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Alter in bester Verfassung? Lebensalter in die Verfassung!

10.12.2012 - von Dr. B. Schulte

Rechtswissenschaftliche Expertise zur Begründung einer Verankerung des Merkmals Lebensalter in der Verfassung des Landes Berlin
– Kommentar aus Sicht des Europäischen Jahrs des aktiven Alterns und der Generationensolidarität –

Gliederung
1. Das „Europäische Jahr des aktiven Alterns und der Solidarität zwischen den Generationen“ 2012
2. Altersdiskriminierung im Europäischen Unionsrecht
2.1. Europäisches Primärrecht
2.1.1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union: – Artikel 21 Nichtdiskriminierung –
2.1.2. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union: Art. 10 Bekämpfung von Diskriminierungen und Art. 19 Antidiskriminierungsmaßnahmen
2.2. Europäisches Sekundärrecht: Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf
2.3. Die aktuelle Diskussion
3. „Verankerung des Diskriminierungsmerkmals Lebensalter in der Verfassung von Berlin“: – Expertise im Auftrag der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung –
4. Ausblick: Ein Rechtsinstrument in Sachen Altersdiskriminierung
5. Schlusswort

1.
Das „Europäische Jahr des aktiven Alterns und der Soli-darität zwischen den Generationen“ 2012

2012 ist das „Europäische Jahr des aktiven Alterns und der Solidarität zwischen den Generationen“. Die Europäische Kommission hat die Ausrufung dieses Ak tionsjahrs wie folgt begründet:1 „Es ist höchste Zeit uns mehr Gedanken über die Überalterung unserer Bevölkerung zu machen. Da die Baby-Boomer-Jahrgänge beginnen, in den Ruhestand zu gehen, müssen wir anfangen, unsere Gesellschaft umzugestalten, indem auf dem Arbeitsmarkt und in der Gemeinschaft mehr Möglichkeiten für ältere Menschen geschaffen werden. Nur so können sie sich in die Gesellschaft einbringen und aktiv und eigenständig bleiben. Dies wiederum wird die Solidarität zwischen den Generationen stärken.“

Einer der Vorschläge der Kommission geht dahin, Hindernisse für aktives Altern zu beseitigen und es älteren Menschen zu ermöglichen, länger erwerbstätig zu bleiben, eine aktive Rolle in der Gesellschaft zu spielen, und ein gesundes und erfüllendes Leben zu führen. Die Herausforderung für Politiker und Akteure – so die Europäische Kommission – bestehe darin, dies in so unterschiedlichen Bereichen wie Beschäftigungspolitik, Gesundheitswesen, sozialen Dienstleistungen, Erwachsenenbildung, ehrenamtlichen Tätigkeiten, Wohnungswesen, IT und Verkehr zu verwirklichen.

Denn „Altern ist kein Problem, wenn die Gesundheit mitmacht, der Arbeitsmarkt mehr Möglichkeiten für längere Berufstätigkeit schafft, die Gesellschaft mehr Gelegenheiten bietet, aktiv zu bleiben, und wenn das allgemeine Umfeld die Unabhängigkeit der Menschen so lange wie möglich gewährleistet. Darum geht es beim aktiven Altern.“2

Aus juristischer Sicht muss es in diesem Zusammenhang u. a. darum gehen, bestehende Formen der Altersdiskriminierung zu bekämpfen. Hierzu hat das Recht der Europäischen Union in den letzten Jahren rechtliche Instrumente bereitgestellt, die auch geeignet sind, der Forderung nach der rechtlichen

1 Europäische Kommission, Thema spezial: ein europäisches Aktionsjahr. 2012 ist das Europäische Jahr des aktiven Alterns und der Solidarität zwischen den Generationen, in: Sozial Agenda Nr. 29, April 2012, S. 14
2 Vgl. Europäische Kommission, Europäisches Jahr. Müssen wir wegen der alternden Bevöl-kerung besorgt sein? in: Sozial Agenda Nr. 28, Februar 2012, S. 24


Veran-kerung des Verbots der Diskriminierung wegen des Alters im nationalen Recht Nachdruck zu verleihen.

2.
Altersdiskriminierung im Europäischen Unionsrecht
2.1. Europäisches Primärrecht
2.1.1. Charta der Grundrechte der Europäischen Union: – Artikel 21 Nichtdiskriminierung –


Nach Art. 21 Abs. 1 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (Eu-ropäischen Grundrechtecharta – EuGRCh)3 sind Diskriminierungen „insbesondere wegen des Geschlechts, der Rasse, der Hautfarbe, der ethnischen oder sozialen Herkunft, der genetischen Merkmale, der Sprache, der Religion oder der Weltanschauung, der politischen oder sonstigen Anschauung, der Zugehörigkeit zu einer nationalen Minderheit, des Vermögens, der Geburt, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung“ verboten. Die Europäische Grundrechtecharta, die am 1. Dezember 2009 zusammen mit dem Vertrag von Lissabon – der den Vertrag über die Europäische Union (EU-Vertrag) und den Vertrag über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft (EG-Vertrag) geändert und Letzteren in Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEU-Vertrag) umbenannt hat – in Kraft getreten ist, hat denselben Rang von Europäischem Primärrecht wie diese beiden Gründungsverträge. Zu den dort verbrieften Grundrechten gehört auch Art. 25 EuGRCh (Rechte älterer Menschen): „Die Union anerkennt und achtet das Recht älterer Menschen auf ein würdiges und unabhängiges Leben und auf Teilnahme am sozialen und kulturellen Leben“. Diese nicht als soziales Grundrecht i. S. des Titels IV. Solidarität der Charta, sondern aufgrund ihrer Einordnung in Titel III. Gleichheit als Gleichheitsgrundrecht konzipierte Vorschrift4 kann auch zur Konkretisierung der tatbestandlichen Voraussetzungen des

3 ABl. EU Nr. C 303 S. 1 v. 14.12.2007
ABl. 2004 Nr. L 373 v. 21. Dezember 2004 S. 37 („Gender-Richtlinie Zivilrecht“)
4 Vgl. in diesem Sinne etwa Thorsten Kingreen, in: Calliess/Ruffert (Hrsg.), EUV/AEUV, Art. 25 GRCh Rn. 1, 4. Aufl., 2011


Vorliegens einer Altersdiskriminierung i. S. d. Art. 21 Abs. 1 EuGRCh herangezogen werden. Gemäß Art. 51 Abs. 1 S. 1 EuGRCh gelten die „Grundrechte“ der Charta – auch wenn es sich wie im Falle des Art. 25 um einen Grundsatz handelt – für die Organe, Einrichtungen und sonstigen Stellen der Europäischen Union sowie auch (aber auch nur dann) für die Mitgliedstaaten, soweit sie Unionsrecht durchführen.

