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Verfassungsbeschwerde: Staat verletzt Schutzpflicht der Pflegebedürftigen

Lissabon, 2013 Foto. H.S.

17.10.2014 - von Gerd Feller

Verfassungsbeschwerde, weil nichts geschieht! „Wegen Verletzung der Schutzpflicht des Deutschen Staates gegenüber pflegebedürftigen Menschen durch Untätigkeit und Billigung von Missständen in der stationären Pflege, durch
welche die im Deutschen Grundgesetzt garantierten Grundrechte der Pflegebedürftigen missachtet werden“, hat Armin Rieger aus Stadtbergen am 18.07.2014 eine Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe eingereicht. Nach seinem Verständnis der Lage in deutschen Pflegeheimen werden täglich irgendwo, in unserem Land 6 Artikel des Grundgesetzes verletzt.

Er selbst ist Mitgesellschafter und Geschäftsführer der Haus Marie GmbH, einem auf Gerontopsychiatrie spezialisierten Pflegeheim.

Aufgrund eigener langjähriger Erfahrungen weiß er, dass es „trotz aller Bemühungen und der Bereitschaft, mehr Personal zu beschäftigen als von den Kassen gefordert“, nicht möglich ist, „die Pflege zu gewährleisten, die alte und pflegebedürftige Menschen verdienen.“ Er stellt fest, dass die den Heimen zustehenden Mittel und der vorgegebene Personalschlüssel eine menschenwürdige Pflege nicht zulassen. Das Pflegepersonal arbeite in fast allen Heimen am Limit. Vor allem in Urlaubszeiten und bei Erkältungswellen stünden auch in seinem Heim für 33 Bewohner nur 2 Pflegekräfte zur Verfügung. Pflegeskandale seien deshalb vorprogrammiert.

Entgegen der Behauptung vieler in der Pflege tätiger Träger bestätigt Armin Rieger die Feststellung der Bremer Seniorenvertretung (vgl. „Durchblick“ 174, S.2/3), dass es sich bei den skandalösen Vorfällen keinesfalls nur um Einzelfälle handelt, sondern Menschenrechtsverletzungen beim Umgang mit pflegebedürftigen Menschen an der Tagesordnung seien. Das beginnt bereits bei kleinen Dingen, z.B. wenn für Hilfeleistungen bei Toilettengängen wegen Personalmangels keine Zeit mehr ist, und gipfelt in überflüssigen Medikationen mit Psychopharmaka zur Ruhigstellung oder in massiven Misshandlungen durch totale Überforderung. Armin Rieger weist allerdings darauf hin, dass vorsätzliche Gewalt tatsächlich eine Ausnahme darstelle. Ein menschenunwürdiges Prozedere sei auch, dass der MDK zur Genehmigung einer Pflegestufe die Versorgung der Menschen im Minutentakt messen würde.

Als Beweise für seine Aussagen schildert er nicht nur detailliert die eigenen Erlebnisse, sondern bezieht sich auch auf Literatur, die inzwischen zum Thema „Gewalt in der Pflege“ veröffentlicht ist, u.a. auf Claus Fussek und Gottlob Schober: „Im Netz der Pflegemafia“ (Bertelsmann, 2008) und „Es ist genug“ (TB Knauer, 2013); Markus Breitscheidel: „Abgezockt und totgepflegt“ (TB Ullstein, 2007); Andreas Rohrmaier, „Gewalt gegen pflegebedürftige Senioren“ (Masterarbeit, Deutsche Hochschule der Polizei, Münster) und eine Dissertation von Susanne Moritz: „Staatliche Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen
Menschen“ (Universität Regensburg, 2013). Alle Arbeiten nennen als Hauptursachen für Pflegemängel und Fehlverhalten der Pflegekräfte den Personalmangel und die Personaldefizite, Zeitdruck, psychische Belastungen (vor allem bei dementen Menschen), schwere physische Arbeit, geringe Bezahlung und die mangelnde Anerkennung durch Gesellschaft und Heimleitung.

Damit dem Leben pflegebedürftiger Menschen die im Art.1 des Grundgesetzes garantierte Würde wieder zurückgegeben wird, stellt Armin Rieger folgende Forderungen:
1.
Es ist dafür zu sorgen, dass der Mindestpersonalschlüssel so angehoben wird, dass jederzeit gewährleistet werden kann, dass pflegebedürftigen Menschen eine würdevolle Pflege geboten werden kann. Nur so wird einer ständigen Überlastung der Pfleger und Pflegerinnen vorgebeugt, welche teilweise dazu führt, dass Misshandlungen gewollt oder ungewollt im Alltag passieren.
2.
Für je 20 Bewohner muss eine Pflegekraft anwesend sein. Es müssen jedoch unabhängig von der Anzahl der Bewohner rund um die Uhr mindestens zwei Pflegekräfte anwesend sein. Bei dem jetzigen Personaleinsatz sind Verletzungen der Aufsichtspflicht unumgänglich.
Ebenso fordere ich eine sofortige Abschaffung der Pflegestufen in der jetzigen Form, welche eine menschenwürdige Pflege verhindern.

