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Direktversicherung: Anhörung am 27.1.16 im Gesundheitsausschuss zum Antrag der Linken - WORTPROTOKOLL

Los Angeles, 2012

27.01.2016 - von Bundestagsprotokoll

Protokoll-Nr. 18/64 18. Wahlperiode zur BT-Drucksache 18/6364 Doppelverbeitragung: Ausschuss für Gesundheit Wortprotokoll der 64. Sitzung am 27.1.2016 Vorsitz: Dr. Edgar Franke, MdB
Tagesordnung - Öffentliche Anhörung
Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Matthias W. Birkwald, Sabine Zimmermann (Zwickau), weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE.

Gerechte Krankenversicherungsbeiträge für Direktversicherungen und Versorgungsbezüge - Doppelverbeitragung vermeiden
BT-Drucksache 18/6364 Doppelverbeitragung
Federführend: Ausschuss für Gesundheit Mitberatend: Ausschuss für Recht und Verbraucherschutz, Finanzausschuss
am Mittwoch, dem 27. Januar 2016, in der Zeit von 14.00 Uhr bis 15.00 Uhr, im Anhörungssaal 3 101, Marie-Elisabeth-Lüders-Haus (MELH) Eingang: Adele-Schreiber-Krieger-Straße 1, 10557 Berlin

Verbände
aha Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung e. V.
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA)
Deutsche Rentenversicherung Bund
Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB)
Sozialverband Deutschland e. V. (SoVD)
Sozialverband VdK Deutschland e. V.
Verbraucherzentrale Bundesverband (vzbv)

Beginn der Sitzung: 14.03 Uhr
Der Vorsitzende, Abg. Dr. Edgar Franke (SPD): Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich bitte Sie Platz zu nehmen. Liebe Sachverständige, liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, liebe Vertreter der Me- dien, ich begrüße Sie herzlich zur öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Gesundheit. Es geht heute um die Beitragspflicht für Versorgungsbezüge, ein Thema, das viele Menschen interessiert und bewegt. Zu meiner Linken begrüße ich Frau Parlamentarische Staatssekretärin Ingrid Fischbach und die Vertreter der Bundesregierung. In dieser öf- fentlichen Anhörung beschäftigen wir uns mit einem Antrag der Fraktion DIE LINKE. „Gerechte Krankenversicherungsbeiträge für Direktversiche- rungen und Versorgungsbezüge – Doppelverbeitragung vermeiden“ auf Drucksache 18/6364. Wie am Anfang jeder Anhörung gebe ich Ihnen einige Erläuterungen zum Verfahren. Uns stehen für die Anhörung insgesamt 60 Minuten zur Verfügung. Die Fraktionen fragen abwechselnd. In der ersten Runde beginnt die CDU/CSU gefolgt von der SPD, dann fragt noch einmal die CDU/CSU, anschlie- ßend DIE LINKE. und dann BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN. In der zweiten Runde fragt zunächst wieder die CDU/CSU, gefolgt von der SPD, dann noch ein- mal die CDU/CSU und die SPD wiederum gefolgt von den Fraktionen DIE LINKE. und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN. Runde 1 und 2 erfolgen im Wechsel. Noch einmal zur Erinnerung: Jeder Fragende stellt eine Frage an einen Sachverständigen. Ich darf Sie bitten, die Fragen und Antworten möglichst kurz zu halten, damit viele Fragende und viele Sachverständige zu Wort kommen. Ich weise darauf hin, dass die 60 Minuten-Grenze die Liste bricht. Ich darf die Sachverständigen bitten, bei der Beantwortung der Fragen nicht nur die Mikrofone anzustellen, sondern auch ihren Namen und ihren Verband zu nennen. Schließlich bitte ich Sie, die Mobiltelefone auszustellen. Diese Anhörung wird zeitversetzt im Parlamentsfernsehen übertragen werden. Meine Damen und Herren, wir beginnen und die erste Fragestellerin der CDU/CSU-Fraktion ist ihre gesundheitspolitische Sprecherin, Frau Michalk.

Abg. Maria Michalk (CDU/CSU): Die Aufhebung der Beitragspflicht auf Versorgungsbezüge ist Gegenstand der Anhörung. Ich habe eine einführende, präzisierende Frage an den GKV-Spitzenverband.
Sie haben in ihrer Stellungnahme festgestellt, dass eine sogenannte Doppelverbeitragung nach den heute geltenden Regelungen für den überwiegenden Teil der Leistungen aus einer betrieblichen Altersversorgung ausgeschlossen ist. Vielleicht können Sie diesen Mechanismus noch einmal mündlich erläutern.

SV Dr. Pekka Helstelä (GKV-Spitzenverband): Es ist richtig, dass es im Rahmen der rechtlichen Regelung nicht gänzlich auszuschließen ist, dass es bei der betrieblichen Altersvorsorge zu einer Doppelverbeitragung kommt. Bedauerlicherweise gibt es kein konkretes Zahlenmaterial, anhand dessen dies abschließend bewertet werden könnte. Wir leiten unsere Schlussfolgerungen daraus ab, dass für den überwiegenden Teil der Leistungen aus einer betrieblichen Altersvorsorge eine Doppelverbeitra- gung ausgeschlossen werden kann. Hintergrund ist die im Jahr 2002 in Kraft getretene Regelung, wonach jeder Beschäftigte einen individuellen Anspruch auf Entgeltumwandlung durch den Arbeit- geber hat. Dieses Instrument ist in diesem Zusammenhang von herausragender Bedeutung. Entgeltumwandlung bedeutet, dass in der Ansparphase ein Anspruch auf eine betriebliche Altersversorgung durch den Beschäftigten begründet wird. Entscheidend ist, dass es eine Grenze für die Möglichkeit der Entgeltumwandlung gibt, die an der Realität gemessen recht hoch erscheint. Sie ist mit vier Prozent der Beitragsbemessungsgrenze der gesetzlichen Rentenversicherung deutlich höher als das, was wir aus Erhebungen des Statistischen Bundesamtes zur Entgeltumwandlung in Deutschland aus dem Jahr 2010 ersehen. Das war für das Jahr 2010 ein Betrag von 1.350 Euro. Dieser entspricht bei der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung West einem Anteil von genau zwei Prozent, bei der Beitragsbemessungsgrenze der Rentenversicherung Ost einem Anteil von 2,4 Prozent. Das heißt, er
liegt im Durchschnitt erheblich unterhalb der Möglichkeit, vier Prozent umzuwandeln. Daraus leiten wir, wohl anerkennend, dass es eine gewisse Spannbreite gegenüber dem Durchschnitt gibt, ab, dass diese Grenze von vier Prozent bei der Entgeltumwandlung selten überschritten wird und dadurch die beitragsfreie Ansparung auf eine betriebliche Altersvorsorge nicht möglich ist. Wer darüber hinaus spart, ist aus unserer Sicht ein Besserverdienender. Dieser wird in vielen Fällen die Beitragsbemessungsgrenze, sowohl der Kranken- als auch der Rentenversicherung überschreiten. Sofern hier ein Beitrag des Beschäftigten zur betrieblichen Altersvorsorge geleistet wird, geschieht dies wiederum beitragsfrei, weil die hierfür aufgewendeten Mittel oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze einerseits frei sind von Beiträgen für die Kranken- und Pflegeversicherung und andererseits für die Renten- und Arbeitslosenversicherung eine höhere Bemessungsgrenze gilt. Daraus leiten wir ab, dass die Mehrzahl der Beiträge in der Ansparphase beitragsfrei war.

