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Pflegereport der AOK 2021: Menschenwürde nur theoretischer Anspruch?

Foto: H.S.

02.07.2021 - von H.S.

Der Pflegereport 2021 der AOK bestätigt das vor allem von den Angehörigen öffentlich gemachte kritische Versorgungsbild der vulnerablen Bevölkerungsgruppe, die in Pflegeheimen lebt. (Diese werden, dem unsichtbaren Zwang zur politisch korrekten Sprache, tatsächlich Pflegeheimbewohnende genannt!) Maßnahmen, die die pflegebedürftigen Menschen vor einer Ansteckung mit Covid-19 schützen sollten, führten gleichermaßen zu erheblichen Einschnitten in der Versorgung sowie in der Folge zu starker sozialer Isolation und einer Zunahme psychischer Belastungen.

Allerdings sieht die AOK-Studie mitnichten Infektionen mit COVID-19 als einzigen Auslöser dieser erhöhten Sterblichkeit. "Die Sterblichkeit von vollstationär Pflegebedürftigen war 2018 während der Grippewelle deutlich höher als während der ersten Welle." Es wird – mit Verweis auf eine weitere Untersuchung – auch erwähnt, "dass während der ersten COVID-19-Welle – und abgeschwächt auch in der zweiten – bezogen auf die Gesamtbevölkerung ein deutlicher Rückgang der Krankenhausaufnahmen zu beobachten war. Das Leistungsspektrum hat sich hin zu operativen Fällen verschoben und auf Fälle mit höherer Schwere konzentriert."

Schlaganfälle, die nicht rechtzeitig behandelt wurden, werden als Grund für eine höhere Sterblichkeit genannt. Die Ursache habe aber "nicht aus einer Überforderung des Versorgungssystems Krankenhaus resultiert" sondern - so die Annahme - "Verzögerungen bei den Einweisungen älterer Menschen aufgrund sozialer Isolation während der Pandemie".

Hier hält die Studie mit Kritik nicht zurück: "Die Infektionsschutzmaßnahmen während der Pandemie reichten nicht aus, um die im Heim lebenden pflegebedürftigen Menschen ausreichend zu schützen". ... "Dies wirft für das Versorgungssetting Pflegeheim bezüglich der ärztlichen Betreuung – aber auch der Initiierung dieser durch die Pflegefachkräfte – erhebliche Fragen auf, denn qualifiziertes Personal sollte wissen, dass Betroffene bei Schlaganfallsymptomen umgehend ärztliche Behandlung erhalten sollten, auch in Hochphasen der Pandemie und im Lockdown." ...

"Deshalb muss untersucht werden, wie Isolation, Kontaktsperren zu Angehörigen und die Einschränkung der Bewegungsfreiheit das Leben der Bewohnerinnen und Bewohner beeinflussten und welche technischen, baulichen, rechtlichen und personellen Veränderungen und Ressourcen benötigt werden, um zu vermeiden, dass sich eine solche Situation wiederholt".

Der Wuppertaler Sozialethiker Andreas Lob-Hüdepohl, zitiert den Artikel 2 aus der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen: "Jeder hilfe- und pflegebedürftige Mensch hat das Recht, vor Gefahren für Leib und Seele geschützt zu werden." Für Lob-Hüdepohl folgt daraus, "einerseits der Anspruch von Pflegebedürftigen, vor Infektionen mit dem Sars-CoV-2-Erreger wirksam geschützt zu werden – notfalls eben auch durch eine Strategie der körperlichen Distanz. Andererseits gehöre es zum Schutz der seelischen Unversehrtheit, "dass keine freiheitseinschränkenden Maßnahmen angewendet" werden dürfen. Aber genau ist die Zwangsisolation oder das Einsperren von Menschen ohne die eigene Einwilligung oder die ihrer Angehörigen. Lob-Hüdepohl fordert für die Pflegebedürftigen:
"Dass sie um ihrer selbst willen geachtet und anerkannt werden", dass sie "zwischenmenschliche Beziehungen konkret und leibhaftig erfahren können. Ansonsten verkümmere die Menschenwürde zum bloß theoretischen Anspruch ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit der betroffenen Personen."

... "Die im Eiltempo beschlossene jüngste Pflegereform im Zuge des Gesundheitsversorgungsweiterentwicklungsgesetzes (GVWG) kann" den Anspruch auf " eine menschenwürdige Versorgung" jedenfalls nicht erfüllen", folgert die Leiterin des Forschungsbereichs Pflege im WIdO und Mitherausgeberin des Pflege-Reports, Dr. Antje Schwinger.