2.1.2. Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union: Art. 10 Bekämpfung von Diskriminierungen und Art. 19 Antidiskriminierungsmaßnahmen
Im Hinblick auf die erfassten Diskriminierungsmerkmale, deren Auflistung in Art. 21 EuGRCh im Übrigen ausweislich des Wortes „insbesondere“ nicht abschließend ist, bleibt der entsprechende Kriterienkatalog des Art. 19 AEUV (Antidiskriminierungsmaßnahmen) insoweit hinter dem Katalog des Art. 21 EuGRCh zurück, als Art. 19 Abs. 1 AEUV den Rat lediglich ermächtigt, mit Zustimmung des Europäischen Parlaments geeignete Vorkehrungen zu treffen, um Diskriminierungen „aus Gründen des Geschlechts, der Rasse, der ethnischen Herkunft, der Religion oder der Weltanschauung, einer Behinderung, des Alters oder der sexuellen Ausrichtung zu bekämpfen.“ 5

Damit konkretisiert Art. 21 AEUV die Vorschrift des Art. 10 AEUV (Bekämpfung von Diskriminie-rungen), der zufolge die Union bei der Festlegung und Durchführung ihrer Poli-tik und ihrer Maßnahmen darauf abzielt, Diskriminierungen aus den auch in Art. 19 AEUV genannten Gründen zu bekämpfen, indem sie u. a. zu entsprechenden Rechtsetzungsmaßnahmen ermächtigt.
5 Art. 19 AEUV: „(1) Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um […].“
6

2.2. Europäisches Sekundärrecht: Richtlinie 2000/78/EG zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens für die Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf
Auf der Grundlage der Art. 13 und Art. 141 EGV – heute des vorstehend erwähnten Art. 19 AEUV (Antidiskriminierungsmaßnahmen) und Art. 157 AEUV (Gleichbehandlung von Männern und Frauen) – hat der Rat der Europäischen Union in den Jahren 2000 – 2004 vier Gleichbehandlungsrichtlinien6 erlassen, die ins nationale Recht der Mitgliedstaaten umzusetzen waren. Die Umsetzungsfristen beliefen sich jeweils auf drei Jahre, allerdings mit einer bezeichnenden, weil der besonderen Schwierigkeit der Umsetzung dieser Diskriminierungskriterien Rechnung tragenden Ausnahme für die Merkmale Behinderung und Alter, in Bezug auf Art. 18 der RL 2000/78/EG den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumte, eine weitere Umsetzungsfrist von noch einmal drei Jahren in Anspruch zu nehmen. Von dieser Gelegenheit hat der deutsche Gesetzgeber bekanntlich Gebrauch gemacht, so dass das diese EG-Richtlinien umsetzende Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) erst 2006 in Kraft getreten ist.7

Auch in der Judikatur des Europäischen Gerichtshofs seit 2005, beginnend mit „Mangold“, spiegelt sich die zunehmende Bedeutung des Alters als Diskriminierungstatbestand8 vor nicht zuletzt deutschen Arbeits- und Sozialgerichten wider.9
Vgl. Richtlinie (RL) 2000/43/EG des Rates vom 29. Juli 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. EG 2000 Nr. L 180 v. 19.7.2000 S. 22 („Antirassismusrichtlinie“); RL 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 Nr. L 303/16 v. 21.12.2000 S. 37 („Rahmenrichtlinie“); RL 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der RL 66/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg, sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 EG Nr. L 269/15 v. 5. Oktober 2002 S. 15 („Revidierte Genderrichtlinie Beschäftigung und Beruf“); sowie RL 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 Nr. L 373 v. 21. Dezember 2004 S. 37 („Genderrichtlinie Zivilrecht“)