Abg. Hilde Mattheis (SPD): Meine Frage richtet sich an Prof. Dr. Wille. Welche Wirkung hätte eine Beitragsbefreiung in der Ansparphase betrieblicher Direktversicherungen oder in der Auszahlungs- phase der Versorgungsbezüge auf die gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung und auch auf die Beitragszahlerinnen und Beitragszahler?

ESV Prof. Dr. Eberhard Wille: Sofern die Mindereinnahmen quantitativ ins Gewicht fallen, konnte ich dafür keine belastbare Datenbasis finden. Die heutige Generation der Beitragszahler leistet wegen der demografischen Entwicklung einen größeren Solidarbeitrag für die heute älteren Versicherten als die vorangegangene Generation. Dies trifft vor allem auf jene Versicherten zu, die schon vor Inkrafttreten des Betriebsrentengesetzes, also vor über zehn Jahren, an der Finanzierung der betrieblichen Altersversorgung beteiligt waren. Zudem erhalten diese Versicherten heute und zukünftig in Folge
des medizinischen Fortschritts eine spürbar qualifiziertere Gesundheitsversorgung als die von ihnen mitfinanzierte, vorangegangene Generation. Der zweite Aspekt scheint mir aber noch wichtiger zu sein. Die Beitragsbemessungsgrundlage in der gesetzlichen Krankenversicherung orientiert sich an der Leistungsfähigkeit, die der Versicherte, gemessen an seinen beitragspflichtigen Einnahmen, das sind von Ausnahmen abgesehen Arbeitsentgelt und Versorgungsbezüge, zum Zeitpunkt der Verbeitragung besitzt. Die Beitragsgestaltung stellt somit im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung ausschließlich auf eine zeitlich horizontale Betrach- tung ab und fragt nicht nach dem Zustandekommen dieser Einnahmen in der Vergangenheit. Das hat auch das Bundesverfassungsgericht bestätigt.
Die Forderung nach einer Beseitigung der Doppelverbeitragung für Direktversicherungen und Versorgungsbezüge lässt außer Acht, dass auch die Renten in der gesetzlichen Krankenversicherung, die in der Leistungsphase der Verbeitragung unterliegen, in ihrer Entstehungsphase aus Bruttoeinkommen stammen, die der Verbeitragung unterlagen. Im Unterschied dazu reduziert die Entgeltumwandlung das steuer- und sozialversicherte Bruttoeinkom- men, was bei den Renten nicht der Fall ist. Die Renten werden sogar belastet, wenn sie in der Entstehungsphase auf freiwilligen Beiträgen beruhen und der Rentner niemals einer Berufstätigkeit nachging. Diese Problematik betrifft auch andere Einkommensarten, sofern man die Versorgungsbezüge von der Doppelverbeitragung freistellt. Die Beseitigung der Doppelverbeitragung konfligiert im Sinne einer Gleichbehandlung mit einer nicht nur von Befürwortern der Bürgerversicherung geforderten Erweiterung der Bemessungsgrundlage in der GKV. Zinsen, Mieten und Pachten entstammen bei vielen Versicherten einem Einkommen, das in der Entstehungsphase ebenfalls bereits zu einem beachtlichen Teil der Verbeitragung unterlag. Die Beseitigung der Doppelverbeitragung mag bei isolierter Betrachtung eine gewisse Berechtigung besitzen
und in einzelnen Fällen zu besonderen Härten führen. Sie bildet eine Besonderheit, aber wenn wir sie beseitigen würden, hätte das kaum absehbare Konsequenzen für andere Einkommensarten.

Abg. Reiner Meier (CDU/CSU): Meine Frage geht an den Einzelsachverständigen Prof. Dr. Spoerr. Wie beurteilen Sie den Antrag der Fraktion DIE LINKE., die Beitragserhebung auf Versorgungsbezüge zu beenden? Bitte gehen Sie bei Ihrer Antwort insbesondere auf den Bestands- und Vertrauensschutz, die Generationengerechtigkeit und das Leistungsniveau der GKV, die bei der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine wesentliche Rolle gespielt hat, ein.

