Diskriminierung melden
Suchen:

Bericht vom 18. Europäischen Gesundheitskongress München 2019

Foto: H.S.

03.11.2019 - von Manfred Schmidtlein

Der Mehr als 1.000 Teilnehmer trafen in München zusammen, auch die ADG war mit dabei.

Das beherrschende Thema des 18. Europäischen Gesundheitskongress München (EGKM) 2019 war die Digitalisierung im Gesundheitswesen, welches bereits in vier Vorträgen in der Eröffnungsveranstaltung ausführlich zur Sprache kam.
Melanie Huml (CSU), bayerische Staatsministerin für Gesundheit und Pflege, betonte in ihrem Grußwort, dass der Schlüssel zur Gestaltung eines zukunftsfähigen Gesundheitssystems in der Digitalisierung liegt. Als großen Vorteil nannte sie z.B. auch attraktivere Arbeitsbedingungen durch Digitalisierung. Es könnten körperliche und bürokratische Belastungen reduziert werden und das Pflegepersonal sich wieder mehr um die Patienten kümmern. Entscheidend sei für sie jedoch, dass bei allen technischen Möglichkeiten unsere Medizin immer menschlich bleibt. Sie hob hervor, dass Herr der Daten der Patient sein müsse. „Wenn wir das mitdenken, dann ist die Bereitschaft, mitzuwirken im Bereich der Technik und der Digitalisierung, bei den Menschen da.“
Nach einer Studie der Bertelsmann-Stiftung liegt das deutsche Gesundheitswesen bei der Digitalisierung auf Platz 16 von 17 untersuchten Staaten (Studie:Digitale Gesundheit: Deutschland hinkt hinterher). Dr. Gottfried Ludewig, Abteilungsleiter für Digitalisierung und Innovation im Bundesgesundheitsministerium, in seinem Vortrag „Wie gestaltet Deutschland das Thema Digitalisierung und IT?“, kritisierte diese Situation als „organisierte Verantwortungslosigkeit“, die jetzt enden müsse.
Keiner möchte, dass die Angebote des Silicon Valley jene des SGB V ersetzen: Keiner wolle eine Amazon-Krankenkasse. Doch die gebe es bereits. „Dann kommt eben die Veränderung von außen, weil wir sie nicht aufhalten können. Und dann werden die Rahmenbedingungen von Institutionen gelebt und gesetzt, die wir nicht beeinflussen können“, warnte Ludewig. So habe das elektronische Rezept jetzt besondere Priorität, denn „es kann doch nicht wahr sein, dass wegen Fehlmedikation in Deutschland deutlich mehr Menschen sterben als im Autoverkehr und wir achselzuckend daneben sitzen.“
Ludewig mahnte auch einen anderen Umgang mit dem Datenschutz an. So versuche seit 18 Monaten die Medizininformatik-Initiative der deutschen Bundesregierung mit 16 Landesdatenschutzbeauftragten eine einheitliche Einverständniserklärung für medizinische Forschung hinzubekommen. „Wir müssen schneller werden! Die Welt wartet nicht darauf, dass wir ein einheitliches Einverständnisformular haben“, erklärte der Chefstratege für die Digitalisierung des Bundesgesundheitsministeriums. Digitalisierung sei nichts Schlimmes, Digitalisierung sei etwas, „das Leben retten kann“. Ludewig rief in seinem Vortrag zu einer beschleunigten Nutzung digitaler Technologien im deutschen Gesundheitswesen auf.