Demenziell veränderte Menschen brauchen unabhängig ihres körperlichen Zustandes mehr Pflege und somit mehr Einsatz von Pflegepersonal.
4.
Darüber hinaus muss eine Festanstellung von ausreichend Hauswirtschaftspersonal erfolgen. Diesbezüglich soll ein Nachweis ähnlich dem des Pflegepersonals geführt werden, um einen Missbrauch von Pflegepersonal als Putzkraft oder Hilfskoch zur Gewinnoptimierung zu verhindern.
Studien belegen, dass gerade demenziell veränderte Menschen immer von den gleichen Personen gepflegt werden. Beim Saubermachen der Zimmer betreten fremde Menschen den Wohn und Intimbereich der Bewohner. Es kann daher nicht angehen, dass ständig wechselnde Personen von billigen Fremdfirmen, welche teilweise nicht einmal der deutschen Sprache mächtig sind, in den Privatbereich der pflegebedürftigen Menschen eindringen.
5.
Die Heimbewohner haben ein Recht auf frisch zubereitetes Essen. Es muss zudem gewährleistet werden, dass beim Essen jederzeit ein Nachschlag möglich ist. Deshalb ist das Essen den Bewohnern in einer Art Schöpfsystem zu verabreichen.
6.
Jeder Bewohner hat das Recht, bei entsprechender Witterung, den Garten zu benutzen. Bei jedem Strafgefangenen ist das ein verpflichtendes Recht. Dieses Recht muss auch jedem alten pflegebedürftigen Menschen zugestanden werden. Heime, welche dies nicht gewährleisten können, ist die Aufnahme immobiler und auch demenziell veränderter Menschen zu untersagen.
7.
Demenziell veränderte Menschen dürfen nur in einem speziell für diesen Personenkreis geeigneten Heim untergebracht werden.
8.
Bei Menschen mit Demenz ist die Medikation gesondert zu überprüfen, um Missbrauch zur Erleichterung der Pflege zu verhindern. Ein Ruhigstellen mit Medikamenten, damit der betroffene Personenkreis das Heim nicht verlassen kann, stellt eine strafbewährte Freiheitsberaubung und Körperverletzung dar.
9.
Es muss eine strikte Trennung zwischen geistig fitten Menschen und geistig verwirrten Menschen erfolgen. (KEINE INKLUSION IM ALTER?)
10.
Der Einsatz einer unabhängigen Prüfstelle muss gewährleistet werden. Es muss eine Prüfinstanz ins Leben gerufen werden, die die tatsächlichen Gegebenheiten in den Heimen prüft, und unabhängig von Lobbyismus Mängel und Versäumnisse – sowohl der Heime und deren Träger, als auch der Kassen und der Politik – aufzeigt.
11.
Bei der Selbstverwaltung müssen die Rahmenbedingung so verändert werden, dass zunächst einmal die gute Pflege im Vordergrund steht. Diese Vorgaben müssen so eng gesteckt werden, dass Investoren nur noch mit guter Pflege Geld verdienen. Derzeit werden die Träger aber nur mit schlechter Pflege finanziell belohnt.

(Quelle: Rieger, Armin, Verfassungsbeschwerde
2014, S.18/20)

Zusammenfassend stellt Rieger fest, dass es kein Heim ohne Mängel gibt, dass aufgrund der nicht ausreichenden Personaldecke in allen Heimen Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung sind und dass für gute Pflege viel zu wenig getan wird. Der deutsche Staat schaut diesem Treiben tatenlos zu und kommt seiner Schutzpflicht gegenüber alten pflegebedürftigen Bewohnern nicht nach. Deshalb muss er verpflichtet werden, die pflegebedürftigen Menschen zu schützen.

Dies ist nicht die einzige Verfassungsbeschwerde wegen der Untätigkeit des Staates bezüglich der Verletzungen von Schutzpflichten gegenüber pflegebedürftigen Menschen. Auch im März 2014 hat ein Münchner Rechtsanwalt eine solche Beschwerde eingereicht und wurde dabei unterstützt von Ruth Wicke aus Delmenhorst, die sich viele Jahre um ihre Mutter gekümmert hat und dabei bestürzende Pflegeverstöße erleben musste. Darüber berichtet der „Durchblick“ im nachfolgenden Beitrag.

Es wird dringend Zeit, dass sich auch die Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesseniorenvertretungen BAK LSV), von der man lange nichts mehr gehört hat, sowie die regionalen Seniorenvertretungen/-beiräte dieses Themas annehmen und die Forderungen zum Schutz pflegebedürftiger Menschen unterstützen. Von der deutschen Politik wird oft international großmundig die Wahrung der Menschenrechte angemahnt, aber die Umsetzung im eigenen Land, was die hilfsbedürftigen Menschen angeht, wird oft grob vernachlässigt, vor allem dann, wenn es ums Geld geht.
Gerd Feller

Link: Schlechte Pflege nur ein Einzelfall?
Quelle: Durchblick 177, 2014