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Kampf um ein soziales Gesundheitswesen - verloren!

Köln, 2008

23.01.2016 - von Prof. Albrecht Goeschel

Das Politische System Merkel-Gabriel hat mit dem neuesten Krankenhausstrukturgesetz* eine regelrechte Rollbahn für Privatinvestitionen in der ambulanten und stationären Versorgung eröffnet. Bei Schließungsprämien für Grundversorgungskrankenhäuser und bei Willkürpreisen für Krankenhausleistungen werden vor allem die Konzern-Kliniken das Feld beherrschen. Selbstverständlich bedeutet ein Kahlschlag unter den Grundversorgungskrankenhäusern auch eine weitere Schwächung der Hausarztversorgung. Damit haben die Bevölkerungen in den Regionen Deutschlands ihren seit vier Jahrzehnten geführten Kampf um eine bevölkerungsnahe und patientenfreundliche Gesundheitsversorgung nunmehr endgültig verloren.

Nachfolgend bringen wir die Einführungskapitel von Professor Albrecht Goeschel zum wieder aufgelegten "Gutachten zur regionalisierten Bedarfsplanung in der kassenärztlich-ambulanten Versorgung“. Der Klassiker wurde 1977 für den Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung erstellt. Darin ist das soziale Gegenteil dessen "erfunden" worden, was heute kapitalistische Wirklichkeit ist: Der „Regionale Gesamtfonds“ - und nicht der „Zentrale Gesundheitsfonds“. Merke: Noch die ausgefeiltesten Reformkonzepte verwandelt der kapitalistische Sozialstaat in eine ergiebige Profitquelle.

Regionale Gesamtfonds: Finanzierungs- und Allokations-Leitbild für das Gesundheitswesen in Deutschland
Eine Einführung von Albrecht Goeschel

Im Jahr 2009 und damit auf dem ersten Höhepunkt der schwersten Krise des Kapitalistischen Weltsystems seit dem zweiten Weltkrieg wurde in Deutschland der zentrale „Gesundheitsfonds“ eingerichtet. Von der Öffentlichkeit, die mit dem Krisenthema beschäftigt war, kaum bemerkt wurde mit diesem Schritt die ein reichliches Jahrhundert zuvor auch als Teilfundament des deutschen Nationalstaats errichtete regional und sozial gegliederte, paritätisch und autonom verwaltete Gesetzliche Krankenversicherung in die Vergangenheit verabschiedet.

Statt einer Vielzahl von Institutionen, die für überschaubare Räume Lohnfonds der Arbeitsbevölkerungen für die gemeinschaftliche Vorsorge für den Erkrankungsfall darstellten, war nun eine Zentraladministration geschaffen worden, die durch einseitige Beitragssatzerhöhung und Leistungsabsenkung die gesamtwirtschaftliche Lohnquote senkt und die durch bundesweiteinheitlichen Beitragssatz bei teilräumlich unterschiedlicher Leistungsdichte die schwächeren Regionen mit den höheren Kosten der stärkeren Regionen belastet.

Die Gesetzliche Krankenversicherung hatte die Aufgabe des Sozial- und Regionalausgleichs. Der Gesundheitsfonds erzielt die Wirkung der Sozial- und Regionalspaltung.

Systempolitisch ist dabei nicht nur bemerkenswert, dass auch hier das Krisenchaos genutzt wurde, um die Gesetzliche Krankenversicherung ebenso wie viele andere Einrichtungen und Regelungen des Rechts- und Sozialstaats zu beseitigen oder auszuhöhlen. Zusätzlich wurde im gleichen Zeitabschnitt von einer Reihe von wirkmächtigen Akteuren wie Bundesministerien, Sachverständigenrat, Wissenschaftsstiftungen, Interessenverbänden etc. das Thema „Region“ massiv forciert – allerdings klar begrenzt auf Regionalbedingungen und Regionalunterschiede im Gesundheitsverhalten, im Gesundheitsbefinden, im Gesundheitsbedarf etc. der Bevölkerung. Nach wie vor wurde dagegen das Thema der Regionalbedingungen und der Regionalwirkungen der Finanzaufbringung und der Finanzverausgabung in der Krankenversicherung und in der Sozialversicherung insgesamt entschieden ausgeblendet. Dies galt und gilt auch für die Opposition im Parlament und ebenso für die Verbände des Sozialen und der Wohlfahrt.