ESV Prof. Dr. Wolfang Spoerr: Mit dem Antrag wird ein außerordentlich komplexes Thema aufgerufen. Dahinter steckt das Postulat bei öffentlichen Abgaben, d. h. bei Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen von der Quelle bis zum Konsum, nur einmal die gleiche Abgabe zu zahlen. Das scheint für Sofortverbraucher ein Postulat der auch verfassungsrechtlich geforderten Gleichbehandlung zu sein. Zugleich sind wir in einem komplexen Übergang von Altersversorgungs- und Sozialsystemen. Hier ist das verfassungsrechtliche Thema des Kontinuitätsvertrauensschutzes aufgerufen. In der schriftlichen Stellungnahme des Einzelsachverständigen Prof. Dr. Bieback, der das aus einem anderen Blickwinkel sieht, ist sehr gut ausgeführt, wie vielschichtig und teilweise auch zufällig gestaltungsabhängig die Vertrauensschutz beanspruchenden historischen Gestaltungen waren. Trotzdem muss man sich fragen, ob dieses Kontinuitätsvertrauen gesetzeberisch geschützt werden kann. Das prominenteste Beispiel ist das Wahlrecht, das in der Vergangenheit einmal davon abhing, ob ein Kapitalwahlrecht besteht. Solche gesetzlichen Regelungen leisten der steuer- und sozialversicherungsbeitragsoptimierten Gestaltung Vorschub. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
gilt, dass auch wer sehr geschickt gestaltet, nicht sicher sein kann, dass der Gesetzgeber die Grundlage für solche Gestaltungsmöglichkeiten in späteren Zeiträumen nicht einschränkt. Es stellt sich die Frage, ob es verfassungsrechtlich anders geregelt werden dürfte, als es derzeit der Fall ist. Dürfte
man Doppelverbeitragungen abschaffen? Hier müssen zwei Varianten unterschieden werden. Die erste Variante ist, dass der Gesetzgeber sich entscheidet, die unterschiedlichen Fallgestaltungen der Vergangenheit so zu erfassen, dass es grund-
sätzlich zu einer Einfachverbeitragung kommt. Dies wäre eine außerordentlich komplizierte Regelung und die Sachverständigen, die sich damit befasst haben, bezweifeln, dass diese Variante realisierbar wäre. Im Gespräch ist die Regelung, das Kind mit dem Bade auszuschütten und denen, die keine Verbeitragung hatten, das gleiche Privileg zu geben. Hierzu ist gesagt worden, dass dies ohne weiteres möglich sei, weil es sich um eine Begünstigung handle. Man hat aus Versehen jemanden mit begünstigt. Diese Deduktion halte ich im System der gesetzlichen Krankenversicherung für verfassungsrechtlich unzulässig. Es gibt keine Begünstigung, die nicht auch eine verfassungsrechtlich zu prüfende Belastung anderer, nämlich der Erwerbstätigen, die mehr zahlen, ist. Es darf nicht von der rechtstechnischen Gestaltung abhängen, ob man es Vergünstigung oder Belastung nennt. Das sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Deswegen bestünde dort ebenfalls ein Rechtfertigungsbedarf. Diese Rechtfertigung kann meines Erachtens nicht gelingen. Somit komme ich zur letzten Prüfungsstufe, zu der Frage, ob es Änderungen geben muss. Dazu bedarf es der Einführung eines exakt differenzierenden Systems. Hier spielen Artikel3 Grundgesetz,der Gleichbehandlungsgrundsatz, und das Leistungsfähigkeitsprinzip die entscheidende Rolle. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist an dieser Stelle klar. Das Leistungsfähigkeitsprinzip ist in der gesetzlichen Krankenversicherung von anderen Prinzipien, insbesondere vom Äquivalenzprinzip, d. h. welche Leistung man bekommt, überlagert. Durch Verschiebungen und Verwerfungen entstehen über viele Jahre hinweg Situationen die, wenn sie, wie Professor Wille ausgeführt hat, innerhalb eines Jahres entstanden wären, rechtfertigungsbedürftig wären. Intertemporal gilt das Gleichbehandlungsprinzip nicht, weil der Gesetzgeber in seiner Gestaltungsfreiheit, den sich wandelnden Herausforderungen des Sozialstaats gerecht zu werden, verfassungsrechtlich viel zu stark eingeschränkt wäre. Ist die punktuelle Einschränkung des Leistungsfähigkeitsprinzips gerechtfertigt? Hier müssen wir auf das Äquivalenzprinzip schauen. Es ist zu konstatieren, dass alle im System der gesetzlichen Krankenversicherung Deutschlands Altersversorgten weltweit einmalig hervorragende Leistungen für im Vergleich niedrige Beiträge erhalten. Es reicht für diesen Vergleich an die Systemgrenze der privaten Krankenversicherung zu gehen und zu sehen, wie Ehegatten von Beamten nach einer Scheidung aus der Versorgung herausfallen oder wie hoch die Beiträge dort sind. Vor dem Hintergrund der gewährten Leistungen ist die Frage, ob ein Euro, der als D-Mark ganz oder teilweise einem Beitrag unterlag, noch einmal mit 14 Prozent belegt wird, verfassungsrechtlich banal und kann keinen Anlass dazu geben, an dieser Stelle Korrekturen vorzunehmen.

… Zwischenrufe aus dem Publikum …

Der Vorsitzende: Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie haben als Zuhörer kein Recht das Gehörte durch Beifall oder Buhrufe oder Ähnliches zu kommentieren. Ich müsste sonst die Zuschauer- bänke räumen. Ich bitte Sie, das zu beachten.

Abg. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.): Meine Frage geht an Prof. Dr. Bieback. Der Vertreter des GKV-Spitzenverbandes hat ausgeführt, dass die Doppelverbeitragung nur in sehr begrenztem Ausmaß stattfinde und es nur wenige betroffene Rentnerinnen und Rentner gebe. Wie hoch ist die Zahl der Betroffenen?

ESV Prof. Dr. Karl-Jürgen Bieback: Im Gegensatz zu dem, was vorhin gesagt wurde, ist die betriebliche Altersversorgung wie alle Altersversorgungen langfristig. Es geht nicht nur um den Stichtag 2004, sondern es geht um Anwartschaften, die im Schnitt über 40 bis 50 Jahre gewachsen sind. Vor 2004 wurden nach Angaben des Bundesministeriums für Arbeit und Gesundheit 27 Prozent der Systeme der betrieblichen Altersversorgung ausschließlich
durch Arbeitnehmer und 27 Prozent gemischt von Arbeitgebern und Arbeitnehmern finanziert. Ab 2004 ist die grundsätzliche Einschätzung richtig, aber wir haben viele Gruppen. Es gibt zunächst einmal die Einzahlungen oberhalb der 4-Prozent-Grenze. Dabei handelt es sich um leistungsfähigere Einzahler. Warum diese wegen dieses Kriteriums einmal so und einmal so behandelt werden, ist zweifelhaft. Wenn der Höchstbeitrag gezahlt wurde, ist die Beitragsbefreiung vorbei. Weiter mussten Altverträge der Direktversicherung angepasst werden, aber das ist bei einem erheblichen Teil der Altverträge nicht geschehen und es läuft nach dem alten Regime und nach der alten Nettoentgeltumwandlung aus dem beitragspflichtigen Einkommen vor 2004. Wenn ein Arbeitnehmer heute bei seinem Arbeitgeber ausscheidet, kann er die Altersversorgung manchmal auf seinen Namen umschreiben lassen, um dann das, was Bundesverfassungs- und Bundessozialgericht abgesegnet haben, im Alter beitragsfrei zu genießen. Aber bei Pensionsfonds und -kassen usw. geht das nicht. Hier handelt es sich um kollektive Systeme. Wenn sie dort 20 bis 30 Jahre eingezahlt haben und die Entwicklung relativ gut verläuft, wäre es unvernünftig auszusteigen. Zu guter Letzt gibt es den großen Bereich der Unternehmen und der Regionen sowie der Geschlechter und der Einkommen, die erheblich weniger von der Entgeltumwandlung profitieren als die Mehrzahl, die sie angeführt haben.