Wie Österreich die Digitalisierung und KI gestaltet, erläuterte Dr. Clemens Martin Auer. Der Digitalisierungsbeauftragte im österreichischen Gesundheitsministerium sagte, dass Österreich Deutschland zwar zwei Schritte voraus sei, dennoch habe sich auch in Österreich gezeigt, dass der Anschluss vieler Leistungserbringer ein schwieriges Unterfangen sei, denn das Gesundheitssystem sei fragmentiert. Im Businessmodel eines Hausarztes käme Datenaustausch nicht vor. Der Staat müsse deshalb eine Lenkungsfunktion übernehmen, denn es gebe ein öffentliches Interesse: „Das Zauberwort ist Interoperabilität!“ Nur wenn die Rahmenbedingungen sichergestellt seien, könne Datenaustausch flächendeckend stattfinden, sagte Auer. Wenn die Digitalisierung in öffentlichem Interesse sei, dann gebe es aber auch die Verpflichtung der öffentlichen Hand, in die digitale Infrastruktur zu investieren, so Auer.
Die spanische Politologin Lorena Jaume-Palasí, Geschäftsführerin von The Ethical Tech Society, beschäftigte sich in ihrem kritischen Eröffnungsvortrag „Digitalisierung und künstliche Intelligenz. Freund oder Feind?“ mit ethischen Aspekten von Algorithmen. Sie erklärte, dass diese nicht neutral seien. Algorithmen seien zwar sehr gut darin Muster zu erkennen, künstliche Intelligenz sei aber nicht intelligent. Wenn, wie passiert, eine Auswertung zahlreiche, biometrische Daten einen Zusammenhang zwischen den Längen der Nasen und Ohren einerseits und der Sexualität andererseits ermittele, sei das schlicht unwissenschaftlich. Diese rechnen nicht nur, sondern sie können in komplexeren Systemen auch zur Manipulation oder Diskriminierung von Menschen führen. Dies sei besonders sensibel im Gesundheitswesen, mit schwerwiegenden Konsequenzen. Des Weiteren erklärte Jaume-Palasí, dass künstliche Intelligenz (KI) viele Dinge besser mache, aber den Menschen nicht ersetzen könne. Die Frage ist wie wir das nutzen? Bei der Anwendung von Algorithmen müsse immer gefragt werden: „Führt diese Maßnahme, die ich jetzt mache, zu einem erhöhten sozialen Zusammenhalt oder nicht?“
Viele junge Menschen könnten sich für einen digital aufgewerteten Arztberuf begeistern – und sich dann auch auf Dauer wohlfühlen. Diese Hoffnung hat die Medizinstudentin und Bloggerin Jana Aulenkamp. Mit einer Verbesserung der Abläufe durch die Digitalisierung rechnet sie fest. Doch sie sprach auch aus, was die meisten Ärzte bewegt: „Wir müssen darauf achten, dass sich im Gegenzug nicht die Arzt-Patienten-Kommunikation und das Vertrauensverhältnis verschlechtern.“

