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Jena: Tagung - Nachbarschaftsarbeit in einer vielfaeltigen Gesellschaft

26.03.2025

Call for Papers
Nachbarschaftsarbeit in einer vielfältigen Gesellschaft
Tagung an der Ernst-Abbe-Hochschule Jena
am 26. und 27. März 2025

Die Tagung widmet sich dem Verhältnis von Nachbarschaftsarbeit und einer vielfältigen Ge-
sellschaft. Im Fokus der vielfältigen Gesellschaft steht das Konzept der Diversität. Die öffentliche Diskussion adressiert die Dimensionen der Diversität gender, race, class, religion, sexual orientation und dis/ability (Bührmann 2023: 35). Die sozialwissenschaftliche Diversitätsforschung untersucht die Problematisierung dieser Differenzierungen, ihr intersektionales Zusammenwirken und ihre Folgen (Bührmann 2023: 35 f.). Differenzen lassen sich als Effekte sozialer Unterscheidungspraxen verstehen, die innerhalb der jeweiligen gesellschaftlichen und historischen Verhältnisse bestimmte Funktionen erfüllen (Mecheril/Melter 2010: 128). Da die Herstellung von Differenz durch die Wiederholung sozialer Normen und durch Ausschlüsse gekennzeichnet ist, muss die performative Erzeugung von Differenz als machtvoller Prozess verstanden werden (Plößer 2010: 222), um nicht einfach die rigiden und ausschließenden Differenzordnungen zu bestätigen und zu reproduzieren (Plößer 2010: 230 f.).

Das Konzept der Diversität impliziert die Kritik an der „Dominanzkultur“ (Rommeslpacher 1995; Attia/Köbsell/Prasad 2015) und an machtvollen und hierarchischen Differenzordnungen (Mecheril/Kourabas 2025) und stellt die Prozesse der Vereinseitigung, der Hierarchisierung, der Standardisierung und der Marginalisierung infrage und greift sie an (Auma 2017: 43). Postkoloniale Theorie (Castro Varela 2010), Ansätze der Disability Studies (Jacob/Köbsell/Wollrad (2010), queer/feministische Perspektiven (Perko/Czollek 2024), klassismuskritische Zugänge (Pohlkamp/Nagel/Carstens 2023) oder Konzepte kritischer Migrations- und Grenzregimeforschung (Hess/Kaparek 2010) stellen einen analytischen Werkzeugkasten zur Erforschung der Diversität dar. Um den kritischen und emanzipatorischen Gehalt der Analyseperspektive nicht zu verlieren, schließt der Begriff der Diversität die Begriffe Gleichheit, Chancengleichheit und soziale Gerechtigkeit mit ein (Ahmed 2012; Leiprecht/Haeger 2013). Die Vielfaltsgestaltung stellt neben der Antidiskriminierungsarbeit und dem Abbau Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
einen wichtigen Bestandteil der Demokratieförderung dar (Sowa/Sträter/Imamo?lu 2024).

Die Nachbarschaftsforschung beschäftigt sich seit ihren Anfängen mit sozialen Differenzierungen, die zu Segregation von Bevölkerungsgruppen entlang verschiedener Dimensionen wie Altersstruktur, ethnischer Zugehörigkeit, Einkommen, Bildung und Erwerbslosigkeit führen können (Häußermann, Siebel 2004: 144), (Althaus 2018: 52). Der Nachbarschaftsbegriff umfasst sowohl die räumliche Struktur als auch soziale Beziehungen und Vernetzungen von Menschen (Althaus 2018: 69). Die Nachbarschaft stellt einen begehbaren Bereich mit Lebensgeschichten dar (Odzakovic et al. 2018: 28). Sie impliziert Solidarität genauso wie Gewalt und Ausgrenzung (Amadeu Antonio Stiftung/PRO ASYL e.V. 2016). Fremdenfeindliche Klimas werden unter anderem durch Proteste der Nachbarschaft verstärkt, wenn es um die Eröffnung von Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete geht (Lechner/Huber 2017: 105). Der Nachbarschaft wird eine besondere Rolle bei der Herausbildung des Gefühls des Dazugehörens und der gesellschaftlichen Integration sowie bei der Entwicklung der Vertrautheit mit dem lokalen/neuen Umfeld zugeschrieben (Reuber 1993: 116; Riegel/Geisen 2010). In der Stadtentwicklung entlarvt sich Nachbarschaft allerdings auch manchmal als ein „sentimentales Konzept“ (Jacobs 2011/1961: 146), mit dem sich die Imagination der Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens einschleicht.

