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Altersdiskriminierende Kolumne in der TAZ

Foto: H.S.

01.07.2019 - von Hanne Schweitzer

Eingeleitet wird der Text mit der klickködernden Überschrift: "Rentner, gebt das Wahlrecht ab!"! Um sicher zu gehen, dass der Köder wirklich lockt, folgt der Satz: "Und den Führerschein gleich mit. Denn für beides gilt: Die Alten gefährden die Jungen."

Das erinnert an Roman Herzogs "Ältere plündern die Jungen aus", und ist flink zusammengeschustert aus tausendfach im Netz kursierenden Häppchen des Meinungs- und Informationszirkus. Doch die beabsichtigte Beschwörung von Empörung funktioniert nicht. Wissen oder eigene Gedanken, Frechheit oder Ironie - alles fehlt und der Text, der provozieren soll, kommt klein und piefig daher.

Die Lebensgefahr, der die Jungen durch die Alten angeblich ausgesetzt sind, belegt die TAZ-Redakteurin Johanna Roth, mit zwei Überschriften von Unfallmeldungen, die "wir alle kennen": "Seniorin kracht in Schaufenster", "Rentner fährt in Menschenmenge". Für die Behauptung, dass die Alten das Leben der Jungen gefährden, gibt das nichts her. Damit das aber nicht so auffällt, wird das Ganze noch ein bisschen gestreckt , denn wenn RedakteurIn nicht weiter weiß, beruft sie sich auf Experten-Schweiß: Es gibt "viele Experten, die unermüdlich darauf hinweisen, dass im Alter nicht nur das Sehvermögen. sondern auch die Selbsteinschätzung schlechter werde".

Damit ist das Thema "anderer Leben zu gefährden ist das eine" erledigt und Roth kommt zur Problematik "anderer Zukunft gefährden". Dass die Alten die Zukunft der Jungen in Gefahr bringen, habe sich, behauptet sie, im Abstimmungsverhalten der über 60Jährigen bei den EU-Wahlen manifestiert. "Wer jung ist, wählt die Grünen, weil er*sie ein Bewusstsein für den Klimawandel überhaupt nur bei diesen sieht." Die Alten "rennen“ - obwohl sie ja nicht mehr so gut sehen - „dem Narrativ der Union hinterher: Alles Panikmache, geht mal lieber anständig zur Schule, es geht hier schließlich um unseren WOHLSTAND".

Wusste Roth bei Redaktionsschluss am 30. Mai nicht, dass die CDU bei den 60 bis 69Jährigen drei Prozent der Stimmen verloren hat und bei den über 70Jährigen immerhin noch ein Prozent? Wusste sie nicht, dass auch ältere Menschen die Grünen wählen? Bei den 60 -bis 69Jährigen WählerInnen konnte die Partei einen Stimmenzuwachs von 11 Prozent verbuchen. Und von den über 70Jährigen machten im Vergleich zur letzten Europawahl sechs Prozent mehr bei den Grünen ihr Kreuz.

Die alten wie die jungen WählerInnen haben ignoriert,
- dass die Grünen erst im Jahr 2035 aus der Braunkohlenverstromung - also nur drei Jahre früher als die Regierung -, aussteigen wollen,
- dass die Grünen in NRW 2016 gemeinsam mit der SPD für die Abholzung des Hambacher Forst gestimmt haben,
- dass der grüne Ministerpräsident Kretschmann die ´Fridays for Future Demos`, mit den Worten kommentierte „Das kann keine Dauerveranstaltung sein“, und: „Wenn man die Regeln verletze, müsse man mit Sanktionen rechnen“,
- dass die Grünen mit der SPD vor 20 Jahren den ersten Angriffskrieg in der Geschichte der Bundesrepublik gegen Serbien zu verantworten haben,
- dass die Grünen mit der SPD die Doppelverbeitragung der Direktversicherungen verabschiedeten,
- dass die Grünen gemeinsam mit der SPD die Agenda 2010 und die Einführung von Hartz 4 etabliert haben.

Zurück zum " WOHLSTAND, (dem CDU-Lieblingswahlkampfbuzzword)". Davon will auch Roth etwas abhaben. "Liebe Mitwählende über 60, wir unter 30 hätten ja auch gerne was von diesem Wohlstand". Warum den Jungen das Haben verwehrt wird, versucht Roth zu belegen, indem sie einige Folgen der neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte aufzählt. Diese werden von der Kolumnistin aber nicht auf politische Entscheidungen oder solche der Industrie, Finanzmärkte oder schlicht auf die Kapitalinteressen zurückgeführt, sondern denkfaul, plump und pauschal "den Alten" in die Schuhe geschoben.