Der engagierte „Regionaldiskurs“ des Fachpublikums mutierte zur Tarnung von und zur Täuschung über das brachiale „Zentralisierungsdiktat“ des Politiksystems.

Drei Jahrzehnte zuvor, im Jahr 1977 war mit dem nachfolgend dokumentierten Gutachten zwar das Konzept eines Gesundheitsfonds erstmals, damals für West-Deutschland, formuliert worden. Allerdings wurde damals genau das Gegenteil der im Umsturz des Jahres 2009 mit dem zentralen Gesundheitsfonds durchgesetzten Entkoppelung von Zentralfinanzierung und Regionalversorgung angestrebt: Regionale Gesamtfonds sollten über alle inanzierungsträger in den jeweiligen Regionen hinweg die für Gesundheitsausgaben verfügbaren Geldmittel nach Maßgabe der in den Regionen feststellbaren Gesundheitslagen für die jeweils bestgeeignete Versorgungsstrukturen einsetzen.

In der damals Gesetz gewordenen sogenannten Kassenarzt-Bedarfsplanung wurde dieses Konzept „Regionaler Gesamtfonds“ wie von den Verfassern des hier dokumentierten Gutachtens vorausgesehen nicht berücksichtigt. Dafür wurde es dann aber in der einige Jahre später geführten jahrelangen Auseinandersetzung um die Reform der Gesetzlichen Krankenversicherung als Konzept einer durchgängigen „Regionalisierung“ aller Krankenkassenarten mit solidarischem Finanzausgleich erörtert und von Bundesländern, Kommunalverbänden, Sachverständigenrat und einige Jahre lang auch von der Ortskrankenkassenseite gefordert.

In Wissenschaft und Forschung zum Sozialstaat etablierte sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen die Fragestellung nach den Wechselwirkungen von Raumordnung,Sozialsicherung und Gesundheitsversorgung. Jahrzehntelang war hier die Studiengruppe für Sozialforschung e.V., von der auch das dokumentierte Gutachten verfasst worden ist, der entscheidende Akteur. Namen, die in diesem Zusammenhang immer wieder zu nennen waren und sind Prof. Albrecht Goeschel, Prof.Dr. Margarete Landenberger; Dr. Rudolf Martens; Dipl.Geogr. Markus Steinmetz und Dipl.Soz. Gerd-Uwe Watzlawczik.

Nach drei Jahrzehnten der Auseinandersetzung über Regionalisierung und damit Solidarisierung bzw. Zentralisierung und damit Entsolidarisierung in der Sozialversicherung insgesamt und in der Krankenversicherung insbesondere muss konstatiert werden: Die Bevölkerungen in den Regionen Deutschlands haben diesen verdeckten Krieg verloren . Nachdem in der zweiten Phase der gegenwärtigen Krise, d.h. unter Nutzung der Budget- und Eurokrise eine europaweite Austerity-Politik betrieben wird und die EU Vorgaben zur Reduzierung auch der Gesundheitssicherung auf eine Mindestsicherung macht, bleibt nichts weiter übrig, als die Diskussion über „Regionale Gesamtfonds“ nun als Diskussion über „Regionale Sezession“ aus dem EUR- und EU-System zu führen. Katalonien und Schottland sind hier interessante Beispielfälle.
Verona/Marquartstein Prof. Albrecht Goeschel
November 2015

Regionale Versorgungsszenarien: Strategie gegen die Kapitalisierung der Kassenarztwirtschaft und der Krankenhauswirtschaft
Eine Einführung von Albrecht Goeschel