5 Art. 19 AEUV: „(1) Unbeschadet der sonstigen Bestimmungen der Verträge kann der Rat im Rahmen der durch die Verträge auf die Union übertragenen Zuständigkeiten gemäß einem besonderen Gesetzgebungsverfahren und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments einstimmig geeignete Vorkehrungen treffen, um […].“
6 Vgl. Richtlinie (RL) 2000/43/EG des Rates vom 29. Juli 2000 zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft, ABl. EG 2000 Nr. L 180 v. 19.7.2000 S. 22 („Antirassismusrichtlinie“); RL 2000/78/EG des Rates vom 27. November 2000 zur Festlegung eines allgemeinen Rahmens zur Verwirklichung der Gleichbehandlung in Beschäftigung und Beruf, ABl. 2000 Nr. L 303/16 v. 21.12.2000 S. 37 („Rahmenrichtlinie“); RL 2002/73/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 23. September 2002 zur Änderung der RL 66/207/EWG des Rates zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen hinsichtlich des Zugangs zur Beschäftigung, zur Berufsbildung und zum beruflichen Aufstieg, sowie in Bezug auf die Arbeitsbedingungen, ABl. 2002 EG Nr. L 269/15 v. 5. Oktober 2002 S. 15 („Revidierte Gender-richtlinie Beschäftigung und Beruf“); sowie RL 2004/113/EG des Rates vom 13. Dezember 2004 zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung von Männern und Frauen beim Zugang zu und bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen, ABl. 2004 Nr. L 373 v. 21. Dezember 2004 S. 37 („Genderrichtlinie Zivilrecht“)
7 Vgl. Art. 1 des Gesetzes zur Umsetzung europäischer Richtlinien zur Verwirklichung des Grundsatzes der Gleichbehandlung, BGBl. 2006 I S. 1897
8 Vgl. dazu aus dem Schrifttum etwa Karl-Jürgen Bieback, Beziehen sich die Diskriminierungsverbote der Rahmenrichtlinie 2000/78/EG auch auf das deutsche Sozialrecht? in: Zeit-schrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR) 2006, S. 143 ff; ders., Altersdis-kriminierung – Grundsätzliche Strukturen und sozialrechtliche Probleme, in: Zeitschrift für Sozialreform (ZSR) 2006, S. 75 ff.; Eberhard Eichenhofer, Umsetzung europäischer Antidis-kriminierungsrichtlinien in deutsches Sozialrecht, in: Neue Zeitschrift für Sozialrecht (NZA) 2004, Sonderbeilage 22, S. 26. ff.; Manfred Husmann, Das Allgemeine Gleichbehandlungs-gesetz (AGG) und seine Auswirkungen auf das Sozialrecht, in: ZESAR 2007, S. 13 ff. u. 58 ff.; Dagmar Oppermann, Sozialschutz im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, in: ZESAR 2006, S. 432 ff.; Ulrich Preis, Schlangenlinien in der Rechtsprechung des EuGH zur Altersdiskriminierung, in: Neue Zeitschrift für Arbeitsrecht (NZA) 2010, S. 1323 ff., 1323; Fe-lipe Temming, Freie Rechtsschöpfung oder nicht: Der Streit um die EuGH-Entscheidung Mangold spitzt sich zu, in: Neue Juristische Wochenschrift (NJW) 2008, S. 3404 ff.; Raimund Waltermann, Altersdiskriminierung, in: Zeitschrift für Arbeitsrecht (ZfA) 2006, S. 305 ff.; Felix Welti, Das AGG: Behinderungsbegriff und praktische Konsequenzen für das Sozialrecht, in: SOZIALRECHTaktuell 2000, S. 161 ff.; ders., Europäische Gleichbehandlungsrichtlinien und deutsches Sozial- und Schwerbehindertenrecht, in: Behindertenrecht (br) 2007, S. 57 ff.; ders., Schutz vor Benachteiligung im deutschen Sozialrecht nach den europäischen Gleichbehandlungsrichtlinien und ihrer Umsetzung, in: Vierteljahresschrift für Sozialrecht (VSSR) 2008, S. 55 ff.; ders., Allokation, Rationierung, Priorisierung: Rechtliche Grundlagen, in: Me-dizinRecht (MedR) 2010, S. 379 ff., 383
9 Vgl. EuGH, Rs. C-144/04 (Mangold), Slg. (= Sammlung der Rechtsprechung des Europäi-schen Gerichtshofs) 2005, I-9981; Rs. C-411/05 (Palacios de la Villa), Slg. 2007, I-2019; Rs. C-427/06 (Bartsch), Slg. 2008, I-7245; Rs. C-388/07 (Age Concern England), Slg. 2009, I-1569; Rs. C-229/08 (Wolf), Slg. 2010, I-1 ff.; Rs. C-341/08 (Petersen), Slg. 2010, I-47 ff.; Rs. C-88/08 (Hütter), Slg. 2009, I-5325; Rs. C-55/07 (Kücükdeveci), Slg. 2010, 365; Rs. C-45/09 (Rosenbladt), in Slg. noch uv. (= NZA 2010, 1167 ff.); Rs. C-499/08 (Andersen), in Slg. noch uv. (= NZA 2010, 1341 ff.); Rs. C-250/09 u. 268/09 (Georgiev u. a.), in Slg. noch uv. (= NZA 2011, 29 ff.); verb. Rs. C-159/10 u. C-160/10 (Fuchs u. Köhler), in Slg. noch uv. (= NVwZ 2011, 1249 ff.); Rs. C-297/10 u. a. (Hennigs u. Mai) – in Slg. noch uv. (= NZA 2011, 1100 ff.); Rs. C-447/09 (Prigge u. a.), in Slg. noch uv. (= ZESAR 2012, 391 ff.); Rs. C-141/11 (Hörnfeldt – Urt. v. 5.7.2012, noch uv.)


Die Vielzahl der – mittlerweile über ein Dutzend – Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs zur Altersdiskriminierung trägt dem Umstand Rechnung, dass in zunehmendem Maße in Politik und Gesetzgebung „Altenwohl“, „Altenrecht“, „Altenhilfe“ – und eben auch „Altersdiskriminierung“ thematisiert werden und auch die Öffentlichkeit und zumal die Angehörigen der Altersgruppe 65+, die auch auf dieser Tagung stark vertreten ist – beschäftigen.

Der EuGH hat jüngst seine einschlägige Judikatur dahingehend fortgeschrieben, dass eine tarifliche Altersgrenze, die unterhalb der allgemeinen Regelaltersgrenze liegt, gegen das Verbot der Altersdiskriminierung verstößt, soweit nicht ausnahmsweise – eng auszulegende – Rechtfertigungsgründe eingreifen. Damit hat der Europäische Gerichtshof zugleich die bisherige Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts korrigiert – so exemplarisch in der Rechtssache Prigge u. a., der eine Klage dreier Lufthansa-Piloten gegen die Lufthansa AG wegen der aufgrund einer entsprechenden Klausel des für sie geltenden Tarifvertrages bei Vollendung des 60. Lebensjahres automatisch eintretenden Beendigung ihrer Beschäftigungsverhältnisse zugrunde lag: Weil die maßgebliche Regelung des § 19 Abs. 1 S. 1 des Manteltarifvertrages Nr. 5 a für das Cockpit-Personal der Lufthansa strenger ist als die allgemeinen Vorschriften über die Lizensierung von Piloten im internationalen Flugverkehr, denen zufolge auch über 60jährige Piloten eingesetzt werden können, solange sie noch nicht 65 Jahre alt sind und zudem einer aus mehreren Piloten bestehenden Besatzung angehören, deren übrige Mitglieder das 60. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, hat der Gerichtshof diese Klausel des Tarifvertrages als nicht zur Rechtfertigung einer vorzeitigen Beendigung des Arbeitsverhältnisses geeignet verworfen.10

