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Zum wissenschaftlichen Begriff der Inzidenz + der Begriffsverwendung durch das RKI

Foto: H.S.

15.04.2021 - von s.u.

Aus Anlass der Bedrohung der Bevölkerung durch eine Ausgangssperre (die ials Maßnahme zur Abwehr von Covid 19 Spanien und Frankreich bekanntlich NICHTS gebracht hat, hier eine Information von Prof. Dr. Matthias Schrappe, Universität Köln, ehemaliger Stellvertretender Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit, im nachfolgenden Artikel (und ff) deutlich geäußert! Abbildungen fehlen technikbedingt (NUR-Text-E-Mail)

Thesenpapier 6
Teil 6.1: Epidemiologie
Die Pandemie durch SARS-CoV-2/CoViD-19
- Zur Notwendigkeit eines Strategiewechsels -

Autorengruppe
Prof. Dr. med. Matthias Schrappe
Universität Köln, ehem. Stellv. Vorsitzender des Sachverständigenrates Gesundheit
Hedwig François-Kettner
Pflegemanagerin und Beraterin, ehem. Vorsitzende des Aktionsbündnis Patientensicherheit, Berlin
Dr. med. Matthias Gruhl
Arzt für Öffentliches Gesundheitswesen und für Allgemeinmedizin
Staatsrat a.D., Bremen
Prof. Dr. jur. Dieter Hart
Institut für Informations-, Gesundheits- und Medizinrecht, Universität Bremen
Franz Knieps
Jurist und Vorstand eines Krankenkassenverbands, Berlin
Prof. Dr. rer. pol. Philip Manow
Universität Bremen, SOCIUM Forschungszentrum Ungleichheit und Sozialpolitik
Prof. Dr. phil. Holger Pfaff
Universität Köln, Zentrum für Versorgungsforschung, ehem. Vorsitzender des Expertenbeirats des
Innovationsfonds
Prof. Dr. med. Klaus Püschel
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, Institut für Rechtsmedizin
Prof. Dr. rer.nat. Gerd Glaeske
Universität Bremen, SOCIUM Public Health, ehem. Mitglied im Sachverständigenrat Gesundheit
Thesenpapier Version 6.10
Köln, Berlin, Bremen, Hamburg
22. November 2020, 12:00h
...

2.2. Häufigkeitsmaße: die falsche Verwendung des Begriffs „Inzidenz“ und seine Folgen
Allen in der Epidemiologie verwendeten Häufigkeitsmaßen ist gemeinsam, dass
Merkmale oder Ereignisse in Bezug zu einer bekannten Grundgesamtheit (Nenner)
dargestellt werden. Dies kann entweder in Form einer Querschnittsuntersuchung
geschehen (Prävalenz) oder in Form einer Kohorten-Studie (Inzidenz), wobei in der
Infektionsepidemiologie die Besonderheit zu beachten ist (s.o.), dass die Merkmale nicht
stabil sind, sondern sich durch Ansteckung rasch verändern.
Da im offiziellen Sprachgebrauch immer von „Inzidenz“, „Inzidenzrate“ und „7-Tages-
Inzidenz“ die Rede ist, muss besonders auf die Charakteristika und Voraussetzungen des
Begriffs der Inzidenz eingegangen werden (s. Lehrbücher der Epidemiologie, hier
herausgegriffen Fletcher, Fletcher und Wagner 1996, s. 77ff). Für die Verwendung des
Begriffs „Inzidenz“ bei einem Infektionsgeschehen sind folgende Aspekte
unverzichtbar:
(1)
als Bezugsgröße muss die untersuchte Population bekannt sein (um einen Nenner bilden zu können),
[Beispiel: Angaben zu nosokomialen Infektionen müssen sich auf die Zahl der untersuchten Patienten (Inzidenzrate) oder sogar auf die Zahl der Beobachtungstage (spezifische Inzidenzrate) beziehen.]

(2) die Population muss vollständig untersucht werden (oder es muss eine repräsentative Stichprobe gebildet werden), [eine Untersuchung zu nosokomialen postoperativen Wundinfektionen kann sich nicht auf drei absichtslos ausgewählte, nebeneinanderliegende Zimmer auf Station A beschränken, sondern muss das gesamte Krankenhaus umfassen oder sich auf eine begründete, zufällig gebildete Stichprobe von Zimmern beziehen.]