Nachbarschaftsarbeit, Nachbarschaftstreffs, Nachbarschaftshäuser und Nachbarschaftshilfe
sind Forschungsthemen der Sozialarbeitswissenschaft (u.a. Reutlinger/Stiehler/Lingg 2015;
Oehler/Drilling/Guhl 2016; Stövesand 2018; Halatcheva-Trapp/Poferl 2023). Der Verband für
sozial-kulturelle Arbeit e.V. (2018) definiert Nachbarschaftsarbeit als „gemeinwesenorien-
tierte, zielgruppen- und bereichsübergreifende [S]oziale Arbeit. Nachbarschaftsarbeit trägt dazu bei, Lebensbedingungen so zu gestalten, dass Menschen entsprechend ihrer Bedürfnisse in ihrer Nachbarschaft zufrieden(er) leben können“. Die Stärkung der Vielfalt steht im Zusammenhang mit der Stärkung von Demokratie und Toleranz als eine der vier Säulen der Nachbarschaftsarbeit (Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. 2018). Ein Wirkungsbereich der Nachbarschaftsarbeit in einer vielfältigen Gesellschaft umfasst eine „intersektionale Erinnerungsarbeit“ (Piesche 2020). Nachbarschaftsarbeit lässt sich als eine politische Praxis verstehen, mit der eine vielfältige Gesellschaft gefördert, aufrechterhalten und verteidigt werden kann. Politische Praxis greift auf „Methoden struktureller Veränderungen“ (Prasad 2023) zurück und zielt auf die Förderung sozialer Gerechtigkeit und den Abbau sozialer Ungleichheit ab.

Auf der Tagung soll es sowohl um Anwendungsbeispiele und Erfahrungsaustausch als auch um
Systematisierung, Einordnung und Reflexion gehen. Die Tagung widmet sich unter anderem
folgenden Fragen:

• Was kennzeichnet Nachbarschaftsarbeit in einer vielfältigen Gesellschaft?
• Auf welche intersektionalen Wechselwirkungen werden welche nachbarschaftlichen In-
terventionen durchgeführt?
• Wie wird mit Gewalt, Hass und autoritären Bewegungen im Kontext der Nachbar-
schaftsarbeit umgegangen?
• Wie sieht intersektionale Erinnerungsarbeit in der Nachbarschaft aus?
• Wie wird Zugehörigkeit in und durch Nachbarschaft konstruiert? Welche Zugehörig-
keitsregime werden auf welche Art und Weise in der Nachbarschaftsarbeit problematisiert?
• Vor welchen Herausforderungen steht die Nachbarschaftsarbeit in einer vielfältigen Gesellschaft?
• Welche Kompetenzen benötigen die Fachkräfte im Kontext der Nachbarschaftsarbeit in
einer vielfältigen Gesellschaft? Welche Voraussetzungen braucht die Lehre, um die pro-
fessionelle Handlungsfähigkeit und Selbstreflexion bei den zukünftigen Fachkräften
auszubilden?
• Wie gestalten die sozialen Organisationen die Nachbarschaftsarbeit in einer vielfältigen
Gesellschaft?
• Welchen Beitrag leistet die Nachbarschaftsarbeit zur Stärkung von Vielfalt, Demokratie
und Toleranz? Welche Rolle spielt in diesem Kontext die Digitalisierung?
• Welche nachbarschaftlichen Initiativen werden ins Leben gerufen, um machtvollen und
hierarchischen Differenzordnungen entgegenzuwirken? Welche Rolle spielt dabei das
zivilgesellschaftliche Engagement?

Tagungsform und Tagungsablauf
Die Tagung ist als Präsenzveranstaltung geplant, kann aber je nach Situation auch online stattfinden. Die Tagung beginnt am Mittwoch, dem 26. März 2025, und endet am Donnerstag, dem 27. März 2025.

Einreichung von Abstracts
Einreichungen von Abstracts sind für 20-minütige Vorträge und Diskussionsbeiträge sowie für Panels und andere Diskussionsformen zu der im Call umrissenen Thematik möglich. Über das Format von Einzelbeiträgen hinaus sind andere Formate erwünscht: Workshops, Berichte aus der Praxis von Nichtregierungsorganisationen und sozialen Einrichtungen, Buchvorstellungen, künstlerische Beiträge, dialogische Formate und Beiträge studentischer Projekte.
Für Beiträge zur Tagung reichen Sie bitte einen Abstract (max. 3000 Zeichen mit Leerzeichen) ein. Vorschläge von Nachwuchswissenschaftler*innen sind besonders willkommen.