Unter Berufung auf „Prigge“ hat das Bundesverwaltungsgericht jüngst der Klage eines heute 75jährigen öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen, dem die von ihm verklagte Industrie- und Handels-kammer eine Verlängerung seiner Sachverständigenbestellung mit der Begründung verweigert hatte, nach ihrer Sachverständigenordnung sei nach Vollendung des 68. Lebensjahres nur eine einmalige Verlängerung längstens bis zur Vollendung des 71. Lebensjahres möglich, stattgegeben: Die Gewährleistung eines geordneten Rechtsverkehrs durch die Institution öffentlich bestellter Sachverständiger sei nicht beschäftigungspolitischer Natur und deshalb kein angemessener Rechtfertigungsgrund i. S. d. Art. 6 Abs. 1 RL 2000/78/EG.11 (Diese Entscheidung gibt auch eine Antwort auf eine in der Expertise beispielhaft genannte Fallkonstellation.) Es bleibt festzuhalten, dass der EuGH das Verbot der Altersdiskriminierung in Fällen durchsetzt, in denen die Altersgrenze von der gesetzlichen Altersgrenze „nach unten“ abweicht.

Die allgemeinen gesetzlichen Altersgrenzen hat der Europäische Gerichtshof zugleich als vor allem aus beschäftigungspolitischen Gründen (noch?) hinzunehmende gerechtfertigte Ausnahmen vom Verbot der Altersdiskriminierung angesehen. Angesichts der auch im nationalen Recht der Mitgliedstaaten der Europäischen Union in zunehmendem Maße nicht nur in der Kritik befindlichen,

10 Vgl. dazu Bernd Schulte, Anmerkung zum Urteil des EuGH in der Rs. C-447/09 Prigge u. a., in: Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeitsrecht (ZESAR) 2012, S. 391 ff. m. w. N.
11 BVerwG, NJW 2012, 1018 ff.


sondern auch durch Intervention des Gesetzgebers in zunehmendem Maße ausgehöhlten und insoweit infrage gestellten gesetzlichen Altersgrenzen scheint es allerdings nur eine Frage der Zeit zu sein, bis auch diese Beschränkung fällt und das Begehren von Personen, die das Rentenalter erreicht haben, weiter beschäftigt zu werden, Anerkennung findet (ohne dass dadurch zugleich die festen Altersgrenzen für die Personen, die den wohlverdienten Ruhestand in Anspruch nehmen wollen, dadurch in Frage gestellt würden). Dies dürfte insbesondere für die Personen gelten, die unter die vorstehend12 genannte Übergangsregelung zur Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 fallen, d. h. die vor 1964 geboren sind und deshalb aus sozialen Gründen noch früher „in Rente“ gehen dürfen, denen aber ein Verzicht auf diese soziale Wohltat und stattdessen die Weiterbeschäftigung bis zur Vollendung des 67. Lebensjahres und damit bis zur Erreichung der Regelaltersgrenze aus Rechtsgründen nicht versagt werden kann.

2.3. Die aktuelle Diskussion
Hieß es noch Anfang der 1990er Jahre, ein Überblick über die rechtswissenschaftliche Befassung mit Fragen des Alters und des Alterns zeige, dass man über die Befassung mit Einzelproblemen hinaus noch nicht dazu gekommen sei, sich insgesamt über das Verhältnis von Recht und Alter klar zu werden, und würden Grundsatzdebatten – etwa über die Problematik eines Antidiskriminierungsgesetzes für ältere Menschen –, wenn überhaupt, so nur vereinzelt geführt,13 so hat sich dies in den letzten Jahren geändert. Das Plädoyer von Spi-ros Simitis auf dem 67. Deutschen Juristentag 2008 in Erfurt, man spreche heute zuweilen über einen karitativen Akt gegenüber einer bestimmten Personengruppe in unserer Gesellschaft anstatt über die elementare

12 Siehe oben 1.
13 Vgl. Gerhard Igl, Recht und Alter – ein diffuses Verhältnis. – Fragen – Befunde – Thesen, in: Becker, B./Bull, H./Seewald, O. (Hrsg.), Festschrift für Werner Thieme zum 70. Geburtstag, Köln u. a. 1993, S. 747 ff., 760. – Vgl. in diesem Sinne auch P. Häberle, Altern und Alter des Menschen als Verfassungsproblem, in: Badura, P./Scholz, R. (Hrsg.), Wege und Verfahren des Verfassungslebens. Festschrift für Peter Lerche zum 65. Geburtstag, München 1993, S. 189 ff., mit ausführlichen Hinweisen auf Alter als Gegenstand internationaler Rechtsin-strumente sowie ausländischen (zumal Verfassungs-)Rechts.


verfassungsrechtlich gebotene, national wie international abgesicherte Pflicht, den Respekt vor der Integrität der Person des Einzelnen zu sichern,14 stößt heute nicht mehr nur auf taube Ohren. Allerdings herrscht in der öffentlichen Diskussion und insbesondere auch in der Judikatur sowohl des Europäischen Gerichtshofs als auch der deutschen Arbeits- und Sozialgerichte noch eine eher allzu „ökonomistische“ Sichtweise der Problematik vor. Den psychosozialen Komponenten und den Grundrechten älterer Menschen werden hingegen noch nicht die erforderliche Aufmerksamkeit und Anerkennung geschenkt – dies ein Argument für die Einfügung des Merkmals „Alter“ (warum heißt es im Übrigen in der Expertise „Lebensalter“?) in die Verfassungen von Bund und Ländern.