So seien die bedauernswerten Jungen "schon jetzt ärmer, als unsere Elterngeneration es je war" . In Roths Weltbild sind es auch nur die unter 30Jährigen, die sich "von Befristung zu Befristung hangeln", und "die Wochenenden damit verbringen, die letzte noch bezahlbare Wohnung zu finden". "Die Alten" hätten den Jungen noch dazu eine "prekäre Arbeitswelt hinterlassen und ein Europa mit kollektiver Identitätskrise und Nationalismusproblem". Und "leider habt ihr ... auch den Planeten zugemüllt mit Kohlekraftwerken und Plastiktüten."

Um diesem Elend zu entkommen, und die Gefährdung des Lebens und der Zukunft der Jungen durch die Alten zu beenden, fordert Roth keineswegs den Bau bezahlbarer Wohnungen, das Abschalten von Kohlekraftwerken, den Stopp von Plastikproduktion oder einen arbeitnehmerfreundlichen Arbeitsmarkt . Stattdessen:
1.
"Führerscheine sollte man im Alter abgeben". Was sicherlich nicht für den 71jährigen grünen Ministerpräsidenten gilt, der sich, mit einem 2,2 Tonnen schweren Mercedes Benz GLC F-Cell als zweitem Dienstwagen, durch Stuttgart chauffieren lässt.
2.
"Rentner, gebt das Wahlrecht ab!" Denn: "Es sollte doch auch für uns Junge" - schluchz - "ein Menschenrecht darauf geben", - schluchz schluchz - mindestens Ende siebzig zu werden wie der durchschnittliche Mensch in Europa heute, und das, ohne abwechselnd von Sturmfluten und Waldbränden heimgesucht zu werden." Jesses Maria! Seit wann gibt es ein Menschenrecht, mindestens Ende 70 zu werden? Weiß Roth nicht, dass Sturmfluten und Waldbrände Folgen der umweltzerstörenden Ressourcenvernichtung sind und das Ergebnis von globalen Entscheidungen, die sich an der Maximierung der Profite orientier(t)en?
3.
"Was wir brauchen, ist eine Epistokratie der Jugend: das Wahlalter herabsenken und nach oben begrenzen – oder zumindest deutliche Anreize dafür setzen, die eigene Stimme an Jüngere zu delegieren." Hier bezieht sich die Redakteurin auf Jason Brennans Buch "Gegen Demokratie". Seine These: Die Wähler seien nicht informiert genug, um vernünftige Wahlentscheidungen treffen zu können und sollten deshalb durch "informierte Eliten" ersetzt werden. Von Wahlalter herabsenken ist nicht die Rede.

Nach diesem Schlenker in die Welt der Bücher jener Art, die gerne in der sich selbst rechtsintellektuell nennenden Zeitschrift ´Sezession` besprochen werden, versucht die Kolumnistin zum Schluss, "einen Zusammenhang zwischen Rasern, Rentnern und Klimawandel" herzustellen. Das macht sie so: "Im Hamburger Stadtteil Groß Flottbek passierten in ein und derselben Einkaufsstraße schon 20 (in Worten: zwanzig) Schaufensterunfälle. ... Fast alle Unfallverursacher waren ältere Menschen, die neuwertige, automatikgetriebene Autos mit relativ hoher PS-Zahl fuhren, darunter SUV und schwere Limousinen." Dann wird erneut eine Expertenmeinung verwurstet: "Zu ... nachlassender Sehfähigkeit und beginnender Demenz mancher Unfallverursacher" komme noch „das Unvermögen, die modernen, mitunter hoch technisierten Autos korrekt zu bedienen.“

Johanna Roth, Jahrgang 1989, "wir unter 30", ist Leiterin des Resorts ´Meinung und Diskussion` bei der TAZ. Unter anderem studierte sie Politkwissenschaft (!) und arbeitete einige Jahre für verschiedene Abgeordnete im Bundestag.

Link: Roman Herzog: Ältere PLÜNDERN die Jungen aus
Quelle: TAZ, 1.6.2019