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Die Vorhersage meiner 90 jährigen Vermieterin

Foto: H.S.

16.12.2019 - von Hartmut Jeromin

Meine Vermieterin, 90, sagte zu mir: „Herr J., was ich jetzt erlebe, werden sie auch noch erleben“. Und von dem Satz kam ich nicht mehr los. Ich lebe ja nun schon über 20 Jahre unter einem Dach mit ihr und habe somit viel erlebt und gesehen, worüber man normalerweise den Mantel der Verschwiegenheit breitet. Mir fällt da eine große Vereinsamung auf, je älter sie wird. Ihr Mann wurde durch ihre Pflege 101! Nun bekommt sie immer seltener Besuch, mit allen Folgen. Sie schafft es kaum noch bis zum Briefkasten und Spaziergänge nur mit Hilfe. Es gibt ja Dinge, die man auch mit 90 noch erledigen möchte, wie z.B. ein Bankkonto verwalten und ähnliches. Aber selbst Autofahren ist Geschichte, die Garage steht leer. Pflegedienste und Arzt kommen schon ins Haus. Wenn sie arm wäre, ob das dann auch so funktionieren würde?

Ihr Satz an mich stimmt, ohne Zweifel - im Erlebensfalle. Aber stimmt er überall auf der Erde? Z.B. im Kongo? Da leben 46% der Menschen unter 15 Jahre und nur 3% sind 65+. Also nur 2,4 Mio „Alte“. Dafür leben sie da im Durchschnitt nur 60 Jahre, was auch die hohen Geburten- und Fruchtbarkeitsraten( 42/ 6,1) bedingt. Sonst würden sie aussterben. In Deutschland z.B. sind die Verhältnisse (Geburtenrate 9/ Fruchtbarkeit 1,5) sehr verschoben, es leben hier 17 Mio „Alte“ und werden 81 Jahre im Durchschnitt, da braucht es keine hohen Geburtenraten. Aber Deutschland könnte aussterben, denn die Fruchtbarkeitsrate … Mit 65 bekommt man eben keine Kinder mehr. Deshalb wollten wir unser 3. Kind vor 45 Jahren auch, meine Frau sagte: „Solange der Baum noch blüht“.

Hier setzen also auch ethische und moralische Fragestellungen an. Aber wesentlich auch die soziale Ethik. Und die soziale Ökonomik. Und in eine einzige Rentenformel, wie in Deutschland üblich, passen diese Unterschiede „gleich gar nicht“. Der Hauptwiderspruch aber kommt im Sprichwort zu Tage: „Alt möchte jeder werden, aber alt sein mag niemand auf Erden“. Denn so schön ist es in einem „Heim“ ja auch nicht. Obwohl inseriert wird: "Würde, Wertschätzung, Kompetenz, liebevolle und qualifizierte Pflege, Rund-um-Versorgung." Aber z.B. das Fachkräfteproblem hat die Seniorenresidenz am Pohlandplatz in Dresden, wo wegen der Preise längst nicht jeder einziehen kann, sicher auch. Also? Es braucht eine hohe Pflegestufe und eine gute Rente.

Sicher gehen verschiedene Kulturen und Traditionen auf der Erde unterschiedlich mit den Problemen um. In Ländern mit starken Familienverbänden anders, als in unseren so stark individualisierten Gesellschaften. Und die übervölkerten Regionen schicken ihre Jugend schon immer los in Richtung Europa in der Hoffnung, dort auch die Lösungen für ihre „Alten“ zu Hause zu finden. Und sei es nur, dass sie Geld schicken. Die Gefahren einer Meeresüberquerung stellen dabei sichtbar kein besonderes Hindernis dar.

Meine „Halbwertzeit“ ist inzwischen wohl auch überschritten und natürlich werde ich noch einiges nach der Vorhersage meiner Hauswirtin durchmachen. Also bin ich wieder bei der Frage: Alt werden um zu leben oder leben um alt zu werden? Ich werde versuchen, wie der „Hundertjährige“ in Schweden zu leben: Mal sehen, was passiert, aber dann auch mitmachen und aus dem Fenster steigen und immer was anderes erleben, da wird es nicht langweilig. Vielleicht kommt ja auch ein Verrückter mit einem Geldkoffer vorbei, dann aber zufassen oder? Denn es ist dafür gesorgt, dass die Bäume nicht in den Himmel wachsen, denkt Hartmut Jeromin im Dez. 2019.

Quelle: Hartmut Jeromin