Diesbezüglich lassen sich Parallelen ziehen zur rechtlichen Gleichstellung und Gleichbehandlung von Männern und Frauen, wo es etwa im Zusammenhang mit der Frage der unterschiedlichen Altersgrenzen für Männer und Frauen im Rentenrecht zunächst eine ähnliche Verengung des Blicks im Hinblick auf die zugrundeliegende verfassungsrechtliche Problematik gegeben hat, und zwar auch in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das diesbezüglich nicht etwa auf Art. 3 GG, sondern auf Art. 12 GG – statt auf Gleichheit auf Berufsfreiheit – abgestellt hat.15 Die aktuelle Diskussion um das Verbot von Diskriminierungen verdankt ihre Stoßkraft denn ja auch vor allem europa- und sonstigen internationalrechtlichen Impulsen.

Altersdiskriminierung spielt nicht nur im Arbeitsleben eine große Rolle, wo sie gegenwärtig am stärksten thematisiert und diskutiert wird, sondern beispielsweise auch im Gesundheitswesen, etwa wenn es dort um die rechtliche Zuläs-sigkeit einer altersspezifischen Priorisierung – ein „In-eine-Reihenfolge-Bringen“ – oder einer Rationierung, d. h. einer expliziten Versagung medizinischer Leistungen

14 So Spiros Simitis, Diskussionsbeitrag, in: Ständige Deputation des Deutschen Juristentages, 67. Deutscher Juristentag 2008 in Erfurt, Verhandlungen, auf dem 67. D.J.T., Bd. II/2 Sit-zungsberichte (Diskussion und Beschlussfassung), München 2009, S. K 124; vgl. zu dem diesbezüglich gebotenen Perspektivenwechsel auch Manfred Weiss, Diskussionsbeitrag auf dem 67. D.J.T., aaO ebda., S. K 127
15 Vgl. BVerfG, Urt. v. 28.1.1987, in: BVerfGE 74, 163 ff.; zu dieser verfassungsrechtlichen Problematik vgl. etwa D. O’Sullivan, Erl. zu § 287a SGB VI, Rz. 59 ff., in: Schlegel, R./Voelzke, T. (Hrsg.), SGB VI. Sozialgesetzbuch – Sechstes Buch – Gesetzliche Renten-versicherung. Juris PraxisKommentar, Saarbrücken 2008


aus bestimmten Gründen geht. Hier konkurriert u. a. das chronologische Alter, d. h. die Orientierung am Lebensalter der um knappe Gesundheitsgüter konkurrierenden Personen, mit anderen Kriterien wie etwa dem gesundheitlichen Nutzen einer medizinischen Maßnahme, ihrem Kosten/Nutzen-Verhältnis oder der Dringlichkeit einer Behandlung. Auch wenn das chronologische Alter, an dessen Stelle ggf. auch das biologische oder soziale Alter treten können, nur eines von mehreren Kriterien sein sollte, stellt sich hier die bisher sowohl politisch als auch juristisch bis dato ganz überwiegend grundsätzlich verneinte Frage, ob das Kriterium ‚Alter‘ überhaupt berücksichtigt werden darf.16

Hier mag perspektivisch der Blick über die Grenzen lehrreich sein, wird doch eine generelle Ablehnung der Berücksichtigung des Alters bei derartigen Entscheidungen in anderen Ländern in zunehmendem Maße zur Diskussion gestellt, wenn nicht sogar in Zweifel gezogen, und gibt es dementsprechend auch Rechtsordnungen, die diesbezüglich bereits sehr viel konkreter diskutieren und auch handeln. Die Priorisierung im Gesundheitswesen, die ohnehin Gegenstand der öffentlichen Diskussion und auch der Entscheidung parlamentarischer Gremien sein sollte, ist insofern auch unter dem Gesichtspunkt der Altersdiskriminierung von Relevanz.

3. „Verankerung des Diskriminierungsmerkmals Lebensalter in der Verfassung von Berlin“: – Expertise im Auftrag der Landesstelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung –
Die Verfasser der sehr instruktiven und weiterführenden Expertise zur Verankerung des Diskriminierungsmerkmals Lebensalter in der Verfassung des Landes Berlin, die uns hier zusammengeführt hat, plädieren mit guten Gründen und insgesamt sehr überzeugend für die Aufnahme des Diskriminierungsgrundes

16 Vgl. zu dieser Problematik beispielsweise Stefan Huster, Altersrationierung im Gesundheitswesen: (Un-)Zulässigkeit und Ausgestaltung, in: MedizinRecht (MedR) 2010, S. 369 ff.; ders., Soziale Gesundheitsgerechtigkeit. Sparen, umverteilen, vorsorgen? Berlin 2011; instruktiv auch U. Werner, Rationalisierung, Priorisierung, Budgetierung: verfassungsrechtliche Vorgaben für die Begrenzung und Steuerung von Leistungen der Gesundheitsversorgung, in: Gesundheitsrecht (GesR) 2009, S. 169 ff.; auch Felix Welti, Allokation, Rationierung, Pri-orisierung: Rechtliche Grundlagen, in: MedR 2010, S. 379 ff.

„Lebensalter“ – m. E. im Anschluss an die internationalen Rechtsinstrumente17 und zur Vermeidung von Missverständnissen besser: Alter – in die Verfassung und sie tun dies vor dem Hintergrund der gesellschaftspolitischen und rechtspolitischen Diskussion um die vielschichtigen Aspekte dieses Diskriminierungskriteriums und der vorstehend ansatzweise skizzierten Rechtsentwicklung sowohl auf nationaler als auch auf internationaler und insbesondere Europäischer Ebene.18

Zurecht weisen die Autoren der Studie darauf hin, dass in Deutschland „bisher relativ wenig wissenschaftliche Studien zur Altersdiskriminierung vorliegen“, obwohl sowohl sozioökonomische Daten als auch Befragungen der Bevölkerung dafür sprechen und darauf hinweisen, dass es strukturelle Diskriminierungen bestimmter Altersgruppen in Deutschland gibt. (Allerdings unternimmt die Antidiskriminierungsstelle des Bundes viel, dies zu ändern, und auch die Monitoringstelle, das Institut für Menschenrechte, ist an dieser Stelle positiv zu erwähnen.) Insbesondere im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern und in Europa auch zu den nordischen Staaten ist anzumerken, dass Deutschland eben über „keine spezifische Altersdiskriminierungskultur“ verfügt, wie nicht zuletzt die Verfassungen von Bund und Ländern ausweisen, und dass die Bundesrepublik Deutschland in Sachen Antidiskriminierung diesbezüglich europaweit ein Nachzügler ist. Ein Grund dafür dürfte darin liegen, dass der deutsche Wohlfahrtsstaat sich in größerem Maße als etwa die angelsächsischen Länder als Sozialleistungsstaat begreift, während die Letztgenannten – dies ist besonders augenfällig in den Vereinigten Staaten – in größerem Maße auf Gleichbehandlung und Diskriminierungsverbote gleichsam als funktionale Äquivalente setzen.

