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Praxisgebühr: Urteil des Bundessozialgerichts

07.12.2009 - von Otto W. Teufel

Das Bundessozialgericht (BSG) hat am 25.06.2009 entschieden, dass keine verfassungsrechtlichen
Bedenken gegen die sogenannte Praxisgebühr bestehen (B 3 KR 3/08 R).
Zur Erinnerung: Die Praxisgebühr
war mit dem Gesundheitsmodernisierungsgesetz
vom 14.11.2003 zum 01.01.2004 in
das Sozialgesetzbuch V (§ 28 Absatz 4) eingeführt worden. Das BSG hat seine Entscheidung u.a. folgendermaßen begründet:

An der Verfassungsmäßigkeit des § 28 Abs 4 SGB V hat der erkennende Senat keine Zweifel. Deshalb kam auch die vom Kläger hilfsweise begehrte Vorlage des Rechtsstreits an das BVerfG nach Art 100 Abs 1 GG nicht in Betracht.

Im Sozialversicherungssystem ist eine solche eigenständige
Abgabeform zulässig; denn dieser Bereich ist durch Art 74 Abs 1 Nr 12 iVm Art 87 Abs 2 GG als mittelbare Staatsverwaltung konzipiert und damit aus dem Anwendungsbereich der Art 104a ff GG (Kapitel X: Das Finanzwesen) ausgenommen, sodass an Sonderformen von Abgaben in der GKV (geschlossenes Regelungssystem für die
Sozialversicherung und deren
Finanzierung) nicht dieselben
hohen Anforderungen zu stellen
sind wie an die sog Sonderabgaben.

Es handelt sich nicht um eine
Steuer, weil die Zuzahlung nach
§ 28 Abs 4 SGB V keine Zahlungslast "für jedermann" und
für unbegrenzte Verwendungszwecke
darstellt, sondern eine Sonderlast für sich in ärztliche
Behandlung begebende Versicherte
der GKV, die nur für den Aufgabenkreis der GKV zu verwenden
ist.

Die Zuzahlung nach § 28 Abs 4 SGB V ist auch nicht als verdeckter zusätzlicher KV-Beitrag einzuordnen. Beiträge sind Abgaben zur vollen oder teilweisen Deckung der Kosten einer öffentlichen Einrichtung, die von denjenigen erhoben werden, denen die Einrichtung einen besonderen Vorteil gewährt; sie werden für die potentielle Inanspruchnahme einer Einrichtung erhoben. Diese Voraussetzungen sind nicht erfüllt, weil die Praxisgebühr nur bei der tatsächlichen Inanspruchnahme der Dienste eines Vertragsarztes anfällt, nicht aber schon für die reine Möglichkeit, diese Dienste in Anspruch nehmen zu können.

Gerade im Gesundheitswesen hat der Kostenaspekt für gesetzgeberische Entscheidungen erhebliches Gewicht. Deshalb ist es dem Gesetzgeber im Rahmen
seines Gestaltungsspielraums
grundsätzlich auch erlaubt, den
Versicherten über den "normalen"
Krankenversicherungsbeitrag hinaus zur Entlastung der
Krankenkassen und zur Stärkung des Kostenbewusstseins in der Form von Zuzahlungen zu bestimmten Leistungen zu beteiligen - jedenfalls, soweit dies dem Einzelnen finanziell zugemutet werden kann.

Dem Gesetzgeber ging es bei der Einführung der Praxisgebühr nicht nur um die Steigerung von Effizienz und Qualität der medizinischen Versorgung, sondern auch um die Vermeidung einer weiteren Beitragssatzerhöhung. Mit der Ausweitung der Zuzahlungsregelungen durch das GMG zielte der Gesetzgeber darauf ab, die Belastungsgerechtigkeit
dadurch zu verbessern, dass grundsätzlich alle Beteiligten in die Zuzahlungsregelungen einbezogen werden sollten. Die Versicherten sollten künftig eine angemessene Beteiligung an ihren
Krankheitskosten tragen. Mit dieser Regelungskonzeption zielte der Gesetzgeber auf eine spürbare Entlastung der GKV. Er ließ sich dabei von der Überzeugung leiten, dass die durch den bisherigen Ausgabenanstieg entstandene Finanzierungslücke nicht einfach nur durch eine weitere Steigerung der Beitragssätze finanziert werden könne, was zwangsläufig zu höheren Arbeitskosten und zu einer steigenden Arbeitslosigkeit geführt hätte.

