des Volkes verstand und ihnen einen – überparteilichen – Ausdruck zu geben vermochte! Dieser unbequeme Einzelgänger war gewiss einer der wenigen Intellektuellen der Gegenwart, der diesen Namen verdiente: das Gewissen der Nation im Sinne Èmile Zolas und seines »J’accuse!« Ich klage an!
Theodorakis wurde nicht nur geachtet, sondern geliebt: Seine legendäre Filmmusik zu Michael Cacoyannis’ »Alexis Sorbas« (mit Anthony Quinn) von 1964 nach dem Roman von Nikos Kazantzakis avancierte zur heimlichen Nationalhymne Griechenlands während der Militärdiktatur. Welch angewandte Ästhetik des Widerstandes! Aber eben aus der Folklore heraus, diese in den Horizont einer Befreiungsmusik führend, die er als »Alltagslied« komponierte. Martin Walser schrieb, diese Musik lebe aus der Folklore, ohne in ihr unterzugehen.
Hört man diese urgriechische Melodie aus »Alexis Sorbas« heute wieder, dann überrascht das sich permanent steigernde Tempo. Ein Tanzlied der anderen Art. Es bekommt schließlich etwas rasant Umstürzlerisches, etwas visionär über sich Hinausweisendes. Man hört und weiß: Da kommt noch etwas, das war noch nicht alles. Schicksal? Nein, das Resultat unseres eigenen Träumens, Denkens und Handelns!
Das Leben des 1925 auf der Insel Chios geborenen Mikis Theodorakis scheint aus lauter Aktion zu bestehen, die die Kontemplation herbeiruft. Aber um das widerständige Handeln wollte er nicht betrügen, auch wenn er sich gerade zwischen zwei Sätzen einer seiner insgesamt sieben Symphonien befand, was für ein Lebenswerk ausgereicht hätte.
Das Bekenntnis überrascht: »Meine musikalische Heimat ist Deutschland«, sagte er einmal im Interview. Aber auch der Film als Inspirationsquelle, muss man hinzufügen. Denn es war ein Beethoven-Film, den er als Kind sah, der ihn zur Musik brachte. Er studierte am Konservatorium in Athen, da kam der Zweite Weltkrieg und Theodorakis schloss sich dem kommunistischen Widerstand an, kämpfte auch nach dem Krieg im Bürgerkrieg weiter, wurde gefangen, gefoltert und schließlich verbannt. Diese Erfahrung von Widerstand und Leid, getragen von einem starken Freiheitswillen, ist es, die seine Musik durchzieht. So auch die Filmmusik, die er 1969 zu Costa-Gavras »Z – Anatomie eines politischen Mordes« schrieb: ein modernes Griechenlanddrama als Politthriller erzählt.
Schließlich durfte er nach internationalen Protesten ins Exil nach Paris gehen, wo der spätere sozialistische Präsident Francois Mitterrand ihn erlebte und im Vorwort zu einem Buch über Theodorakis schrieb: »Die Emotionen, die uns gepackt hatten, verwandelten unsere kleine Gruppe in einen einzigen Körper, belebt von der Seele des Augenblicks. Wir waren die Sonne und der Fluss und das verlorene Tal, die Stufen der hohen Stadt, von Blumen und Blut gesäumt.« Er erkennt in ihm den legitimen Erben der griechischen Tragödienschreiber. Denn da ist immer auch Dionysos mit im Spiel, der Gott des Rausches, der verwandelt.
Auch in seinen Oratorien bleibt dieser ursprüngliche Geist der Tragödie gegenwärtig. Sehnsucht nach Heimat und Wut über Vertreibung, diese Exilerfahrung teilte er mit dem großen spanischen Dichter Pablo Neruda, der vom Franco-Regime ebenfalls ins Exil getrieben wurde. Nerudas »Canto General«, der »Große Gesang«, in der Vertonung von Theodorakis, ist so etwas wie Beethovens Schlusssatz der 9. Symphonie, wiedergeboren aus den Tragödien des 20. Jahrhunderts. Pathos, ohne pathetisch zu sein, weil der darin mitschwingende Schmerz nicht ausgestellt, sondern musikalisch ausgedrückt wird. Schönheit und Freude sind wichtig, gerade in einer hässlichen und freudlosen Welt, so die Botschaft.
1974 kehrt Theodorakis nach Griechenland zurück, will die neu entstehende Demokratie mitgestalten. Er wird für die Kommunistische Partei ins Parlament gewählt. Aber das Feld der Politik erweist sich als steinig, und oft sind es die eigenen Genossen, die ihm die Steine in den Weg legen. Darf Moskau den griechischen Kommunisten sagen, was sie zu tun haben? Theodorakis findet, dass sie das nicht dürfen und kehrt den Kommunisten den Rücken. Schließlich lässt er sich für die Konservativen ins Parlament wählen und wird sogar Minister, aber natürlich ohne Geschäftsbereich, mit allen Freiheiten, den politisch Handelnden zu sagen, was sie nicht hören wollen.
Natürlich ließ er die Konservativen dann auch wieder zurück und schloss sich den Sozialisten an. Die Parteien wechselten in seinem Leben, aber der kritische Geist blieb. Sein Ziel war auch hier ein über das bloß Politische, immer krisenhaft, Hinausgehendes: Der versuchte Zusammenschluss aller Erneuerungskräfte im Lande, die das von der EU zum Objekt degradierte Griechenland retten wollten. Er stritt gegen den Kosovo- und den Irakkrieg und vermittelte im scheinbar ewigen Konflikt zwischen Griechenland und der Türkei. Und wenn man am Tag nach seinem Tod am 2. September mit 96 Jahren in Athen auf seine Website geht, dann findet man einen übervollen, mit Einträgen und Verweisen gefüllten Monat August, unter anderem einen Verweis auf den Dichter Jannis Ritsos, dessen Gedichte er im Liederzyklus »Epitaphios« vertont hatte.
Übervoll, überreich. Aber eben nie bloß geschäftig, sondern dem geistigen Anspruch seiner Kunst verpflichtet – so hat Mikis Theodorakis gelebt. Bis zum Schluss. Sein Protest gegen die Corona-Politik der griechischen Regierung, die viele Künstler arbeitslos machte, war seine letzte Einmischung in die eigenen öffentlichen Angelegenheiten. Seine Musik wird bleiben.
3. September 2021
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