Dementsprechend ist ein Verbot der Altersdiskriminierung auch erstmalig in den 1970er Jahren in den Vereinigten Staaten gesetzlich verankert worden und gilt die dortige Antidiskriminierungsgesetzgebung bis zum heutigen Tag deswegen weltweit als Vorläufer und Vorbild.

17 Siehe oben 2.
18 Vgl. S. Elsuni/D. Liebscher/A. Klose, Verankerung des Diskriminierungsmerkmals Lebensal-ter in der Verfassung von Berlin. Expertise im Auftrag der Landestelle für Gleichbehandlung – gegen Diskriminierung, Berlin (Diskussionsentwurf: Stand: 20. November 2012)


Der spezifische Rückstand der Bundesrepublik Deutschland im internationalen Vergleich bestand und besteht im Übrigen nicht etwa nur in Bezug auf die Altersdiskriminierung, sondern auch Gleichberechtigung, Gleichbehandlung und Gleichstellung von Männern und Frauen sind hierzulande in der Vergangenheit ursprünglich kaum oder doch jedenfalls nur schwach entwickelt gewesen – dies trotz des Grundsatzes der Gleichberechtigung von Mann und Frau im Grundgesetz (Art. 3 Abs. 2 GG). Die Lohnungleichheit zwischen Männern und Frauen (“the pay gap“), die in Deutschland im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten besonders ausgeprägt ist, illustriert, dass dieser Rückstand bis zum heutigen Tag nicht aufgeholt worden ist. Es ist dem Einfluss des Europäischen Rechts und insbesondere der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs seit den 1960er Jahren zu verdanken, dass die Gleichbehandlung von Männern und Frauen auch in Deutschland in den vergangenen Jahrzehnten immerhin doch erhebliche Fortschritte gemacht hat. Die Einführung der sog. Unisex-Tarife im Versicherungsrecht und die – jüngst in Bezug auf die Zusammensetzung der Aufsichtsräte in DAX-Unternehmen – geführte Diskussion um die Frauenquote, die zum einen durch den Europäischen Gesetzgeber und den EuGH, zum anderen durch entsprechende Initiativen der Europäischen Kommission ausgelöst worden ist, sind Beispiele dafür, wie die Entwicklung in Deutschland in diesem Bereich auch heute noch von EU-rechtlichen und -politischen Vorgaben beeinflusst wird.

Wenn in Bezug auf Menschen mit Behinderungen heute „Teilhabe“, „Inklusion“ und „Verbot der Diskriminierung wegen Behinderung“ thematisiert werden, so ist auch dies wiederum auf einschlägige politische Impulse und rechtliche Vorgaben zunächst auf europäischer Ebene – politisch u. a. auch durch den Euro-parat, rechtlich durch die Europäische Gemeinschaft/Europäische Union – sowie in jüngster Zeit auch, wie bereits erwähnt, auf die in Deutschland seit dem 26. März 2009 rechtsverbindliche UN-Behindertenrechtskonvention zurückzuführen – wiederum ein Beispiel dafür, wie Anstöße von außen die deutsche Politik zum Handeln nötigen und damit zugleich einen Bewusstseinswerdungsprozess sowohl in der allgemeinen Öffentlichkeit als auch in der Politik einleiten.

Wenn in der Expertise davon die Rede ist, dass „für eine Verankerung von Diskriminierungskriterien auf Verfassungsebene (…) konkrete historische Erfahrungen sprechen“ können,19 so ist auch auf diese früheren Erfahrungen im Hinblick auf die Diskriminierungskategorien Geschlecht und Behinderung zu rekurrieren.

In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass sowohl die Aktionspläne von Bund, Ländern und Kommunen als auch der Erste Staatenbericht der Bundesregierung an das Sekretariat der Vereinten Nationen zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland die Schaffung von Bewusstsein für sowohl die Probleme als auch die Rechte von Menschen mit Behinderungen als ein wesentliches Ziel ansehen – so etwa ausweislich des zeitlich bis zum Jahr 2020 reichenden Aktionsplans des Bundes.

Das in der Expertise zurecht angesprochene Urteil des Europäischen Gerichtshofs aus dem Jahre 2005 in der Rechtssache Mangold20 ist seinerzeit in der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere auch in der Fachöffentlichkeit auf große Kritik gestoßen, nicht zuletzt wegen der darin vertretenen Auffassung des Gerichtshofs, es gebe in der Europäischen Union einen allgemeinen Grundsatz des Verbots der Diskriminierung auch wegen des Alters. Mag diese Rechtsansicht des EuGH, seinerzeit mit dem Verweis auf für die Mitgliedstaaten geltendes allgemeines internationales Recht und die gemeinsamen Verfassungstraditionen der Mitgliedstaaten begründet, damals im Jahre 2009 rechtsdogmatisch noch auf einigermaßen „schwachen Füßen“ gestanden zu haben, so ist spätestens seit Inkrafttreten der Richtlinie 2000/78/EG21 und dem Inkrafttreten der Europäischen Grundrechtecharta mit ihrem Diskriminierungsverbot22 eine ausreichende gemeinschafts- bzw. – heute – unionsrechtliche Fundierung geschaffen worden, die auch in Deutschland anerkannt und rechtsverbindlich ist und aus deren Existenz die notwendigen rechtlichen Konsequenzen gezogen werden sollten – u. a. auch dergestalt, dass dieser