In den Jahren nach 2010 hat das Politische System mit weiteren Gesetzen zur Kassenarztversorgung und zur Krankenhausversorgung nicht nur eingeräumt, sondern erneut bekräftigt, dass diese beiden Hauptsektoren der Gesundheitsversorgung zwar weiterhin mit steigenden Zwangsbeiträgen auf Arbeitseinkommen finanziert werden, jedoch weiterhin und noch weitgehender Handlungsfreiheit und Handlungsdruck zur Gewinnerzielung haben sollen. Für beide Sektoren sind neben der Investitionsübernahme durch Kapitalgesellschaften und neben der Personalkostensenkung eine noch weitere Fachspezialisierung und eine noch stärkere Standortzentralisierung bevorzugte Strategien der Gewinnerzielung. Das Politische System forciert diesen Rückzug aus der Breitenversorgung und diesen Rückzug aus der Versorgungsfläche durch Begünstigung zentralisierter ambulanter Versorgungsformen wie etwa der Medizinischen Versorgungszentren einerseits und durch Benachteiligung dezentraler stationärer Versorgungsformen wie etwa der Grundversorgungskrankenhäuser andererseits. Für das Politische System bietet diese Ausweitung einer profitorientierten Gesundheitswirtschaft über den Sektor der Pharmaindustrie hinaus die Chance zusätzlicher Steuereinnahmen und schrumpfenden Zuschussbedarfes.

„Zentralisierung“ ist dabei die versorgungspolitische und versorgungsplanerische Erscheinungsform, in der sich seit den 1970er Jahren ein schleichender Transformationsprozess des vormaligen Gemein- und Bedarfswirtschaftsbereiches „Gesundheitswesen“ in einen Unternehmens- und Gewinnwirtschaftsbereich „Gesundheitswirtschaft“ (Albrecht Goeschel 1983 in der Ärzte-Zeitung) in wechselvollen und widersprüchlichen Schritten vollzogen hat. Die „kritische“ Gesundheitsdiskussion spricht hier so gerne wie unzutreffend von „Ökonomisierung“, tatsächlich geht es hier aber um „Kapitalisierung“, um die Verdrängung demokratisch-politischer Steuerungsprozesse durch die Vorherrschaft autoritär administrativer Kapitalverwertungsregeln.

Bis zu ihrer praktischen Erledigung durch die zwischenzeitlich entstandenen Krankenkassenkonzerne, Kassenarztoligopole und Klinikketten und deren Wirkmacht waren die seit den 1970er Jahren gesetzlich vorgegebenen und mehr oder weniger auf der Länderebene angesiedelte „Kassenarzt-Bedarfsplanung“ und „Krankenhaus-Bedarfsplanung“ die Instrumente und die Podien, mit und auf denen „Zentralisierung“ als Form der Kapitalisierung von einer Vielzahl von Interessenten, auch Gewerkschaften und Sozialdemokraten, gefordert und vorbereitet wurde. Gegen diese „Zentralisierung“ führten die Einwohner, häufig auch ihre Gemeinden, in den Regionen vor allem West-Deutschlands seit den späten 1970er Jahren einen erbitterten Kampf um eine bevölkerungs- und wohnortnahe Arztpraxen- und Krankenhausversorgung. Orientierungspunkt war die „Region“. Aus heutiger Sicht haben die Bevölkerungen in den Regionen diesen vierzigjährigen Kampf verloren – allerdings nicht gänzlich, weil heute als sozusagen Kollateralnutzen dieser Auseinandersetzungen nicht nur eine sehr viel breitere und tiefere Kenntnis der Funktionsweise der Gesundheitsversorgung im kapitalistischen deutschen Sozialstaat als zu Beginn dieser Auseinandersetzungen vorhanden ist. Erschlossen wurden auch ganz neue politisch-ökonomische Dimensionen der Gesundheitsversorgung wie etwa ihr bedeutender Beitrag zur Wertverteilung in und auf die Regionen.

Treibende Kraft bei der Förderung und Entwicklung eigenständiger Gesundheitskonzepte von Kommunen und mehr noch Krankenhäusern für ihre Regionen war seit Ende der 1970er Jahre bis zum Jahr 2010 die „Studiengruppe für Sozialforschung e.V.“. Das in Bayern ansässige Institut hat mit mehreren hundert Gutachten, meist erstellt für Kommunen und Krankenhäuser in fast allen Bundesländern, seine Auftraggeber dabei unterstützt und dazu ermutigt, ausgehend jeweils von der regionalepidemiologischen Situation in den Versorgungsgebieten möglichst autonome und innovative Versorgungskonzepte zu entwickeln. Begleitet wurden die jeweiligen Beratungskampagnen in diesen Jahrzehnten durch eine Fülle von Fachkonferenzen zusammen mit Ärzteverbänden, Krankenhausvereinigungen, Sozialverbänden, Evangelischen Akademien und des Institutes selbst. Fachzeitschriften, Wochenmagazine, Verlage und Verbände, u.a. der Deutsche Landkreistag und das Institut der Deutschen Wirtschaft, boten Publikationsmöglichkeiten.