(3) die gleiche Population muss komplett über einen Zeitraum hinweg untersucht werden, um tatsächlich das Neu-Auftreten einer Infektion erfassen und bewerten zu können, [eine Untersuchung zur Inzidenz nosokomialer postoperativer Wundinfektionen kann nicht montags in drei Zimmern an Station A, dienstags in drei Zimmern auf Station B etc. stattfinden (es sei denn, dies sei eine repräsentative Stichprobe), sondern alle
Zimmer und somit alle Patienten müssen über den Beobachtungszeitraum hinweg jeden Tag untersucht werden – und nicht nur die symptomatischen Patienten, s. CoViD-19.]

(4)
die untersuchte Population muss aus bei Eintritt in den Untersuchungszeitraum
merkmalsfreien Personen bestehen, [eine Untersuchung zur Inzidenz nosokomialer postoperativer Wundinfektionen bezieht sich immer auf Patienten, die vorher keine solche Infektion hatten; Patienten, die z.B. bereits bei Aufnahme eine Infektion haben, werden nicht in die Berechnung der Inzidenz eingeschlossen (s. present-on-admission Problematik im Zusammenhang Qualitätserhebung und Surveillance von nosokomialen Infektionen).]

(5)
aus dem gleichen Grund muss der Zeitraum der Beobachtung lang genug bemessen sein, um das Neuauftreten des Merkmals wirklich beobachten zu können. [wenn man bei der Erhebung von nosokomialen Wundinfektionen die drei Zimmer nur 2 Tage lang anschaut, wird man die Wundinfektionen in vielen Fällen nicht erkennen, soweit sie später auftritt (die Beobachtungszeit sollte daher mindestens 4 Wochen betragen). Ebenso wenig ist es sinnvoll, das Neuauftreten von SARS-CoV-2/CoViD-19 während einer einwöchigen Beobachtungsdauer zu erfassen. wenn die PCR 14 Tage positiv ist und die Inkubationszeit allein 5 Tage bemisst.]

In der gegenwärtigen Situation liegt kein einziges Merkmal vor, das für die Verwendung des Begriffs „Inzidenz“ notwendig wäre (s. Abb. 1):

- die Grundgesamtheit ist nicht bekannt (Punkt 1), denn es werden keine
repräsentativen Stichproben verwendet, sondern es werden anlassbezogene
Testungen durchgeführt. Übertragen auf das Gebiet der nosokomialen Infektionen
mit seinen jährlich 700.000 Fällen würde das bedeuten, man würde Erhebungen zu
diesem Problem nach dem Prinzip „hier müsste man mal schauen“ durchführen.

- die Population (oder eine Stichprobe) wird nicht vollständig untersucht (s. Punkt

2)
, sondern es werden montags andere Personen getestet als dienstags (usw.),
- die Population wird nicht über einen Zeitraum untersucht (Punkt 3), was dem
Begriff der Inzidenz im Sinne von „Neuerkrankungen in einen Zeitraum“ diametral
entgegengesetzt ist,

- die Merkmalsträger zu Beginn des Untersuchungszeitraumes werden nicht ausgeschlossen (Punkt 4), obwohl deren Infektion nicht mehr „neu auftreten“ kann,
und
- der Untersuchungs- bzw. Berichtszeitraum von einem Tag bzw. von 7 Tagen ist inadäquat kurz, denn eine Infektion mit einer Inkubationszeit von 5 Tagen und einer PCR-Nachweisbarkeit von 14 Tage (Näherungswerte) sind dadurch nicht vollständig zu beschreiben (Punkt 5).
Das European Center of Disease Control (ECDC) nimmt daher einen Berichtszeitraum von 14 Tagen an, zwar immer noch sehr kurz, aber immerhin schon sinnvoller. 8 Letztlich lässt sich die Situation leicht auflösen: bei den täglichen Berichten des Robert- Koch-Institutes (RKI) handelt es sich nicht um eine Inzidenz oder eine „7-Tage-Inzidenz“, sondern um eine Kombination von mehreren „1Tages-Inzidenzen“, bei näherem Hinsehen
identisch mit der täglich erhobenen Prävalenz 9 .

Wir haben es also mit einer Zusammenstellung bzw. Addition von mehreren, unsystematisch generierten 10 Punktprävalenzen zu tun, die in täglich sich ändernden Stichproben Häufigkeiten beschreiben, die dann zu einem „7-Tage-Wert“ zusammengefasst werden.

Am ehesten lässt sich dieses Konstrukt unter dem (etwas außer Mode gekommenen) Begriff der Periodenprävalenz beschreiben.