Pflegereport der AOK 2021
Jacobs K, Kuhlmey A, Greß S, Klauber J, Schwinger A (Hrsg.) (2021), Sicherstellung der Pflege - Bedarfslagen und Angebotsstrukturen, Springer-Verlag, Berlin
Pflegereort 2021 als PDF unter: Link

[b]Der Pflege-Report ist eine jährlich erscheinende Publikation des WIdO. Darin analysieren Experten aus Forschung und Praxis die wesentlichen Herausforderungen in der Pflege und diskutieren mögliche Lösungswege.

Die Versorgung von Pflegebedürftigen zählt zu den großen gesellschaftlichen Herausforderungen unserer Zeit. Schon heute sind große Teile der Bevölkerung unmittelbar betroffen – ob als Pflegebedürftige oder als Pflegende. Die Zahl der Pflegebedürftigen wird in den kommenden Jahren deutlich wachsen. Damit wird auch die gesellschaftspolitische Bedeutung der Pflege weiter zunehmen, und diese Entwicklungen werden vielfältige Fragen unter anderem hinsichtlich der Finanzierung, der Leistungsausgestaltung und der Qualität der Versorgung aufwerfen. Mit dem Pflege-Report will das WIdO hier Impulse geben und Brücken zwischen Wissenschaft, Praxis und Politik bauen.
Zahlen und Fakten zur Pflegebedürftigkeit in Deutschland

Neben einem wechselnden Schwerpunktthema enthält der Pflege-Report einen umfangreichen Statistikteil. Im Fokus stehen die Entwicklung der Pflegebedürftigkeit in Deutschland und die gesundheitliche Versorgung von Pflegebedürftigen. Dazu zählen die Inanspruchnahme von ambulanten und stationären ärztlichen Leistungen sowie die Versorgung mit Arznei- und Heilmitteln. Die Analysen basieren auf der Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes sowie auf AOK-Daten.

[/b]Inhalt und Abstracts unter: Link

TEIL I Schwerpunkt: Sicherstellung der Pflege: Bedarfslagen und Angebotsstrukturen
1
Covid-19-Betroffenheit in der vollstationären Langzeitpflege
Raphael Kohl, Kathrin Jürchott, Christian Hering, Annabell Gangnus, Adelheid Kuhlmey und Antje Schwinger
2
Gerechte Priorisierungen? Pflegeethische Aspekte der COVID-19-Maßnahmen für pflegebedürftige Personen
Andreas Lob-Hüdepohl
3
Pflegerische Versorgung in der ersten Welle der Covid-19-Pandemie
Miriam Räker, Jürgen Klauber und Antje Schwinger
4
Vereinbarkeit von Pflege und Beruf: generelle und aktuelle Herausforderungen Betroffener
Simon Eggert, Christian Teubner, Andrea Budnick und Paul Gellert
5
Betriebliches Gesundheitsmanagement (BGM) für Pflegeeinrichtungen und Krankenhäuser unter Pandemiebedingungen
Michael Drupp, Markus Meyer und Werner Winter
6
Vermeidung von Pflegebedürftigkeit – Herausforderungen für Forschung und Praxis
Stefan Blüher, Thomas Stein, Ralph Schilling, Monika Grittner und Adelheid Kuhlmey
7
Familienbezogene Bedarfslagen in Pflegesituationen
Katharina Graffmann-Weschke, Marina Otte und Anne Kempchen
8
Neue Wohnformen für Pflegebedürftige – Mehrwert oder bloß Mehraufwand?
Ursula Kremer-Preiß, Jakob Maetzel und Gwendolyn Huschik
9
Stand und Perspektive der Kurzzeitpflege
Janina Kutzner und Miriam Räker
10
Wachstumsmarkt Pflege
Dörte Heger
11
Technik, Pflegeinnovation und Implementierungsbedingungen
Jürgen Zerth, Peter Jaensch und Sebastian Müller
12
Beruflich Pflegende – Engpass oder Treiber von Veränderungen?
Renate Stemmer
13
Regionale Sicherstellung der Pflegeversorgung
Stefan Greß und Klaus Jacobs
14
Status quo der Senioren- und Pflegeplanung und Handlungsempfehlungen für Kommunen
Grit Braeseke, Gerhard Naegele und Freja Engelmann
15
Ausgezeichnete Quartiersarbeit – Modelle für die Vernetzung von Pflege und bürgerschaftlichem Engagement
Heike Wehrbein und Melanie Hanemann
16
Kommunale Pflegepolitik als sozialraumorientierte Daseinsvorsorge: Konturen einer Vision
Frank Schulz-Nieswandt

Teil II Daten und Analysen
17
Pflegebedürftigkeit in Deutschland
Sören Matzk, Chrysanthi Tsiasioti, Susann Behrendt, Kathrin Jürchott und Antje Schwinger

Quelle: AOK und WIdO