34 themenorientierte Einzelveranstaltungen
Rund 150 Referenten, welche zu den "Vordenkern" im Bereich der Gesundheitsversorgung gehören, berichteten in 34 Einzelveranstaltungen von ihren Erfahrungen zu speziellen Themen wie Digitalisierung, Fortschritte in der Onkologie, Krankenhausplanung, Förderung von Rehabilitation und Prävention, Konsequenzen künstlicher Intelligenz und Robotik für das Gesundheitswesen, Patientensicherheit, Pflegemangel, hausärztliche Versorgung der Zukunft und Krankenhaushygiene. Sie beantworteten Fragen von den Teilnehmern und nahmen an Diskussionen teil.

Abschlußdiskussion: Strukturen des deutschen Gesundheitswesens
In der Schlussveranstaltung kritisierten vier hochrangige Fachleute, dass die Strukturen des deutschen Gesundheitswesens Innovationen behindern.
Andreas Storm, Chef der drittgrößten deutschen Krankenkasse DAK, hob hervor, dass Deutschland im Vergleich mit anderen Ländern „extrem langsam voran“ käme: „Wir sind jetzt langsamer als die staatlichen Gesundheitssysteme. Und wir sind auch wesentlich langsamer als die marktorientierten Länder wie etwa die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Als Ursachen nannte Storm Probleme, die sich aus dem Föderalismus ergeben, aber auch die Selbstverwaltung, die zwar „ein großer Erfolgsfaktor für unser Gesundheitswesen“ sei, die aber dazu führe, dass es komplizierter als in anderen Ländern sei. Schließlich gebe es mit der Aufteilung in Sektoren eine im internationalen Vergleich „extreme Versäulung“. Das führe gerade im Zeitalter der Digitalisierung oftmals dazu, dass „wir in den Abstimmungsprozessen einen Konsens erreicht haben, wenn die technologischen Möglichkeiten schon wieder veraltet sind.“
Als ein weiteres Beispiel nannte Storm die diagnosebezogenen Fallpauschalen, die „massiv korrekturbedürftig“ seien. Die Idee sei, dass es „für eine richtige Behandlungsweise einen Geldbetrag“ gebe. Vor dem Hintergrund der Fortschritte in der personalisierten Medizin mahnte Storm: „Wenn es stimmt, dass ich bei einer bestimmten Diagnose nicht die eine Lösung von der Stange anbieten kann, sondern in der individualisierten Medizin sehr viel individuellere Lösungen brauche, dann ist dieser Ansatz, den wir da heute fahren, eigentlich auf Dauer ad absurdum geführt.
Der Präsident der Deutschen Krankenhausgesellschaft, Gerald Gaß, monierte detaillierte, aber unflexible Vorgaben: „Wir haben permanent mehr Regulierungen im System, die dazu führen, dass wir nicht mehr wissen, ob innovative Versorgungsangebote, auf die wir uns ausgerichtet haben, in den kommenden Jahren für einzelne Standorte überhaupt noch leistbar sein werden.“ Das führe dazu, dass heute viele Manager in den Krankenhäusern zurückhaltend im Hinblick auf Investitionen und Innovationen seien. Auch Gaß sieht im Hinblick auf individualisierte Medizin die Fallpauschalen als Problem: „Es ist eben nicht so, dass ein Patient mit einer bestimmten Diagnose genau die gleiche Therapie braucht wie ein anderer Patient mit der gleichen Diagnose. Es gibt große Unterschiede.“ Gaß sieht deshalb die Notwendigkeit zu grundlegenden Reformen: „Man muss sich jetzt wirklich mal über das System Gedanken machen und es auch zu Ende denken - und nicht nur hier mal was verändern und da mal was verändern.“

Stefan Schaller, Deutschland-Chef von Siemens Healthcare, betonte zunächst die Vorteile von freier Arzt- und Kassenwahl in Deutschland, fügte aber hinzu: „Wir bezahlen für diese Fragmentierung der Landschaft auch einen Preis.“ Als Konsequenz gebe es auch viele verschiedene technische Standards in digitalen Systemen, die nicht miteinander kompatibel seien und keine Daten austauschen können. Schaller erläuterte, dass daher diagnostische Daten für einen Patienten über längere Zeit kaum zur Verfügung stünden: „Die fehlende Interoperabilität führt dazu, dass wir ganz große Schwierigkeiten haben, longitudinale Datensätze für den Patienten zur Verfügung zu haben, die man für eine personalisierte, optimierte Medizin benötigt. Da haben wir große Schwierigkeiten im internationalen Vergleich. Wenn man nach Skandinavien schaut oder nach England, dort sind die Daten viel besser verfügbar.“
Der aus Kroatien stammende Genetiker Dragan Primorac verglich in einer Präsentation die Rahmenbedingungen für die Entwicklung neuer Behandlungsmethoden, wie Molekulare Bildgebung, Gentherapie, Immuntherapie und Regenerative Medizin. Primorac zufolge ist in den USA die Chance, dass eine Neuentwicklung mit Risikokapital ausgestattet wird, neunmal so hoch wie in der EU. Hingegen liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Unternehmen sich Innovationen durch die Übernahme kleinerer Firmen sichern, statt selbst zu entwickeln, in Europa doppelt so hoch wie in den USA.

26.10.2019

Quelle: ADG Newsletter, November 2019