Angesichts des Kräfteverhältnisses war nicht zu erwarten gewesen, dass mehr als eine Verzögerung und Abmilderung der rücksichtslosesten Zentralisierungsversuche erreicht werden würden – in nicht wenigen Fällen gelang dies tatsächlich. Wichtiger noch war ein anderes Ergebnis dieser Auseinandersetzungen: Die Ende der 1970er Jahre mit dem vorliegenden Gutachten erstmals formuliert Konzeption „Regionaler Versorgungsszenarien“ erschloss der Versorgungsplanung im Gesundheitswesen die bis dahin dort gänzlich unbekannten Daten und Indikatoren der „Amtlichen Raumbeobachtung“ als einen fast unerschöpflichen Fundus für die Ausarbeitung der in diesem Gutachten geforderten eigenständigen und unabhängigen Beschreibungen der Lebens- und Gesundheitslagen in den Regionen als „Bedarf“. Heute können diese Daten und Indikatoren mehr denn je genutzt werden, um die unter dem Kapitalisierungsdruck weiter zunehmende Fehl- und Unterversorgung im Gesundheitsbereich dingfest zu machen. Markus Steinmetz hat mit seinem 2013 veröffentlichten „Kassenmedizin-Atlas für Deutschland“ ein gutes Beispiel für die Nutzung dieser Daten und Indikatoren geliefert.

Das Konzept „Regionaler Versorgungsszenarien“ ist in den Jahrzehnten seiner Anwendung immer wieder auch eine Art Suchprogramm für Lebens- und Gesundheitslagen gewesen, die weit außerhalb des fachgebietemedizinisch und kassenökonomisch verengten Wahrnehmungsradius liegen und für die dramatische Fehl- und Unterversorgungen gelten. Die Studiengruppe für Sozialforschung e.V. hat bei ihren Beratungs- und Begutachtungsprojekten in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre die ausgeprägte Männervorsterblichkeit in Deutschland und den Kernländern der EU zu einem Versorgungsthema für die deutschen Krankenhäuser gemacht und diese ein Jahrzehnt bei der Einrichtung u.a. von „Zentren für Männergesundheit“ beraten.

Mit finanzieller Förderung der „Autonomen Provinz Bozen-Südtirol“ hat das Institut ein Konzept für die Sicherstellung der defizitären ambulant-ärztlichen Vesorgung der Millionen Fernfahrer auf den EU-Autobahnen entwickelt. Ziel ist ein Autobahn begleitendes Netz von „Zentren für Kraftfahrergesundheit“ zunächst an Pilotstandorten in Italien und Deutschland. Auch der erkannte dringliche Bedarf an erreichbarer ambulant-ärztlicher Versorgung für die Fernfahrer und die weiter zunehmenden sonstige Mobilerwerbstätigen ist ein Ertrag des Konzeptes „Regionale Versorgungsszenarien“. Gänzlich uninteressiert an diesem nicht nur gesundheits-, sondern auch gewerkschafts- und europapolitisch zentralen Thema der ärztlich-ambulanten Versorgung der Millionen Transport- und Mobilbeschäftigten in der EU zeigt sich seit bald einem Jahrzehnt der Bundesvorstand der zuständigen Gewerkschaft „ver.di“, der damit sein bekanntes Desinteresse am Transportsektor erneut unter Beweis stellt.
Verona/Marquartstein Prof. Albrecht Goeschel
November 2015

Informationen zum originalen Bedarfsplanungs-Gutachten und zu dessen politischer Umsetzung bei:
mail@accademiaistituto.eu Stichwort: Regionaler Gesamtfonds


*Krankenhausstrukturgesetz - KHSG
Das Gesetz zur Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung (Krankenhausstrukturgesetz – KHSG) wurde am 5. November 2015 im Bundestag verabschiedet, hat am 27. November 2015 den Bundesrat passiert und wird zum 1. Januar 2016 in Kraft treten.

Link: Phantompatienten, Gesundheitsfonds, Kopfpauschale: Her mit dem Geld
Quelle: Akademie und Institut für Sozialforschung e.V.