19 Expertise, aaO (Fn. 18), S. 29
20 Vgl. EuGH, aaO (Fn. 9)
21 Siehe dazu oben 2.2.
22 Siehe dazu oben 2.1.


Europäische Rechtsstandard in nationales Recht und zumal Verfassungsrecht überführt wird. Zurecht weisen die Verfasser der Expertise nämlich darauf hin, dass der „Leit- und Symbolfunktion des Verfassungsrechts“ eine große Bedeutung zukomme im Hinblick auf eine Bewusstseinsbildung, die bei der Bekämpfung der Diskriminierung ein entscheidender Faktor sei.23
Auch hier bietet sich wiederum eine Parallele zum Behindertenrecht an: So hat die Verankerung des Verbots der Diskriminierung in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG zweifellos beigetragen, dieses Verbot allgemein bekannt zu machen und die Betroffenen veranlasst, sich darauf zu berufen. In der UN-Behindertenrechtskonvention, die in der öffentlichen Diskussion hierzulande – etwa ausweislich der Debatte um die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung im Bildungsbereich (Schlagwort „Inklusion in der Regelschule“) – eine große Rolle spielt,24 wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass diese Konvention das Bewusstsein dafür wecken und stärken solle, dass Menschen mit Behinderungen zwar andersartig („diverse“), aber zugleich und gleichwohl auch gleichberechtigt seien. Angemerkt sei schließlich, dass das Bundesverfassungsgericht, dessen Verhältnis zum Europäischen Gerichtshof zumindest in der Vergangenheit durch ein –vorsichtig formuliert – „gewisses Maß an Zurückhaltung“ charakterisiert gewesen ist, jüngst unter Hinweis auf die bereits erwähnte Rechtssache Prigge,25 in der es um die Unzulässigkeit einer unterhalb der allgemeinen Altersgrenze liegenden tariflichen Altersgrenze für Lufthansa-Piloten ging, das in einem anderen rechtlich gleich gelagerten Verfahren tätig gewordene Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich dazu angehalten hat, die Europäischen Vorgaben zu beachten.26
Das Bundesverfassungsgericht hat damit in seiner Judikatur mittlerweile nicht nur das Alter als personenbezogenes Diskriminierungskriterium anerkannt,27 sondern auch auf die Verpflichtung der nationalen Gerichte hingewiesen, den

23 Vgl. Expertise, aaO (Fn. 18) S. 43
24 Siehe dazu oben 2.3.
25 Siehe dazu oben Fn. 9
26 Siehe dazu Schulte, aaO (Fn. 10)
27 BVerfGE 88, 87 ff., 96


europarechtlichen Vorgaben für Höchstaltersgrenzen angemessen Rechnung zu tragen.28 In entsprechender Weise sollte auch der deutsche Verfassungsgeber den Vorgaben des Europäischen Rechts Rechnung tragen und das heute unbestreitbare – und mittlerweile wohl auch weitestgehend unbestrittene – Verbot der Diskriminierung wegen Alters als allgemeinen Rechtsgrundsatz des Unionsrechts auch in entsprechender Weise im deutschen Verfassungsrecht „ausflaggen“. Auf diese Weise erhielte auch die zunehmende Diskussion um ein umfassendes „Altenrecht“ als rechtlicher Inbegriff der Sorge um die Anliegen der älteren Generation („Altenwohl“ Parallele zum „Kindewohl“) – Ausdruck zu geben.

Wenn aus ökonomischen und beschäftigungspolitischen Gründen darauf hingewiesen wird, es sei angesichts der sich verschärfenden demografischen Situation und der Lage auf dem Arbeitsmarkt geboten, die Potenziale älterer Arbeitnehmer besser auszuschöpfen und intensiver zu nutzen, so heißt es in der Expertise zurecht, dass starre Altersgrenzen, die auf defizitär geprägten Altersbildern beruhen, der Anerkennung individueller Fähigkeiten und dem Wunsch nach Teilhabe am Arbeitsleben entgegenstehen.29

Diesem Anliegen hat der Europäische Gerichtshof in seinem Urteil in der Rechtssache Rosenbladt30 nicht angemessen Rechnung getragen, als er in dieser seiner vielleicht wichtigsten Entscheidung zum Recht der Altersdiskriminierung bislang darauf hingewiesen hat, ein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben nach Erreichen der Altersgrenze sei u. a. auch dann gerechtfertigt, wenn das potenzielle „Diskriminierungsopfer“ kein ausreichendes Altersruhegeld zu erwarten habe – Frau Rosenbladt war als Reinigungskraft nur teilzeitbeschäftigt und hatte eine Altersrente unter der Geringfügigkeitsgrenze von 400 Euro zu erwarten –, da sie ja (wenig lebensnah!) nicht daran gehindert sei, sich nach dem Ausscheiden aus ihrem aktuellen Beschäftigungsverhältnis mit Erreichen der Altersgrenze um einen neuen Job zu bemühen. Hier ist diesbezüglich das elementare Interesse der Betroffenen an

28 BVerfGE, Beschl. v. 24. Oktober 2011, in: Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht (NVwZ) 2012, S. 297 ff.; auch Expertise, aaO (Fn. 18), S. 42
29 Expertise, aaO (Fn. 18), S. 5
30 Siehe dazu oben 2.2. u. Fn. …


einer Fortsetzung ihrer Erwerbstätigkeit nicht hinreichend berücksichtigt worden. Schließlich mag man auch eine Parallele zu der Diskussion um die Verankerung der Rechte des Kindes in die Verfassungen von Bund und Ländern ziehen: Auch hier hat das internationale Recht, namentlich die Kinderrechtskonvention der Vereinten Nationen, Vorbildcharakter. Die aktuelle Diskussion um das Recht der Eltern, Beschneidungen vornehmen zu lassen, und um das dieses Recht regelnde Gesetz illustriert, dass eine verfassungsrechtliche Verankerung des Rechts des Kindes dazu beitragen könnte, die Abwägung zwischen Elternrecht aus Art. 6 GG und einem eigenständigen Recht des Kindes auf Verfassungsebene gleichsam „auf Augenhöhe“ stattfinden zu lassen.