In Abb. 1 werden die Begriffe graphisch dargestellt. Der Begriff der „7-Tages-Inzidenz“ z.B. wird daher auf der europäischen Ebene gar nichtverwendet, so spricht das European Center of Disease Control (ECDC) richtigerweise von notification rates, also von Melderaten 11 . Es wäre für den deutschen Sprachgebrauch zu
empfehlen, sich hier auf eine adäquate Verwendung der Grundbegriffe rückzubesinnen, man könnte z.B. von einer „7-Tage-Melderate“ sprechen. In Kap. 2.5. wird eine Alternative vorgeschlagen, die aus mehreren Parametern zusammengesetzt ist (notification index).

Es bleibt dabei die Frage offen, warum ist dieser Punkt so wichtig?
Das Problem ist gewaltig und bestimmt die gesamte weitere Diskussion, denn die Verwendung des Begriffs der „Inzidenz“ gibt vor, man habe eine Kenntnis der in einem Zeitraum (7 Tage) tatsächlich neu auftretenden Infektionen, und man könne daran die Entwicklung zutreffend ablesen. Diese Sichtweise ist sehr wirkmächtig, denn sie insinuiert eine Handlungsgrundlage, auf der politische und gesellschaftliche Entscheidungen von großer Tragweite getroffen werden. Allerdings ist diese Handlungsgrundlage nicht tragfähig, zum
anderen wird auf diese Weise der dringend notwendige Weg zur Nutzung sinnvollerer
Vorgehensweisen versperrt.

Abb. 1: Inzidenz (longitudinale Perspektive), Prävalenz (Querschnittsuntersuchung) und
unsystematische Prävalenzstichproben, bei denen unvollständige Tagesprävalenzen
kombiniert werden. A im Berichtszeitraum neu aufgetretene Infektionen (= Inzidenz), die
Fälle B waren vorbestehend und werden nicht berücksichtigt. C Prävalenz in einer das
ganze Kollektiv umfassende Querschnittsuntersuchung. D Fälle wie in den RKI-Berichten
als „7-Tage-Inzidenz“ bezeichnet, obwohl es unsystematisch erhobene Prävalenzen sind.
E werden nicht erfasst, da diese anlassbezogenen Stichproben nicht das ganze Kollektiv
erfassen.

Wie im nachfolgenden Kapitel ausgeführt wird, wird die Entwicklung bereits seit langer
Zeit von der Infektionsdynamik im Bereich der nicht untersuchten Bevölkerung bestimmt.
Man kann es auch anders ausdrücken:
die Dunkelziffer dominiert die quantitative Realität der Epidemie und die verwendeten Grenzwerte.
Allerdings befinden wir uns (selbstverschuldet) in der schwierigen Situation, dass wir uns der Dunkelziffer nur indirekt annähern können, da Kohorten-Studien, die wir heute national und auch regional (z.B. in
Großstädten) bräuchten, gegen jeglichen fachlichen Rat unterblieben sind. Um es nochmals zu wiederholen: die Auswirkungen dieses Defizits werden in Zukunft noch dramatischer werden, denn wir werden verlässliche Häufigkeitsdaten dringend benötigen, wenn man z.B. den Erfolg von Impfkampagnen und evtl. auch von therapeutischen Strategien darstellen möchte.

Anm. Fazit
These 3:
Der Begriff der Inzidenz wird in der Berichterstattung falsch verwendet. Bei den Häufigkeitsangaben des RKI handelt es sich um unsystematisch gewonnene, anlassbezogene Prävalenzwerte, die über 7 Tage hinweg addiert werden (am ehesten als Periodenprävalenz zu bezeichnen). Der durch den Begriff „Inzidenz“ bzw. „7-Tages-Inzidenz“ geweckte Eindruck, man wisse über den Stand der Epidemie und die tatsächlich in einem Zeitraum auftretenden Neuerkrankungen Bescheid, täuscht und untergräbt die Glaubwürdigkeit des politischen Handelns.

Link

8 so z.B.: Link, letzter Zugriff 15.11.2020
9: zum Zusammenhang zwischen Inzidenz und Prävalenz über die Merkmalsdauer s. ausführlicher Tp2, Kap.
2.1.2
10: Das kommt noch hinzu: die Prävalenzen müssten eigentlich an repräsentativen Stichproben erhoben
werden, dies ist aber nicht der Fall, stattdessen werden anlass-bezogene Stichproben verwendet (s. Tp2,
Kap. 2.1.1. Nr.1)
11: so z.B. Link, letzter Zugriff 15.11.2020

Dank für den Hinweis und das Exzerpt D.S.!

Quelle: http://www.matthias.schrappe.com/index_htm_files/Thesenpap6_201122_endfass.pdf