Zuzahlungen sind ein zweckmäßiges und taugliches Mittel zur Erhaltung der Effektivität und Effizienz der Leistungen der GKV, aber auch ihrer Qualität und Finanzierbarkeit. Sie sind geeignet, die Eigenverantwortung
des Versicherten zu stärken und dienen dazu, Versicherte von der Inanspruchnahme nicht erforderlicher ärztlicher Behandlungen abzuhalten.

Mit Versicherten der privaten
Krankenversicherung, die der
Praxisgebühr nicht unterliegen,
kann sich der Kläger als Versicherter der GKV von vornherein nicht vergleichen. Private KV-Unternehmen erheben ihre Beiträge nach anderen Grundsätzen als die GKV und verfügen über andere
Steuerungsinstrumente, um die
Versicherungsausgaben möglichst
niedrig zu halten. Im Übrigen weist der Senat ergänzend darauf hin, dass die Regelung des § 28 Abs 4 SGB V wirkungsgleich in das - für Beamte, Richter und Soldaten
geltende - Beihilferecht übertragen worden ist (zur Rechtmäßigkeit dieser Übertragung vgl BVerwG, Urteile vom 30.4.2009 - 2 C 127.07 und 2 C 11.08).

Die Praxisgebühr ist ein geeignetes, erforderliches und angemessenes Mittel zur Konsolidierung der Finanzen der GKV und verletzt die Eigentumsrechte der Versicherten nach Art 14 GG schon deshalb nicht, weil die Zuzahlungspflicht keinen Eingriff in das Eigentum der Versicherten darstellt; betroffen ist allein ihr Vermögen als solches, das aber vom Schutzzweck des Art 14 GG nicht erfasst wird.