Abg. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe eine Frage an Prof. Dr. Jacobs. Wie sollten aus Ihrer Sicht die bestehenden Inkonsistenzen und Ungerechtigkeiten in der beitrags- rechtlichen Behandlung unterschiedlicher Arten von Alterseinkünften aufgelöst werden und welche Instrumente würden sich dafür anbieten?

ESV Prof. Dr. Klaus Jacobs (Wissenschaftliches

Institut der AOK (WIdO)): Prof. Dr. Bieback hat ge- rade ein Beispiel genannt. Ich selbst habe einige dieser Fälle erst bei der Vorbereitung zu dieser An- hörung kennengelernt. Das ist schwer vermittelbar, weil die Leistungsfähigkeit der Menschen gleich ist. Das ist der entscheidende Punkt. Herr Prof. Dr. Wille hat die Systematik der Beitragsbemessung in der gesetzlichen Krankenversicherung unter dem Stichwort „Beiträge nach der ökonomischen Leistungsfähigkeit“ beschrieben. Wie ist dies abzugrenzen? Hier gibt es eine Fülle von Inkonsistenzen. Prof. Dr. Bieback hat einen ganz konkreten Fall genannt, nämlich wenn ein Arbeitnehmer aus einem Unternehmen ausscheidet. In einem Fall wird die Versicherung umgeschrieben, in einem anderen Fall nicht. Aus rein formalen Gründen resultieren daraus unterschiedliche Beitragsbelastungen, ob- wohl ich als Ökonom sagen würde, dass sich die ökonomische Leistungsfähigkeit dieser beiden Menschen nicht unterscheidet. Es unterscheidet
sich aber die ökonomische Leistungsfähigkeit eines Rentners oder einer Rentnerin, die beispielsweise Einnahmen aus einer privat abgeschlossenen Rente oder aus einer Vermietung beziehen. Diese Einkom- men stehen heute nicht zur Diskussion, denn sie sind grundsätzlich beitragsfrei. Insofern gibt es im Bereich der Alterssicherung aus den drei Säulen gesetzliche Rentenversicherung, betriebliche und private Altersvorsorge eine sehr unterschiedliche Belastung von Situationen, die aus ökonomischer Sicht eine Gleichbehandlung im Hinblick auf die Leistungsfähigkeit nahelegen würden. Das gilt nicht nur im Bereich der Alterssicherung, sondern generell für die Versicherten in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es gibt beispielsweise zwischen freiwillig- und pflichtversicherten Mitgliedern unterschiedliche Regelungen, welche Einkommen für die Beitragsbemessung zu Grunde gelegt werden sollen. Auch hier gibt es eine unterschiedliche Behandlung der ökonomischen Leistungsfä- higkeit von Versicherten. Wenn man die Gerechtigkeit im Hinblick auf eine gerechte Verbeitragung nach der ökonomischen Leistungsfähigkeit ernst meint, muss man weit über den Aspekt der Alterssicherung hinausgehen und sich von der aus historischen Gründen nach wie vor bestehenden Fixierung auf Erwerbskriterien lösen, weil die Erwerbskriterien die ökonomische Leistungsfähigkeit der Menschen in diesem Lande in immer geringe- rem Umfang abbilden. Sie sind nach wie vor wichtig, aber zunehmend spielen auch andere Einkommensarten, die auch im Hinblick auf die Abbildung der ökonomischen Leistungsfähigkeit mit berücksichtigt werden müssten, eine Rolle.

Abg. Dr. Georg Kippels (CDU/CSU): Meine Frage richtet sich an den GKV-Spitzenverband. Früher haben pflichtversicherte Rentner den halben und freiwillig Versicherte den vollen Beitrag auf Direkt- versicherungen gezahlt. Mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG 2003) wurde diese Gerechtig- keitslücke geschlossen und der volle Beitragssatz auf alle angewendet. Welche Einnahmeverluste würden der GKV entstehen, wenn man zum halben Beitragssatz für die Pflichtversicherten oder für beide Personengruppen zurückkehrt? Gehen Sie bitte darauf ein, wie sich die Ausgaben für den be- troffenen Personenkreis darstellen.

SV Dr. Pekka Helstelä (GKV-Spitzenverband): Die Einnahmeverluste lassen sich für das Jahr 2014 mit einer Größenordnung von 2,6 Milliarden Euro konkretisieren. Da der Zusatzbeitragssatz ausgenommen ist, ist bei einer Halbierung des allgemeinen Beitragssatzes von den tatsächlich geleisteten Beiträgen von 5,4 Prozent nicht exakt die Hälfte als einnahmerelevante Minderung anzusehen. Ihre Frage zu den Ausgaben bezieht sich sicherlich auf die damalige Absicht des Gesetzgebers, den Finanzierungsanteil der Rentner an den Ausgaben der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) in eine politisch gewünschte Richtung zu beeinflussen. Hierzu können wir aktuell feststellen, dass mit der Einführung des vollen Beitragssatzes auf die Versorgungsbezüge ein Anstieg des Finanzierungsanteils um rund 6 bis 7 Prozentpunkte erfolgte. Seit dem Jahr 2004 bewegt sich der Finanzierungsanteil der Rentner an den Ausgaben der KVdR stetig mit einer klaren Tendenz wieder in die alte Größenordnung von 43 bis 44 Prozent. Das heißt, wir stellen bestenfalls eine Stagnation, ansonsten jährlich einen leichten Rückgang dieses Finanzierungsanteils fest. Das ist ohne jede Wertung eine Beschreibung der von uns ermittelten Zahlen.

Abg. Sabine Dittmar (SPD): Meine Frage richtet sich an Prof. Dr. Jacobs. Welche anderen beitrags- pflichtigen Einnahmearten der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung werden von einer ge- setzgeberischen Entscheidung, wie sie die Fraktion DIE LINKE. fordert, betroffen und welche Auswirkungen hätte dies auf Arbeitnehmer und Rentner?

ESV Prof. Dr. Klaus Jacobs (Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO)): Die Verbeitragung sonstiger Einkommen betreffen den Arbeitgeber und die Rentenversicherung nicht.Das ist nur möglich, wenn der Arbeitgeber, und das ist eine aktuelle Diskussion, sich paritätisch, bzw. im gleichen Umfang auch die Rentenversicherung beteiligt. Auch bei anderen Einkommensarten, etwa bei der
Gruppe der Selbstständigen, die ihr eigener Arbeitgeber ist und deshalb den gesamten Beitrag alleine bezahlen muss, fehlt eine entsprechende Mitfinanzierung,

Abg. Heiko Schmelzle (CDU/CSU): Meine Frage richtet sich an Prof. Dr. Spoerr. Wie bewerten Sie das Argument, dass eine Doppelverbeitragung im Hinblick auf die Steuergesetzgebung eine kalte Ent-ignung darstellt?