In entsprechender Weise wäre die Verankerung eines Verbots der Altersdiskriminierung auf Verfassungsebene – sowohl in Länderverfassungen als auch im Grundgesetz – geeignet, die spezifischen Rechte der Angehörigen der älteren Generation zu verdeutlichen und die international- und zumal europarechtlichen Standards ins deutsche Recht zu übertragen.

4. Ausblick: Ein Rechtsinstrument in Sachen Altersdiskriminierung

Die Organisation HelpAge International hat in Anlehnung an das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK),31 das in Art. 5 ein in weiteren Vorschriften dann konkretisiertes und spezifiziertes Diskriminierungsverbot enthält und in dessen Erwägungsgründen die Vertragsstaaten auch ihrer Sorge Ausdruck verleihen über die schwierigen Bedingungen, denen sich Menschen mit Behinderungen gegenübersehen, die mehrfachen oder verschärften Formen der Diskriminierung – nicht zuletzt etwa

31 Vgl. Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (UN-BRK), BGBl II 2008 Nr. 35 S. 1419 ff. v. 31. Dezember 2008 (für die Bundesrepublik Deutschland seit dem 26. März 2009 und für die Europäische Union seit dem 22. Januar 2011 rechtsverbindlich); Nachweise zur umfangreichen Literatur zu dieser Konvention u. a. bei B. Schulte, Die UN-Behindertenrechtskonvention (Teil I) – „Disability Mainstreaming“, Inklusion, Teilhabe und Verbot von Diskriminierungen auch im deutschen Arbeits- und Sozialrecht –, in: Zeitschrift für europäisches Sozial- und Arbeits-recht (ZESAR) 2012, S. 69 ff. u. 112 ff.

aufgrund des Alters – ausgesetzt sind,32 die Schaffung einer Konvention der Vereinten Nationen über die Rechte älterer Menschen zur Diskussion gestellt.33 In dem zusammen mit einer Reihe weiterer Interessenvertretungen älterer Menschen – u. a. International Association of Gerontology and Geriatrics, The Global Ageing Network, Global Action on Aging, Age UK – erarbeiteten Papier wird beklagt, dass es jenseits der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte keine weltweit Geltung beanspruchende internationalen Menschenrechtsinstrumente gebe, welche die Mitglieder der Staatengemeinschaft dazu verpflichten, die allen Menschen zustehenden Rechte auch auf ältere Menschen anzuwenden. Rechtsdokumente wie der Madrid International Plan of Action on Ageing (MIPAA) aus dem Jahre 2002, der an die UN Principles for Older Persons aus dem Jahre 1991 anknüpfe, seien nämlich rechtlich unverbindlich und legten den Staaten somit allenfalls eine moralische Verpflichtung zur Umsetzung der dort formulierten Grundsätze und Zielsetzungen auf. Zu den umsetzungsbedürftigen Rechten der Menschen gehöre beispielsweise das Recht auf Arbeit, das vor allem dadurch häufig verletzt werde, dass älteren Menschen der Zugang zu Beschäftigung vorenthalten werde, und zwar nicht zuletzt aufgrund gesetzlicher Altersgrenzen.

Die hier konstatierte Rechtsetzungslücke könnte sowohl materiellrechtlich als auch institutionell und prozedural an die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) anknüpfen, die für Menschen mit Behinderungen einen Paradigmenwechsel von einem medizinischen zu einem menschenrechtlichen Modell von Behinderung herbeigeführt hat,34 welches Teilhabe und Inklusion verbrieft und das für die Gewährleistung von Rechten älterer Menschen und den Schutz dieser Personen vor Diskriminierung durchaus Vorbildcharakter haben könnte. Die UN-BRK hat nämlich bereits seit dem Eintritt ihrer rechtlichen Verbindlichkeit in

32 Vgl. Präambel Buchstabe p UN-BRK
33 HelpAge International, Strengthening Older People’s Rights: Towards a UN Convention. A resource for promoting dialogue on creating a new UN Convention on the Rights of Older Persons, o.O., 2010 (u. a. unter Verweis auf die Draft UN Declaration on the Rights of Older Persons, prepared by the Allerd K. Lowenstein International Human Rights Clinic, Yale Law School, with the International Longevity Center, 3 June 2008)
34 Vgl. dazu etwa T. Degener, Die UN-Behindertenrechtskonvention – Grundlage für eine neue inklusive Menschenrechtstheorie, in: Vereinte Nationen 2010, S. 57 ff., 57; dies., Menschen-rechtsschutz für behinderte Menschen – Vom Entstehen einer neuen Menschenrechtskon-vention der Vereinten Nationen, in: Vereinte Nationen 2006, S. 104 ff.


Deutschland am 26. März 2009 bis zum heutigen Tag einen wichtigen Beitrag dazu geleistet, auch in Deutschland als einem Land, das im Gegensatz etwa zu den angelsächsischen und nordischen Ländern über keine spezifische Antidiskriminierungskultur verfügt, das Bewusstsein für einen Wandel zu wecken und diesen dann auch einzuleiten, wie dies beispielhaft im Bildungsbereich unter dem – mittlerweile fast „inflationär“ gebrauchten und deshalb Gefahr laufend, konturlos zu werdenden35 – Schlagwort „Inklusion“ geschehen ist.

5. Schlusswort
Nota bene: Berlin gilt als „arm, aber sexy“. In Sachen Altersdiskriminierung ist das Land auch „aktiv und initiativ“!

35 Vgl. dazu beispielhaft Manou Banafsche, „Inklusion und Sozialraum – Behindertenrecht und Behindertenpolitik in der Kommune“, in: ZFSH SGB . Zeitschrift für die sozialrechtliche Pra-xis 2012, S. 505 ff.


Dr. Bernd Schulte, wissenschaftlicher Referent/Consultant, dr.bernd.schulte(at)t-online.de

Link: Jahrbuch Altersdiskriminierung - Buchtipp
Quelle: Dr. Bernd Schulte