Bitte senden Sie Ihren Abstract per E-Mail bis zum 10. November 2024 an anna.kasten@eah-
jena.de. Bis Anfang Dezember 2024 werden Sie über die Annahme der Beiträge informiert.
Kontakt

Prof. Dr. Anna Kasten
Ernst-Abbe-Hochschule Jena
E-Mail: anna.kasten@eah-jena.de
Literatur
Ahmed, Sara (2012): On being included. Racism and diversity in institutional life. Durham: Duke University Press.
Althaus, Eveline (2018): Sozialraum Hochhaus. Nachbarschaft und Wohnalltag in Schweizer Großwohnbauten. Bielefeld: transcript Verlag.
Amadeu Antonio Stiftung/PRO ASYL e.V. (2016): Neue Nachbarn: Vom Willkommen zum Ankommen. Link (Abfrage:07.04.2024).
Attia, Iman/Köbsell, Swantje/Prasad, Nivedita (Hg.) (2015): Dominanzkulur reloaded. Neue Texte zu gesellschaftlichen Machtverhältnissen und ihren Wechselwirkungen. Bielefeld: transcript Verlag.
Auma, Maureen-Maisha (2017): »Diversität als neues Möglichkeitsfeld. Diversität als Motor einer Neustrukturierung im Verhältnis der (feministsichen) Mädchenarbeit zur (kritischen) Jungenarbeit«. In:Bütow, Birgit/Munsch, Chantal (Hg.): Soziale Arbeit und Geschlecht. Herausforderungen jenseits von Universalisierung und Essentialisierung. Münster: Westfälisches Dampfboot, S. 229–245.
Bührmann, Andrea D. (2023): Kritische Ontologie der Diversität: Skizze des Forschungsprogramms der reflexiven Diversitätsforschung. In: Funder, Maria/Grulich, Julia/Hossain, Nina (Hg.): Diversitäts- und Organisationsforschung. Handbuch für Wissenschaft und Praxis. Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft, S.35–54.
Castro Varela, Maria do Mar (2010): »Un-Sinn: Postkoloniale Theorie und Diversity«. InKessl, Fabian/Plößer, Melanie (Hg.): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, S. 249–262.
Der Verband für sozial-kulturelle Arbeit e.V. (2018): Nachbarschaftsarbeit. Link (Abfrage 29.08.2024).
Halatcheva-Trapp, Maya/Poferl, Angelika (2023): Jane Addams (1860–1935). Engagierte So-zialforscherin der ersten Stunde und politisch aktive Reformerin. In: Soziopolis: Gesellschaft beobachten.
Link (Abfrage: 20.05.2024).
Häußermann, Hartmut/Siebel, Walter (2004): Stadtsoziologie: Eine Einführung. Frankfurt/New York: Campus Verlag.
Hess, Sabine/Kaparek, Bernd (Hg.) (2010): Grenzregime: Diskurse, Praktiken, Institutionen in Europa. Berlin/Hamburg: Assoziation A.
Jacob, Jutta/Köbsell, Swantje/Wollrad, Eske (2010): Gendering Disability. Intersektionale Aspekte von Behinderung und Geschlecht, Bielefeld: transcript Verlag.
Jacobs, Jane (2011/1961): The Death and Life of Great American Cities. New York: Modern Library Edition.
Lechner, Claudia/Huber, Anna (2017): Ankommen nach der Flucht. Die Sicht begleiteter und unbegleiteter junger Geflüchteter auf ihre Lebenslagen in Deutschland. München: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Leiprecht, Rudolph/Haeger, Kaja (2013): »Diversitätsbewusste Ansätze in der Sozialen Arbeit: Zentrale theoriebezogene Konzepte am Beispiel einer Intersektionalitätsanalyse in der Verbindung von Heteronormativität, Männlichkeiten und ethnisch-kulturellen Zuschreibungen«. In: Sabla, Kim-Patrick/Plößer, Melanie (Hg.): Gendertheorien und Theorien Sozialer Arbeit. Bezüge, Lücken und Herausforderungen.
Opladen/Berlin/Toronto: Budrich Verlag, S. 99–116.
Mecheril, Paul/Kourabas, Veronika (2015): Von differenzaffirmativer zu diversitätsreflexiver Sozialer Arbeit. In: Sozialmagazin (9-10), S. 22–29.
Mecheril, Paul/Melter, Claus (2010): »Differenz und Soziale Arbeit. Historische Schlaglichter und systematische Zusammenhänge«. In: Kessl, Fabian/Plößer, Melanie (Hg.): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, S.117–134.