ESV Prof. Dr. Wolfang Spoerr: Das ist eine verfassungsrechtliche Frage, die klar zu beantworten ist. Öffentliche Beitragslasten sind auch dann, wenn man über ihre Systemgerechtigkeit im Zeitverlauf oder im Vergleich zweifeln kann, eindeutig keine Enteignung, vor allem wenn sie sich in dem Bereich zwischen 10 und 20 Prozent bewegen.

Abg. Heike Baehrens (SPD): Ich habe eine Frage an Prof. Dr. Jacobs. Die Antragsteller führen als Argument für ihre Forderung an, eine sogenannte Doppelverbeitragung sei eine kalte Enteignung von Rentnerinnen und Rentnern. Wie bewerten Sie dieses Argument vor dem Hintergrund der Systematik der Beitragsbemessung innerhalb der solidarischen Kranken- und Pflegeversicherung?

SV Prof. Dr. Klaus Jacobs (Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO)): Prof. Dr. Wille hat im Prinzip schon darauf geantwortet, dass die Systematik der Beitragsbemessung in der gesetzlichen Krankenversicherung dergestalt ist, dass ich den Begriff der Doppelverbeitragung nicht akzeptiere. Zum Zeitpunkt der Verbeitragung ist die ökonomische Leistungsfähigkeit relevant. Es kommt nicht darauf an, woher die im Einzelfall kommt. Ob das zum Beispiel neben der gesetzlichen Rente der B zug einer betrieblichen Altersversorgungsleistung, die früher durch den Arbeitgeber oder durch den Arbeitnehmer oder durch beide zusammen finanziert wurde, ist, spielt für den Moment der Verbeitragung keine Rolle. Ein Rentner aber, der zusätzlich zu einer gesetzlichen Rente noch weitere Einnahmen bezieht, hat eine andere Leistungsfähigkeit als ein Rentner, bei dem das nicht der Fall ist. Deshalb finde ich es akzeptabel, dass Beiträge für diese zusätzlichen Renten bezahlt werden und deswegen kann ich den Begriff der Doppelverbeitragung nicht akzeptieren. Diese Figur passt nicht in das System der solidarischen Finanzierung. Sie kommt aus einem anderen Kontext. Würden wir sie in die ge- setzliche Kranken- und Pflegeversicherung übernehmen, auch darauf hat Prof. Dr. Wille hingewiesen, müssten wir den Großteil der gesetzlichen Renten beitragsfrei stellen. Das hätte eklatante Konsequenzen für die Finanzlage der gesetzlichen Krankenversicherung. Dort mindern sich die Ausgaben nicht, wenn die Beitragslasten reduziert werden, sondern sie bleiben im selben Umfang bestehen. Das heißt, wenn die Beitragszahlung vermindert wird, würde diese Maßnahme bei allen anderen Beitragszahlern ceteris paribus höhere Belas- tung hervorrufen, denn anders als in der Alterssicherung gingen die Ansprüche nicht zurück. In der Krankenversicherung bleiben die Ausgaben auf Grund des übergroßen Anteils von Versorgungsleistungen unverändert bestehen und würden sich entsprechend der ökonomischen Belastung der anderen Beitragszahler erhöhen.

Abg. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.): Meine Frage geht an Frau Sternberger-Frey.Wie kann aus Ihrer Sicht eine gerechte Belastung von Direktversicherungen und anderen arbeitnehmerfinanzierten Betriebsrenten erreicht werden? Was sind Ihre Forderungen?

ESVe Barbara Sternberger-Frey: Wenn wir von der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit ausgehen, dann haben wir bei allen Betriebsrenten, die heute aus Entgeltumwandlung, und damit meine ich nichtnur sozialabgabenfrei, aufgebaut werden, nicht unbedingt eine gestiegene wirtschaftliche Leistungsfähigkeit im Alter. Die Verringerung des staatlichen Renteneinkommens wird durch eine Betriebsrente ausgeglichen und das Einkommen auf zwei Bausteine verteilt. Die Argumentation aber lautet, dass auf Grund der zwei Bausteine mehr Geld zur Verfügung steht und dieses wird entsprechend höher verbeitragt. Diese Lösung ist ungerecht und eine Inkonsistenz im Beitragsrecht. Diese muss auf jeden Fall wegfallen. Wenn man Altersarmut vermeiden und die Betriebsrenten mit der Privatvorsorge gleichstellen und dafür sorgen will, dass die Menschen sich beteiligen, gibt es eine einfache Lösung: Keine Beitragsfreiheit in der Finanzierungsphase, dafür aber Beitragsfreiheit in der Rentenphase. Wenn das nicht in das System der Krankenversicherung passt, müsste man auf die Leistung vor der Reform 2002 zurückgreifen. Damals hatte der Arbeitnehmer den hälftigen Beitrag sowohl auf die Finanzierung als auch auf die Rente selbst zu entrichten. Für alle Durchschnittsverdiener, die das nicht schultern können, weil sie ohnehin mehr Beiträge aufbringen müssen, da wir aus der solidarischen Finanzierung der Lebensaltersrentenleistung ausgestiegen sind, könnten wir den Freibetrag im SGB V erhöhen. Dieser beträgt bei einer Mini-Betriebsrente rund 145 Euro. Der sollte erhöht werden. Ich spreche ausdrücklich nur von arbeitnehmerfinanzierten Betriebsrenten. Die sollten wir entsprechend anheben. Das wäre vielleicht eine Lösung. Ansonsten verhalten sich die Arbeitnehmer, die bei der Betriebsrente nicht mitmachen, ökonomisch rational, denn sie werden für die Vorsorge durch die erhöhte Doppelverbeitragung in der Rentenphase, wo sie Arbeitnehmer- und Arbeitgeberanteil auf ihre Betriebsrente zahlen, bestraft.

… Applaus auf der Tribüne …

Der Vorsitzende: Liebe Zuhörerinnen und Zuhörer, ich weise noch einmal darauf hin, dass es Ihnen nicht erlaubt ist, Missfallens- oder Beifallsbekundungen zu machen. Ich bitte Sie diese Regel, unabhängig davon was gefragt oder geantwortet wird, zu akzeptieren.