Kommentar
Wie immer, wenn es um die
gesetzliche Sozialversicherung
geht, hat das BSG auch dieses Mal der Gestaltungsfreiheit des
Gesetzgebers einen höheren Stellenwert gegeben, als den Rechten der einzelnen Versicherten. Argumentiert wird
wieder mit der angespannten
Finanzlage und der andernfalls
drohenden Erhöhung des Beitragssatzes mit ihren Folgen für die Arbeitsplätze. Der wirkliche Grund für die angespannte Finanzsituation der gesetzlichen Krankenversicherung wird wieder einmal nicht hinterfragt. Auf Anhieb ist die Aussage nicht zu verstehen, dass das Eigentum des Versicherten nicht betroffen ist, sondern nur sein Vermögen. Interessant ist der Hinweis auf die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.04.2009, das anders als die
Vorinstanzen die Praxisgebühr auch für Beamte für rechtens
hält.
Trotzdem gibt es eine Reihe von Argumenten, mit denen man die vielen zusätzlichen Belastungen,
insbesondere auch der Rentner in der gesetzlichen Krankenversicherung, rechtlich in Frage stellen kann. Die Aufteilung der Bevölkerung in zwei Klassen, wie sie für die Krankenversicherung vorgenommen wurde, ist rein willkürlich, sie ist ein Relikt aus dem Feudalstaat des 19. Jahrhunderts.
Einerseits die gesetzliche
Krankenversicherung für Rentner und Arbeitnehmer, in der sämtliche Grundrechte wie zum Beispiel der Gleichheitssatz,
der Vertrauensschutz, die Zweckbindung der Beiträge außer Kraft gesetzt und durch politische Gestaltungsfreiheit (besser Willkür) ersetzt sind, andererseits die Besserverdiener, die Selbständigen, Beamte und
Richter in der privaten Krankenversicherung, für die –
eigentlich selbstverständlich in
einem Rechtsstaat – diese elementaren Grundrechte gelten.
Die Folge ist ein Zwei-Klassensystem in der medizinischen Versorgung der Bevölkerung, dessen Unterschiede immer ausgeprägter werden, Kassenpatient bzw. Privatpatient. Das ist ein gravierender Verstoß
gegen Art. 3 GG. Da Rentner von der Zahlung von Krankengeld ausgeschlossen sind und folglich auch nicht mehr in den Genuss dieser Leistung kommen können,ist der Einbehalt des entsprechenden Beitragsanteils zur gesetzlichen Krankenversicherung ein elementarer Verstoß gegen das
Versicherungsprinzip. Ausschließlich Rentner davon auszunehmen, ist diskriminierend
und verstößt ebenfalls gegen den Gleichheitssatz des Grundgesetzes.
Wenn die Sozialgerichte in diesem
Zusammenhang einerseits das Solidarprinzip betonen, soweit Rentner zusätzlich belastet werden, es gleichzeitig aber wieder außer Kraft setzt, wo es
Rentnern zu Gute kommen müsste, nur um die Ungleichbehandlung
von Rentnern zu rechtfertigen, akzeptieren sie, dass das Rechtsstaatsprinzip durch politische Beliebigkeit ersetzt wird. Wer jahrzehntelang als Arbeitnehmer solidarisch überhöhte Beiträge zur gesetzlichen Krankenversicherung
gezahlt hat, dem kann man diese Solidarität im Alter nicht einfach aufkündigen, das widerspricht dem Grundsatz von Treu und Glauben. Dann müsste die gesetzliche Krankenkasse auch die Vorversicherungszeit mit entsprechenden Rückstellungen berücksichtigen, sowie die absolute Höhe des jetzigen Beitrags. Das BSG berücksichtigt auch nicht, dass seit dem Jahr 2000 Arbeitnehmer durch erhebliche
Entlastungen einerseits (Steuerreformen zwischen 2001 und
2005, Verringerung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung) und regelmäßige Lohnzuwächse andererseits heute über ein mehr als 20 Prozent höheres Nettoeinkommen verfügen, eine Einkommensentwicklung, von der Rentner durch abenteuerliche Manipulationen an der Rentenformel
vollständig ausgeschlossen wurden. Dazu kamen eine Reihe von zusätzlichen Belastungen für die Krankenversicherung der Rentner. Dadurch mussten Rentner seit 2003 einen Kaufkraftverlust von mehr als zehn Prozent hinnehmen. Das BSG berücksichtigt außerdem nicht, dass Rentner im Gegensatz
zum Pensionär einen weit höheren Anteil des KV-Beitrages als 50 Prozent selbst tragen müssen, da der Beitrag aus der Firmenrente voll vom Versicherten allein gezahlt wird. Bei pensionierten Beamten und Richtern erhöht sich dagegen die Beihilfe im Krankheitsfall von 50 auf 70 %, das heißt der zu versichernde Eigenanteil vermindert sich um 40 %. Auch das sind Verstöße gegen den Gleichheitssatz des GG. Mit dem sogenannten Hartz IV–Gesetz hat der Gesetzgeber laut statistischem Bundesamt 95 Prozent der bisherigen Sozialhilfeempfänger zu Arbeitslosengeld II – Empfängern gemacht, mit der Folge, dass sie
jetzt mit einem minimalen Beitragssatz in der gesetzlichen
Krankenversicherung versichert sind, das heißt überwiegend zu
Lasten der übrigen Beitragszahler.
Hier gilt die Forderung nach einer angemessenen Beteiligung an der Finanzierung der Leistungsaufwendungen offensichtlich nicht, obwohl dieser Beitrag noch erheblich unter dem Durchschnittsbeitrag von Rentnern liegt. Auch das ist ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz und eine
Diskriminierung von Rentnern, die regelmäßig jahrzehntelang Beiträge in die gesetzliche
Krankenversicherung gezahlt haben, und sich damit den Anspruch
auf die Solidarität der anderen Versicherten durch entsprechende Eigenleistungen erworben haben.
Wenn das BSG wirklich das Bestreben fördern will, die jüngeren Versicherten zu entlasten, müsste es fordern, endlich die versicherungsfremden Leistungen in vollem Umfang aus
Steuermitteln zu finanzieren.

Im November 2005 haben die fünf Wirtschaftsweisen bei der Vorstellung ihres Berichts an die Bundesregierung darauf hingewiesen, dass zur vollständigen Finanzierung der der
Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung
aufgebürdeten Lasten der Allgemeinheit zusätzlich 65 Milliarden an Bundesmitteln erforderlich wären (Der Spiegel Nr. 46/2005 am 14.11.2005, S. 68). Allein durch diese Maßnahme könnte der Gesamtbeitragssatz zur gesetzlichen Sozialversicherung um
mehr als acht Prozentpunkte gesenkt werden. Die gleiche
Größenordnung nannten schon früher Herr Prof. Ruland (VDR
am 21.11.1994 – 100 Mrd. DM) und andere. An der Finanzierung dieser Aufgaben der Allgemeinheit
beteiligen sich die meisten Selbständigen, Beamte und Richter nicht, was für diesen Personenkreis einen erheblichen
finanziellen Vorteil bedeutet. Das ist ebenfalls ein gravierender Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz sowie gegen die Finanzverfassung.

ottow.teufel@t-online.de

Link: http://www.adg-ev.de
Quelle: ADG-Forum Ausgabe Dezember 2009