Munsch, Chantal (2010): »Diversity«. In: Bock, Karin/Miethe, Ingrid (Hg.): Handbuch qualitative Methoden in der sozialen Arbeit. Opladen/Farmington Hills: Budrich, S. 152–162.
Odzakovic, Elzana/Hellström, Ingrid/Ward, Richard/Kullberg, Agneta (2018): Overjoyed that I can go outside: Using walking interviews to learn about the lived experience and meaning of eighbourhood for people living with dementia. In: Dementia, S. 1–38. Oehler, Patrick/ Drilling, Matthias/Guhl, Jutta (2016): Nachbarschaft – Reformulierung eines Konzeptes
von Sozialer Arbeit im Kontext der unternehmerischen Stadt. In: dies. (Hg.): Soziale Arbeit in der unternehmerischen Stadt. Quartiersforschung. Springer VS, Wiesbaden, S. 23–40. Link
Perko, Gudrun/Czollek, Leah Carola (2024): »Das Konzept des Verbündet-Seins und Bündnisse als Handlungs- und Veränderungsstrategien in queer-/feministischen Kontexten«. In: Mertlitsch Kirstin/Hipfl, Brigitte/Kumpusch, Verena/Roeseling, Pauline (Hg.): Intersektionale Solidaritäten, Leverkusen: Budrich, S. 67–82. Link
Piesche, Peggy (Hrsg.) (2020): Labor 89. Intersektionale Bewegungsgeschichte*n aus West und Ost, Berlin: Y?lmaz-Günay.
Plößer, Melanie (2010): »Differenz performativ gedacht. Dekonstruktive Perspektiven auf und für denUmgang mit Differenzen«. In: Kessl, Fabian/Plößer, Melanie (Hg.): Differenzierung, Normalisierung, Andersheit. Soziale Arbeit als Arbeit mit den Anderen. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwissenschaften, S. 218–232.
Pohlkamp, Ines/Nagel, Björn/ Carstens, Lea (Hg.) (2023): Klassismus und politische Bildung. Intersektionale Perspektiven und Reflexionen aus der Praxis, Frankfurt am Main: Wochenschau Verlag. Link
Prasad, Nivedita (2023): »Methoden struktureller Veränderungen (in der Sozialen Arbeit)«. In die.: (Hg.): Methoden struktureller Veränderungen in der Sozialen Arbeit. Opladen/Toronto: Verlag Barbara Budrich, S. 7–32.
Reuber, Paul (1993): Heimat in der Großstadt: eine sozialgeographische Studie zu Raumbezug und Entstehung von Ortsbindung am Beispiel Kölns und seiner Stadtviertel. Köln: Kölner geographische Arbeiten.
Reutlinger, Christian/Stiehler, Steve/Lingg, Eva (Hg.) (2015): Soziale Nachbarschaften: Geschichte,Grundlagen, Perspektiven (Sozialraumforschung und Sozialraumarbeit, Band 10, Wiesbaden: Springer SV.
Riegel, Christine/Geisen, Thomas (2010): Jugend, Zugehörigkeit und Migration. Subjektpositionierung im Kontext von Jugendkultur, Ethnizitäts- und Geschlechterkonstruktionen. Wiesbaden: VS Verlag für
Sozialwissenschaften/GWV Fachverlage GmbH.
Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur. Texte zu Fremdheit und Macht. Berlin: Orlanda Frauenverlag.
Sowa, Christian; Sträter, Till; Imamo?lu, Hümeyranur (2024): Die vielfältige Gesellschaft gestalten:
Bedarfe und Empfehlungen für mehr Diversität und den Abbau von Diskriminierung in staatlichen Institutionen, Regelstrukturen und in der Zivilgesellschaft. DeZIM Project Report 9, Berlin: Deutsches Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM). Link
onen/publikation-detail/die-vielfaeltige-gesellschaft-gestalten/ (Abfrage: 27.08.2024).
Stövesand, Sabine (2018): Gewalt gegen Frauen und Gemeinwesenarbeit: „StoP“ – das Nachbarschaftskonzept. In: Lenz, Gaby/Weiss, Anne (Hg.): Professionalität in der Frauenhausarbeit. Edition Professions- und Professionalisierungsforschung, vol 7. Wiesbaden: Springer VS, S. 205–237.
Link


26.-27. Maerz 2025, Jena, Deutschland
Tagung "Nachbarschaftsarbeit in einer vielfaeltigen Gesellschaft"
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