Abg. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Ich habe eine Frage an Prof. Dr. Bieback. Wir haben bereits gehört, dass es zahlreiche Unstimmigkeiten in der beitragsrechtlichen Betrachtung unterschiedlicher Einkunftsarten im Alter und insgesamt gibt. Wie sollte aus Ihrer Sicht ein stimmiges System zur Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung, das neben einer stabileren und gerechteren Finanzierungsbasis diese Unstimmigkeiten beheben würde, aussehen?

ESV Prof. Dr. Karl-Jürgen Bieback: Die Basis kann nur eine volle Verbeitragung nach dem Prinzip der Leistungsfähigkeit sein. Ich möchte gerade für das Problem der Altersrenten darauf hinweisen, dass die intertemporale Gleichbehandlung vernachlässigt wird. Aber sie ist keine Quantité négligeable, sondern wird unter Gleichbehandlungsgesichts- punkten einzustellen sein. Nebenbei gesagt speist sich die ganze Diskussion um die vor- oder nachge- lagerte Besteuerung der Renten aus diesem Prinzip. Deshalb kann man nicht sagen, dass der Erheber der Abgaben in der gesetzlichen Krankenversicherung tun und lassen kann, was er will. Sie können zweierlei machen: Sie können die Altersversorgung entweder entsprechend der nachgelagerten Besteuerung im Steuerrecht in der aktiven Phase von Beiträgen befreien und die volle Verbeitragung auf die Altersversorgung verlagern. Sie können aber auch ein Mischsystem einführen, d. h. einen halben Beitrag für die Aufwendungen zur Altersversorgung in der aktiven Phase und einen halber Beitrag in der Rentenphase plus der vollen Verbeitragung des Ertragsteils. Nicht akzeptabel ist das völlig konfuse System der Entgeltumwandlung mit einer vollen Freistellung in der aktiven Phase, da sich der Beitragsbedarf der GKV nicht verändert, wie Prof. Dr. Jacobs das schon gesagt hat. Das heißt, diejenigen, und das ist ein erheblicher Anteil der Versicherten, die nicht an der Entgeltumwandlung teilnehmen, müssen diese Freistellung in der aktiven Phase mitfinanzieren. Das entspricht, wenn wir hier von horizontaler Gleichbehandlung sprechen, nicht dem Produktprinzip für die Verbeitragung in der gesetzichen Sozialversicherung.

Abg. Reiner Meier (CDU/CSU): Meine Frage geht an Prof. Dr. Sodan. Wie beurteilen Sie die Forderung des Antrags, eine Bürgerversicherung einzuführen im Hinblick auf die Verfassungskonformität? Haben Sie dazu neue Erkenntnisse, die Sie uns kundtun könnten?

ESV Prof. Dr. Helge Sodan: Die Antwort auf den zweiten Teil Ihrer Frage ist schlicht: Neue Erkenntnisse gibt es nicht, aber die alten Erkenntnisse treffen weiterhin zu. Das Modell einer als Bürgerversicherung bezeichneten, umfassenden Einwohnerversicherung unter gleichzeitiger Beschränkung der privaten Krankenversicherung auf Zusatzversicherungen stößt nach meiner Überzeugung auf schwerwiegende verfassungsrechtliche Einwände. Diese werden seit vielen Jahren vorgetragen und ich darf
sie noch einmal zusammenfassen: Zunächst fehlt dem Bund die Gesetzgebungszuständigkeit. Als Kompetenztitel zugunsten des Bundes kommt hier nur die Zuständigkeit für die Sozialversicherung in Betracht. Nach der Judikatur des Bundesverfassungsgerichts können insoweit zwar neue Lebenssachverhalte in das Gesamtsystem Sozialversicherung einbezogen werden, es muss aber zumindest eine Orientierung am klassischen Bild der Sozialversicherung erfolgen. Von diesem Bild würde sich eine Bürgerzwangsversicherung, die die gesamte Bevölkerung einbeziehen würde, gerade durch die Einbeziehung von Selbstständigen und Beamten vollends lösen. Eine als Volksversicherung ausgestaltete Sozialversicherung ließe sich auch mit Grundrechtsvorschriften nicht vereinbaren. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts greifen Zwangsmitgliedschaften in öffentlich-rechtlichen Körperschaften wie den gesetzlichen Krankenkassen in das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit ein und sind daher rechtfertigungsbedürftig. Zwar ist eine soziale Pflichtversicherung prinzipiell zulässig, eine die gesamte Bevölkerung einbeziehende Bürgerzwangsversicherung würde aber für viele Pflichtmitglieder, die eindeutig nicht sozialschutzbedürftig sind, in keinem vernünftigen Verhältnis zu den diesen Personen aus der Pflichtzugehörigkeit erwachsenen Vorteilen stehen. Der heutige Vizepräsident und Vorsitzende des ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts, Ferdinand Kirchhoff, hat als Wissenschaftler im Jahr 2004 in einem Aufsatz ausgeführt, auch das fiskalische Motiv niedriger Beitragssätze oder einer Vermeidung von Steuerzuschüssen könne eine umfassende Bürgerzwangsversicherung in grundrechtlicher Hinsicht nicht legitimieren.

Der Vorsitzende: Prof. Dr. Sodan, recht herzlichen Dank, aber die Bürgerversicherung ist nur mittelbar Gegenstand des Antrags. Wenn Sie dann bitte zum Ende kommen.

ESV Prof. Dr. Helge Sodan: Ich bin gefragt worden, ob es neue Erkenntnisse zur Verfassungskonformität einer Bürgerversicherung gibt. Daraufhin habe ich geantwortet, dass es keine neuen Erkenntnisse gibt, aber die alten weiterhin greifen. Möglicher- weise gefällt das nicht jedem, aber ich musste es so deutlich sagen. Ebenso wenig ließe sich der zumindest mittelbare schwere Eingriff in das Grundrecht der privaten Krankenversicherungsunternehmen, und zwar der Eingriff in das Grundrecht der Berufsfreiheit, rechtfertigen. Bitte erlauben Sie mir in aller Kürze zwei Hinweise auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Im Jahr 2004 weist ein Beschluss des Gerichts ausdrücklich darauf hin, dass die im sogenannten Beitragssatzsicherungsgesetz geregelte und als verfassungsgemäß angesehene deutliche Erhöhung der Versicherungspflichtgrenze, so das Gericht wörtlich, das duale Krankenversicherungssystem nicht grundsätzlich verändere und der Geschäftsbereich der privaten Krankenversicherung der Beamten und Selbstständigen unangetastet bleibe. In seinem Grundsatzurteil vom 10. Juni 2009 zum GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz hat das Bundesverfassungsgericht die Intention des Gesetzgebers, das duale Krankenversicherungssystem zu erhalten und zu stärken, ausdrücklich gebilligt. In dieser Entscheidung heißt es wörtlich: „Dabei soll auch die private Säule zur Vollfunktionalität gelangen und ihre Mitglieder in gleicher Weise wie die öffentlich-rechtliche Versicherung umfassend, rechtssicher und dauerhaft absichern.“

Der Vorsitzende: Prof. Dr. Sodan, ich muss mich entschuldigen, es steht im Antrag und ich habe es überlesen. Und insofern, Herr Kollege Meier, ist auch ihre Frage korrekt.

Abg. Helga Kühn-Mengel (SPD): Ich wende mich an Prof. Dr. Jacobs. Wäre aus Ihrer Sicht die Abschaffung der sogenannten Doppelverbeitragung von beitragspflichtigen Einnahmen zur Kranken- und Pflegeversicherung ein geeignetes Instrument zur Förderung der betrieblichen Altersvorsorge?

ESV Prof. Dr. Klaus Jacobs: Ich habe in meiner Stellungnahme versucht deutlich zu machen, dass ich das Problem sehe. In der Alterssicherung, auch nach der Rentenreform, die im Prinzip einen Paradigmenwechsel weg von einem Sicherungs- hin zu einem Beitragssatzziel vollzogen hat, stellt sich jetzt die Notwendigkeit für ergänzende Säulen in der betrieblichen und in der privaten Altersvorsorge, die substantiell in gewachsene Lücken der Rentenversicherung stoßen müssen. Nur sind gesetzliche Kranken- und Pflegeversicherung dafür aus meiner Sicht die denkbar ungeeignetsten Anknüpfungspunkte. Die gesetzliche Krankenversicherung wird zunehmend mit Aufgaben belastet, für die sie nicht da ist. Ein Stichwort ist die mehrfache Absenkung der Beiträge für Arbeitslose über einen längeren Zeitraum. Das bedeutet faktisch, dass ein Teil des Arbeitslosigkeitsrisikos in Deutschland nicht von der dafür zuständigen Arbeitslosenversicherung, sondern von der Krankenversicherung getragen wird. Ein weiteres Stichwort ist die zunehmende Beitragsfinanzierung von gesamtgesellschaftlichen Aufgaben, die nicht nur den gesetzlich Versicherten, sondern der gesamten Be- völkerung zu Gute kommt. Ein weiteres Beispiel aus der laufenden Legislaturperiode ist die Mitfinanzierung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung aus Beitragsgeldern oder die Finanzie- rung von Versorgungsforschung im Innovationsfonds, die ebenso wie der Strukturfonds im Krankenhausstrukturgesetz weit über die GKV hinausgeht. Wäre die Ausgabensituation der gesetzlichen Krankenversicherung problemlos, könnte man darüber sprechen, Defizite in der Alterssicherung über die Krankenversicherung aufzufangen. Aber wir wissen, meine Damen und Herren, dass wir schon heute, aber erst recht in der Zukunft, auch in der gesetzlichen Krankenversicherung zunehmend Ausgabenprobleme bekommen. Deswegen sollte sich die GKV-Finanzierung darauf konzentrieren, eine stabile, nachhaltige und gerechte Finanzierung der originären Aufgaben der GKV sicherzustellen, ohne damit die anderen Probleme zu negieren. Für diese ist die GKV nicht da.

Abg. Maria Michalk (CDU/CSU): Wir haben mehrfach von der Inkonsistenz der Verbeitragung im Beitragsrecht gehört. Mit Blick auch auf die Ausführungen von Prof. Dr. Bieback frage ich die Deutsche Rentenversicherung, was es für Rentner und für die Rentenversicherung bedeutet, wenn wir jetzt festlegten, dass Einnahmen, wenn sie aus verbeitragten Einkommen kommen, beitragsfrei sind. Hätten Sie eine Alternative für die Krankenversicherungsbesteuerung für Rentner?

SV Dr. Reinhold Thiede (Deutsche Rentenversicherung Bund): Es ist richtig, was Sie sagen. Die Beiträge, die ein Arbeitnehmer in die Rentenversicherung zahlt, zahlt er in aller Regel auf das Einkom- men, das auch der Krankenversicherungspflicht unterliegt. Auf der anderen Seite unterliegen die Renten aus der gesetzlichen Rentenversicherung ebenfalls der Beitragspflicht in der gesetzlichen Krankenversicherung. Es geht hier um nicht unbe- deutende Volumina. Wir hatten in 2014 Ausgaben der gesetzlichen Rentenversicherung in Höhe von etwa 16 Milliarden Euro für die Krankenversicherung der Rentner. Das ist allerdings nur der Bei- tragsanteil der gesetzlichen Rentenversicherung. Den gleichen Anteil plus den Zusatzbeitrag tragen die Rentner. Es geht also insgesamt um Größenordnungen von 30 bis 40 Milliarden Euro. Wie das in der Krankenversicherung anders zu finanzieren wäre, wenn nicht über Beiträge der Rentenbezieher, kann ich Ihnen nicht beantworten. Für die Rentenversicherung bedeutet es eine Einsparung in der eben benannten Größenordnung.

Abg. Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.): Meine Frage geht an Herrn Stiefermann von der aba. In den schriftlichen Stellungnahmen des Sozialverbandes Deutschland, des VdK und auch des Deutschen Gewerkschaftsbundes ist eine kritische Sicht auf die Doppelverbeitragung zu lesen. Die Arbeitgeber, d. h. der BDA sagt in seiner Stellungnahme wörtlich: „Die im Antrag der Bundestagsfraktion DIE LINKE. erhobene Forderung, dass bei betrieblicher Altersvorsorge nur einmal Beiträge zur Kranken- und Pflegeversicherung erhoben werden dürfen, ist richtig“. So etwas lese ich bei den Arbeitgebern, was uns angeht, selten. Darüber habe ich mich sehr gefreut. In der Stellungnahme der aba heißt es, der Antrag, Betriebsrenten nicht gleichzeitig in der Finanzierungs- und in der Leistungsphase mit Beiträgen zur gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung zu belasten, ist zu unterstützen. Ich bitte Sie nochmal, das aus Ihrer Sicht zu begründen und danke dafür.

SV Klaus Stiefermann (aba Arbeitsgemeinschaft für betriebliche Altersversorgung e. V.): Zunächst ein kurzer Hinweis, weil immer gefragt wird, wie viele Betroffene es gibt. Ich gehe davon aus, dass es sich um mehrere hunderttausend Betroffene handelt
und zwar auf Grund eines Aspekts, der hier bislang
vernachlässigt worden ist. Wir haben eine Reihe von Versorgungswerken, die paritätisch aus Arbeitgeber- und Arbeitnehmerbeiträgen finanziert werden, wie zum Beispiel die Pensionskassen der Chemischen Industrie. Dort ist es üblich, dass der Arbeitnehmer aus seinem Netto einen bestimmten Prozentsatz einzahlt. Seit 2004 zahlt er im Alter noch einmal den vollen Beitrag. Das betrifft, wenn ich die drei großen Einrichtungen sehe, knapp 400.000 Rentner. Andere Fälle habe ich zunächst einmal außen vor gelassen. Bei den Arbeitnehmergruppen, die verstärkt in der betrieblichen Altersversorgung gewünscht werden, das sind die Bezieher niedriger Einkommen, für die die steuerliche Systematik kein Anreiz ist, in das System einzu- steigen, besteht die Attraktivität der Entgeltumwandlung darin, dass sie der doppelten Verbeitragung entgehen. Das aber kommt nicht zum Tragen. So hat der Gesetzgeber eigentlich auch vorgesehen, dass im Wege der betrieblichen Altersversorgung Betriebs-Riesterrenten durchgeführt werden. Diese gibt es nur in verschwindend geringer Form, weil sie in der Finanzierung wie eine private und im Alter wie eine betriebliche Altersversorgung beitragsbelastet ist. Der Gesetzgeber hat in das Gesetz geschrieben, dass es wünschenswert ist, dass ein Arbeitnehmer, der seinen Arbeitgeber verlässt, seine dort aufgebaute Altersversorgung privat fortführt. Das machen viele Arbeitnehmer deshalb nicht, weil sie diese aus ihrem Netto finanzieren und im Alter noch einmal Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge zahlen müssen. Kurzum, die beitragsrechtliche Situation, über die hier diskutiert wird, ist völlig losgelöst von der Frage, wie das verfassungsrechtlich zu behandeln ist. Sie ist schlicht ein Fehl- anreiz im Bereich der betrieblichen Altersversorgung. Sie führt dazu, dass Bezieher niedriger Einkommen sich nicht beteiligen. Die Situation ist für viele auch dadurch dramatischer geworden, dass sie seit 2004 den vollen Kranken- und Pflegeversicherungsbeitrag auf ihre betriebliche Altersversorgung zahlen müssen. Diese Regelung wurde ohne Vertrauensschutz und ohne Übergangsregelung eingeführt und hat zu einer großen Verunsicherung bei den Betroffenen geführt. Das zeigen auch die Statistiken zur Verbreitung der betrieblichen Altersversorgung. Die Regelung hat deutlich dämpfend ge- wirkt. Hier ist ein Auseinanderfallen zwischen dem Wunsch des Gesetzgebers, die betriebliche Altersversorgung bei Beziehern von Niedrigeinkommen
zu verbreiten und den Regelungen der Verbeitragung zu beobachten.

Abg. Maria Klein-Schmeink (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine letzte Frage richtet sich an den Sozialverband VdK Deutschland, Frau Verspohl. Was schlagen Sie zur Behebung der verschiedenen Unstimmigkeiten bei der Verbeitragung von Versorgungsbezügen vor? Wie beurteilen Sie in dieser Hinsicht die Bürgerversicherung?

SVe Dr. Ines Verspohl (Sozialverband VdK Deutschland e. V.): Die grundsätzliche von uns vorgeschlagene Lösung ist die Bürgerversicherung, da die Unsicherheiten und die Beitragsungerechtigkeiten weit über die Frage der Doppelverbeitragung hinausgehen. Es ist nicht nur eine Frage der Versor- gungsbezüge, sondern es geht auch um Pflicht- und freiwillig Versicherte und es geht um Frauen, die mit Beamten verheiratet sind und nicht in den Genuss der 9/10-Regelung kommen und dann noch Beiträge auf die Pension ihres Ehegatten zahlen.
Das lässt sich in sich kaum noch lösen. Deshalb wäre unser Vorschlag eine Bürgerversicherung, die alle Menschen, die in Deutschland leben, gemäß ihrer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einbezieht.

Abg. Heiko Schmelzle (CDU/CSU): Meine Frage richtet sich an den Einzelsachverständigen Prof. Dr. Wille. Wie beurteilen Sie die Forderung nach Einführung einer Bürgerversicherung aus gesundheitsökonomischer Sicht?

ESV Prof. Dr. Eberhard Wille: Wenn wir die Bundesrepublik jetzt gründen würden, wäre ich auch ein Befürworter der Bürgerversicherung, wobei man sich streiten könnte, ob man das mit einer erweiterten Bemessungsgrundlage oder mit einer solidarischen Gesundheitspauschale macht. Aber nachdem wir ein über viele Jahrzehnte gewachsenes zweigliedriges System haben, würde das die Abschaffung der privaten Krankenversicherung bedeuten. Herr Prof. Dr. Sodan hat schon auf die rechtliche Problematik hingewiesen. Der ökonomische Nachteil bestünde darin, dass wir einen erheblichen Kapitalstock, der heute unter intertemporalen Aspekten, d. h. im Hinblick auf die Generationengerechtigkeit von Vorteil ist, das gilt selbst unter der Voraussetzung, dass wir derzeit wegen niedriger Zinsen einen kaum anwachsenden Kapitalstock haben, auflösen würden. Selbst wenn man jetzt versuchen würde, die noch im System befindlichen Verträge auslaufen zu lassen, würde das bedeuten, dass man die PKV von den jungen Versicherten mit hohem Einkommen abkoppelt, sodass dadurch in der Alterung, in zehn bis 20 Jahren, extrem hohe Beiträge zu erwarten wären. Unter Umständen müsste der Staat diese Beiträge subventionieren, da er für diese Änderung ursächlich war. Theoretisch betrachtet wäre eine Bürgerversicherung wünschenswert, aber unter den in Deutschland gewachsenen Umständen, im Hinblick auf juristische und Umsetzungsprobleme, aber auch auf- grund intertemporaler Probleme, sehe ich das nicht so.

Der Vorsitzende: Dankeschön, Herr Prof. Dr. Wille. Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Sachverständige, ich darf mich herzlich bei Ihnen bedanken. Ich danke auch Ihnen, liebe Zuschauer für das Verständnis, dass man als Zuschauer eine andere Rolle hat als die hier anwesenden Parlamentarier. Das Thema Verbeitragung wird uns sicherlich noch weiter beschäftigen. Recht herzlichen Dank und einen schönen Nachtmittag.

Schluss der Sitzung: 15.05 Uhr
Dr. Edgar Franke, MdB
Vorsitzender

Quelle: Mail an die Redaktion